Elftes Kapitel.

[139] Stern fährt fort. Tischgespräche. Die Frauen von Südfrankreich. Maria Stuart und der japanische Steinhauer.


Ich will bloß, um mit Abraham Blaukaart zu reden, erklären, daß ich dieses Kapitel als »wesentlich« betrachte, weil es, wie ich meine, Havelaar besser kennen lehrt, und er scheint doch der Held der Geschichte zu sein.

»Tine, was ist das für Ketimon? Liebes Mädchen, thue niemals Pflanzensäure an Früchte. Gurken mit Salz, Ananas mit Salz, Pompelmusen mit Salz, alles, was aus der Erde kommt, mit Salz. Essig zu Fisch und Fleisch ... bei Liebig steht etwas darüber ...«

»Bester Max,« sagte Tine lachend, »wie lange sind wir schon hier? Dies Ketimon ist von Mewrouw Slotering.«

Und Havelaar hatte Mühe, sich zu erinnern, daß er eben erst gestern angekommen war, und daß Tine mit dem besten Willen in Küche und Hausordnung noch nichts hatte regeln können. Er war schon lange zu Rangkas-Betung! Hatte er nicht die ganze Nacht damit zugebracht, im Archiv zu lesen, und war nicht bereits viel, was mit Lebak in Beziehung stand; durch seine Seele gegangen? Und da sollte er augenblicklich wissen, daß er erst seit gestern da war? Tine wußte das wohl; sie verstand ihn immer.

»Ach ja, es ist wahr,« sagte er. »Aber deswegen mußt du doch etwas von Liebig lesen. Verbrügge, haben Sie viel von Liebig gelesen?«[139]

»Wer ist das?« fragte Verbrügge.

»Das ist einer, der viel über das Einlegen von Gurken geschrieben hat; auch hat er entdeckt, wie man Gras in Wolle verwandelt, verstehen Sie?«

»Nein,« sagten Verbrügge und Düclari gleichzeitig.

»Nun, die Sache selbst ist doch längst bekannt. Schicken Sie ein Schaf auf die Wiese und Sie sollen sehen. Aber er hat der Art und Weise nachgespürt, wie das geschieht, andere sagen wieder, daß er wenig davon weiß. Man ist nun hinterher, nach Mitteln zu suchen, um das Schaf in der Reihe auszulassen ... o die Gelehrten! Molière wußte es wohl ... ich halte viel von Molière. Wenn ihr wollt, halten wir abends Lesestunde. Tine ist auch dabei, wenn Max zu Bette ist.«

Düclari und Verbrügge wollten das gern. Havelaar sagte, er hätte nicht zu viel Bücher, aber darunter wären doch Schiller, Goethe, Heine, Lamartine, Thiers Say, Malthus, Scialoja, Smith, Shakespeare, Byron, Vondel ...

Verbrügge sagte, er läse kein Englisch.

»Was?! Sie sind doch über dreißig alt. Was haben Sie denn die ganze Zeit gethan? Das muß doch für Sie auf Padang sehr langweilig gewesen sein, denn da wird viel englisch gesprochen. Haben Sie Miß Matta-api gekannt?«

»Nein, ich kenne den Namen nicht.«

»Es war auch ihr Name nicht; wir sagten bloß so, weil ihre Augen so glänzten. Sie wird wohl nun verheiratet sein; es ist schon lange her. Niemals habe ich so etwas gesehen ... ja doch, zu Arles ... da müssen Sie einmal hingehen. Das ist das Schönste, was ich auf meinen Reisen gefunden habe. Es giebt nichts, dünkt mich, was einem die Schönheit als Abstraktum, als sichtbares Bild des Wahren, des stofflos Reinen vorstellt, wie eine schöne Frau ... glauben Sie mir, reisen Sie einmal nach Arles und Nîmes ...«

