LX
Die Menschheit

[444] Ich schaute – wundersamer Morgentraum –

In eines Kampfs gestaltenvollen Raum.
[444]

Ein mächtig Ringen war's der Geisterwelt,

Von wehnden Flammen wechselvoll erhellt.


In Welschland, wenn ich mich besinnen mag,

Sah schier ich so gemalt den Jüngsten Tag:


Wo, streng gerichtet, was von Even stammt,

Zur Hälfte steigt, zur Hälfte sinkt verdammt.


Doch nein! Die letzte Scheidung war es nicht.

Es war ein mut'ger Sturm empor ins Licht!


Sie rangen alle mit vereinter Kraft,

Beseelt von eines Kranzes Leidenschaft.


Wankt' einer wie gelähmt von Pfeilgeschoß –

Den riß empor ein stärkrer Kampfgenoß


Und mancher Kühne stieg in schwerem Flug,

Der einen Wunden auf der Schulter trug.


Da hab ich eines Führers Ruf gehört:

»Der Kerker«, schrie er, »Geister, ist zerstört!


Das Tor gebrochen! Offen ist die Bahn!

Befreit die Brüder! Auf! Empor! Hinan!«


Aus lichten Wolken scholl Posaunenton,

Doch war's ein Siegesjubel, nicht ein Drohn.


Da plötzlich stund ich im Gewölke vorn

Und stieß aus voller Brust ins Jägerhorn.


Aufschwebt' der sel'ge Zug in mächt'gem Drang,

Ich stieß ins Horn, daß mir das Herz zersprang.
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Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 2, München 1968, S. 444-446.
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Huttens letzte Tage, Engelberg