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[31] Düstere Wolke,

die du, ein Riesenfalter,

um der abendrotglühenden Berge

starrende Tannen

wie um die Staubfäden

blutiger Lilien schwebst:

Dein Dunkel redet

vom Leid der Welt.


Welchen Tales Tränen

hast du gesogen?

Wie viel angstvoller Seufzer

heißen Hauch

trankst du in dich?

Düstere Wolke,

wohin

schüttest die Zähren

du wieder aus?

Schütte sie doch

hinaus in die Ewigkeit!

Denn wenn sie wieder

zur Erde fallen,

zeugen sie neue

aus ihrem Samen.

Nie dann[32]

bleiben der Sterblichen

Augen trocken.


Ach! da wirfst du sie schon

in den Abgrund ...

Arme Erde,

immer wieder aufs Neue

getauft

in den eigenen Tränen!

Quelle:
Christian Morgenstern: Sämtliche Dichtungen. Abteilung 1, Band 1, Basel 1971–1973, S. 31-33.
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