Düclari, Verbrügge und, ich muß bekennen, auch Tine konnten ein lautes Lachen nicht unterdrücken bei dem Gedanken, so auf einmal aus der Westecke Javas nach Arles oder Nîmes in Südfrankreich überzusiedeln. Havelaar, der wahrscheinlich gerade auf dem Turme stand, der durch die[140] Sarazenen auf dem Rande der Arena zu Arles gebaut ist, hatte sich erst zu besinnen, ehe er die Ursache dieses Lachens verstand, und dann fuhr er fort:

»Nun ja, ich meine, wenn Sie da einmal in die Gegend kommen. So etwas habe ich nie gesehen. Ich war gewöhnt, an allem, was so sehr verhimmelt wird, meine Abzüge vorzunehmen. Zum Beispiel! Sehen Sie sich einmal die Wasserfälle an, von denen so viel gesprochen wird – ich habe wenig oder nichts gefühlt zu Tondano, zu Maros, zu Schaffhausen und am Niagara. Man muß in das Buch sehen, um dabei erst das Rechte seiner Bewunderung herauszufinden über ›so viel Fuß Abhang‹ und ›so viel Kubiksuß‹ Wasser in der Minute, und wenn die Zahlen hoch sind, sagt man ›Eh!‹ Ich will nie wieder Wasserfälle sehen, wenigstens nicht, wenn ich deswegen einen Umweg machen müßte. Sie sagen mir nichts. Gebäude sprechen schon etwas lauter zu mir, besonders wenn sie Blätter in der Geschichte sind. Aber das Gefühl ist ganz anders, man ruft die Vergangenheit zurück, man läßt die Schatten der Toten vorbeiziehen, darunter sehr abscheuliche, und wie interessant das auch sein möge, man findet darin nicht immer das Genügen für sein Schönheitsgefühl, wenigstens nicht rein. Und ohne die Geschichte herbeizurufen, ist ja wohl viel Schönes an manchen Gebäuden, aber das Schöne wird wieder durch allerlei Führer – von Papier oder von Fleisch und Bein – verdorben, die einem den Eindruck ruinieren durch ihr eintöniges ›die Kapelle ist im Jahre 1423 von dem Bischof von Münster erbaut; die Säulen sind 63 Fuß hoch und ruhen auf‹ ... ich weiß nicht was. Das ist langweilig und ärgerlich; man fühlt, daß man gerade 63 Fuß Bewunderung zur Hand haben muß, um nicht für einen Vandalen oder einen Geschäftsreisenden zu gelten. Nun könnte man sagen: behalte doch deinen Führer in der Tasche, wenn er gedruckt ist, oder laß ihn draußen stehen oder schweigen im anderen Falle – aber abgesehen davon, daß man wirklich zu einigermaßen richtigen Urteilen oft eine Erklärung braucht, würde man doch, könnte man diese auch missen, vergeblich in manchem Bauwerk etwas suchen, was länger als einen sehr kurzen Augenblick unserer Neigung zum Schönen entspricht, weil es sich nicht bewegt. Das gilt, glaube ich, auch von Bildhauerwerk und Malerei. Natur ist Bewegung. Wachstum,[141] Hunger, Denken, Fühlen ist Bewegung ... Stillstand ist der Tod. Ohne Bewegung ist kein Schmerz, kein Genuß, kein Gefühl. Versuchen Sie es einmal, dazusitzen, ohne sich zu rühren, Sie werden sehen, wie bald Sie auf jenen anderen und sogar auf Ihre eigene Phantasie einen spukartigen Eindruck machen. Bei ›lebenden Bildern‹ verlangt man bald nach einer folgenden Nummer, wie eindruckmachend der Anblick auch zu Anfang war. Da nun unser Schönheitsgefühl nicht befriedigt ist mit einem Blick auf etwas Schönes, sondern nach einer Reihe aufeinander folgender Blicke auf die Bewegung des Schönen verlangt, so fühlen wir etwas Unbefriedigtes bei der Betrachtung dieser Art von Kunstwerken, und deshalb behaupte ich, daß eine schöne Frau, weil sie keine Portraitschönheit ist, die still steht, unserem Ideal des Göttlichen am nächsten kommt.

