Mein Lebewohl an die Welt

[525] Sollte der bewußte, der freie Mensch nicht auch den letzten Abschluß des Daseins mit voller Geistesklarheit, umringt von den Erinnerungen des vergangenen Lebens, vollziehen, ehe die letzte Stunde da ist, die vielleicht den klaren Blick[525] umhüllt und das Vergangene schon halb in die Nacht des Vergessens taucht? Ist man der Welt nicht auch eine Art Rechenschaft schuldig über das auf ihr verbrachte Dasein, ob man das Pfund, das man empfing, gut verwaltet hat und treu gewesen ist bis an den Tod? Und sollte der Scheidende ihr nicht ein letztes Wort der Liebe zu sagen haben, ein herzliches Abschiedswort? Und darf endlich der, der nun weiß, was das Leben ist, ihr nicht auch ein Wort der Ermahnung zurufen, der ernsten Aufforderung, das Leben als eine hohe, heilige Kulturaufgabe zu betrachten und mit aller Kraft an ihr zu arbeiten?

Ich glaube: ja, der Mensch sollte es.

Die Kirche hat ihn gelehrt, daß die große Abrechnung für das Leben erst lange, lange nachher, im fernen Jenseits, erfolgt, und wie manches Gewissen tröstet sich damit und versäumt es, den kurzen Erdentraum zu etwas anderem als zu flüchtigem Genuß zu benutzen und die Ewigkeit schon hier in die Zeit zu bannen. Wieviel ernster würden viele das Leben nehmen, wenn sie von früh auf wüßten, daß sie hier verantwortlich sind für das, was sie aus dem Leben machten und daß es traurig sein muß, gesenkten Hauptes und mit schwer beladenem Bewußtsein an der Schwelle des Ausgangs zu stehen, durch den man nie zurückkommt.

So empfange denn mein Lebewohl, Welt! Ich danke dir für das Dasein, das mir die Möglichkeit gab, ein erkennendes, empfindendes Wesen zu werden! Ich hätte wohl mehr tun, mehr werden sollen, aber man ist doch nicht alles aus sich allein, man ist zum Teil auch das Produkt äußerer Umstände und Einflüsse, und du hast mir in der Jugend manches versagt, was du von Hilfsmitteln der heutigen Jugend verschwenderisch zuerteilst. Worauf es jedoch hauptsächlich ankommt, das ist doch ein reines, hohes Wollen und das unablässige Bemühen, es zur Tat werden zu lassen, nicht wahr? Danach richte mich denn und erteile mir heiteren Ablaß für alles Irren und Fehlen, denn du hast es mir auch nicht immer leicht gemacht,[526] und in schweren Prüfungsstunden hast du mich umsonst nach Hilfe rufen lassen, bis ich mich ermannte und mir selber half.

Ich habe dich geliebt, schöne Erde, und mit Wonne das Geheimnis ewiger Schönheit im Anschauen deiner herrlichen Gebilde geahnt. Ich danke dir für alle Stunden reiner Freude, für deine Sonnenuntergänge, für deine Sternenhimmel, für deine Frühlinge, deine lieben Blumen, deine Wälder, deine Berge, deine Meere. Genossen habe ich die Freude an dir mit vollen Zügen, und wenn es noch schönere Erden gibt, so warst du mir hohe Vorbereitung auf das Höhere.

Lebt wohl, ihr Menschen, geliebte, meinem Herzen nahe Freunde und unbekannte, mir freundlich Gesinnte in der großen Menge. Habt Dank für alle Liebe, für alle Güte und Treue, alles von meinem Herzen warm erwidert. Um uns schlingt sich ein unzerreißbares Band der Gemeinschaft, der wahren, unsichtbaren Kirche der Freien, die in stetem Wandel höher und höher steigen, bis dahin, wo sie den Schleier vom Angesicht der Wahrheit lüften und das göttliche Geheimnis der Existenz in voller Klarheit erkennen können.

Leb wohl auch, Menschheit, und nimm ein ernstes Wort als Abschiedsgruß hin, von einer, die bald geht und keine irdischen Rücksichten mehr kennt. Nahezu ein Jahrhundert ist vor meinem Blick vorübergegangen; es waren Augenblicke höchster Idealität darin: sie wurden aber leider immer nur zu rasch von der traurigsten Realität verdunkelt und jetzt, am Ende des Jahrhunderts, kann man wohl fragen: wo ist der Fortschritt? Ringsum folgt sich Krieg auf Krieg und noch immer muß die Gewalt der Waffen entscheiden, wenn es sich um Fragen der Gerechtigkeit und Humanität handelt. Die Wissenschaft hilft fortwährend neue, unfehlbare Mordwerkzeuge zu erfinden, und sie werden höher bezahlt, als die Werke hoher Kunst und Kultur. Sie erforscht die Mittel, die Gesundheit zu stärken und zu erhalten, aber statt dessen ist die heutige Jugend weichlicher und nervenschwacher, als in früheren Generationen. Der materielle Reichtum vermehrt sich aus hundert neuen Quellen, aber Armut und Elend[527] wachsen in gleichem Maße und sehen uns aus hohlen Augen verkümmerter Gesichter vorwurfsvoll an. Und die höchsten Interessen des Daseins: Veredlung der Sitten, wirkliche Bildung, Erhebung des Gemüts durch die Werke hoher Kunst, Übung der ausgedehntesten Vorschriften der Humanität und Handhabung strenger Gerechtigkeit, ist das alles die erste, heiligste Aufgabe derer, die an der Spitze des Völkerlebens stehen? O Menschheit, schlag an deine Brust und bekenne dich schuldig. Noch immer tanzest du ums goldene Kalb; noch immer greifst du zur Gewalt, anstatt zum Recht; noch immer ziehst du die bösen Leidenschaften groß, die zu Raub und Mord führen und zur Strafe durch Gefängnis und Galgen; noch immer trennst du die Völker durch Intriguen, Eifersucht, Egoismus und verkehrte Mittel der Staatskunst, anstatt sie durch Redlichkeit und Größe der Gesinnung zu hohen, gemeinsamen Aufgaben wahrer Kultur zu vereinen, und was es für empörende Folgen haben kann, wenn es in den zivilisierten Staaten erlaubt ist, daß einer im anderen spioniere, davon gibt uns heute, am Ende des 19. Jahrhunderts, das sich seiner Aufklärung rühmt, Frankreich das traurige Beispiel.

Ein neues Jahrhundert bricht an. Laß es ein Jahrhundert des Friedens und der Tugend werden. Bedenke deine Verantwortung vor der Zukunft und den kommenden Geschlechtern. Richte deinen Blick von dem »allzu Flüchtigen« auf das allein des Strebens Werte und baue an dem Tempel, in dem einst das Urbild aller Vollendung stehen und, segnend die Hände über die Welt breitend, sagen wird: »Und es ward Licht.«

Mit diesem Wunsche, mit dieser Bitte, mit diesem Segen sage ich auch dir, Menschheit, mein Lebewohl.

Quelle:
Malwida von Meysenbug: Gesammelte Werke. 5 Bände, Band 2, Stuttgart, Berlin, Leipzig 1922, S. 525-528.
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