Wie groß dieses Bedürfnis nach Bewegung ist, das ich meine, können Sie sich ungefähr aus dem unangenehmen Gefühl klar machen, das eine Tänzerin, und wäre sie die Elßler oder Taglioni, Ihnen verursacht, wenn sie nach einem Tanz auf dem linken Fuße dasteht und das Publikum angrinst.«

»Das gilt hier nicht,« sagte Verbrügge, »denn das ist absolut häßlich.«

»Das finde ich auch; aber sie giebt es doch als schön, und als Steigerung des vorigen, in dem wirklich viel Schönes gewesen sein kann. Sie giebt es als ›Pointe‹ des Epigramms, als das ›aux armes‹ der Marseillaise, die sie mit ihren Füßen sang, oder als das Rauschen der Trauerweiden auf dem Grabe der eben betanzten Liebe. Und daß auch die Zuschauer, die gewöhnlich, wie wir alle mehr oder minder, ihren Geschmack auf Gewohnheit und Nachahmung gründen, diesen Augenblick als den packendsten betrachten, ergiebt sich daraus, daß man gerade dann in Beifall ausbricht, als wollte man rufen: All das Vorige war schön, aber jetzt kann ich es nicht mehr aushalten vor Bewunderung. Sie sagten, daß diese ›Posen‹ absolut häßlich wären; ich sage das auch. Aber woher kommt das? Es kommt daher, weil die Bewegung aufhörte und damit die Geschichte, die die Tänzerin erzählte. Glauben Sie mir, Stillstand ist Tod.«

»Aber,« warf Düclari ein, »Sie haben doch auch als Ausdruck für das Schöne die Wasserfälle verworfen ... die bewegen sich doch ...«

»Ja, aber ohne Geschichte! Sie bewegen sich, aber kommen nicht von der Stelle. Sie bewegen sich wie ein Wiegepferd,[142] aber noch ohne das Hin- und Herschaukeln. Sie geben Töne, aber sie sprechen nicht ... sie rufen: rru ... rru ... rrul! ... Rufen Sie einmal sechstausend Jahre oder länger: rru, rru ... und sehen Sie dann einmal nach, wie wenige Sie als einen unterhaltenden Menschen ansehen werden.«

»Ich will die Probe darauf lieber nicht machen,« sagte Düclari, »aber ich bin doch noch nicht mit Ihnen einig, daß die Bewegung so durchaus nötig ist. Ich verzichte nun auf die Wasserfälle; aber ein schönes Gemälde kann doch, meine ich, viel ausdrücken.«

»Gewiß, aber nur für einen Augenblick. Ich werde Ihnen meine Ansicht durch ein Beispiel zu erklären suchen. Es ist heute der 18. Februar ...«

»Nicht doch,« sagte Verbrügge, »wir haben noch Januar ...«

»Nein, nein, es ist heute der 18. Februar 1587, und Sie sitzen gefangen im Schlosse Fotheringhay.«

»Ich?« meinte Düclari, der meinte, nicht recht gehört zu haben.

»Ja, Sie. Sie langweilen sich und suchen Unterhaltung. Da in jener Mauer ist eine Öffnung, aber sie ist zu hoch, um durchzusehen, und das wollen Sie doch. Sie schieben Ihren Tisch heran und setzen darauf einen Schemel mit drei Beinen, von denen das eine ein bißchen schwach ist. Sie haben auf der Kirmes einen Akrobaten gesehen, der sieben Stühle aufeinander setzte und sich daraufstellte, den Kopf nach unten. Eigenliebe und Langeweile drängen Sie, dasselbe zu thun. Sie klettern auf Ihren Schemel, schon etwas wackelig, und Sie erreichen Ihr Ziel. Sie werfen einen Blick durch die Öffnung ... O Gott! ... Sie fallen ... Und wissen Sie, warum Sie gefallen sind?«

»Ich denke, weil das dritte Stuhlbein brach,« sagte Verbrügge würdevoll.

»Ja, das Stuhlbein brach – aber nicht darum sind Sie gefallen; das Stuhlbein ist gebrochen, weil Sie gefallen sind. Vor jeder anderen Öffnung hätten Sie ein Jahr lang auf diesem Stuhle ausgehalten, und jetzt mußten Sie fallen, und wenn dreizehn Beine unter dem Stuhle gewesen wären, ja selbst wenn Sie auf dem Fußboden gestanden hätten ...«

»Ich mache mir ein Vergnügen daraus,« sagte Düclari; »ich sehe, daß Sie es sich in den Kopf gesetzt haben, mich, koste, was es wolle, fallen zu lassen. Da liege ich nun, so lang ich bin, aber ich weiß wahrhaftig nicht, warum?«[143]

»Nun, das ist doch sehr einfach ... Sie sahen da eine Frau, schwarz gekleidet, die vor einem Block auf den Knien lag, und sie beugte den Kopf hernieder, und weiß wie Silber war der Hals, der sich von dem schwarzen Sammet abhob ... und da stand ein Mann mit einem großen Schwert, und er hielt es hoch, und sein Blick starrte auf diesen weißen Hals ... und er suchte den Bogen, der sein Schwert beschreiben mußte, um dort ... dort zwischen den Wirbeln, mit Genauigkeit und mit Kraft hindurchgetrieben zu werden ... Und dann fielen Sie, Düclari, Sie fielen, weil Sie das sahen, und darum riefen Sie: O Gott! nicht weil bloß drei Beine am Schemel waren ... Und lange nachdem sie aus Fotheringhay erlöst waren, auf Fürsprache Ihres Neffen, oder weil es den Menschen langweilig wurde, Sie da wie einen Kanarienvogel festzuhalten – lange danach, ja, bis heute träumen Sie wachend von dieser Frau, und im Schlafe selbst erschrecken Sie und fallen mit schwerem Stoß auf Ihre Lagerstätte, weil Sie den Arm des Henkers fassen wollen ... Ist es nicht so?«

»Ich will es wohl glauben, aber bestimmt kann ich es nicht sagen, weil ich niemals zu Fotheringhay durch ein Loch in der Mauer gesehen habe.«

»Gut, gut, ich auch nicht. Aber nun nehme ich ein Gemälde, das die Enthauptung Maria Stuarts vorstellt. Nehmen Sie an, daß die Auffassung vollkommen ist. Da hängt es, in vergoldetem Rahmen, an einer roten Schnur, wenn Sie wollen ... ich weiß, was Sie sagen wollen, gut! Nein – Sie sehen den Rahmen nicht ... Sie vergessen sogar, daß Sie am Eingang in den Bildersaal Ihren Spazierstock abgegeben haben ... Sie vergessen Ihren Namen, Ihr Kind, die neue Polizeimütze, um nicht ein Bild zu sehen, sondern wirklich darauf Maria Stuart zu schauen, gerade wie zu Fotheringhay. Der Henker steht gerade so, wie er wirklich gestanden haben mag, ja, ich will so weit gehen, daß Sie den Arm ausstrecken, um den Schlag abzuwehren, so weit, daß Sie rufen: Laß die Frau leben, vielleicht bessert sie sich ... Sie sehen, ich gebe Ihnen alles vor, was die Ausführung des Bildes angeht ...«

»Ja, aber was weiter? Ist dann der Eindruck nicht der[144] nämliche, als wenn ich dasselbe in Wirklichkeit in Fotheringhay sähe?«

»Nein, durchaus nicht, und vielleicht deswegen nicht, weil Sie nicht auf einen Stuhl mit drei Beinen gestiegen sind. Sie nehmen einen Stuhl – mit vier Füßen diesmal vielleicht einen Sessel – Sie setzen sich vor dem Bilde nieder um gut und lange zu genießen (wir ›genießen‹ nun einmal bei etwas Grausigem), und was glauben Sie nun, was der Eindruck ist, den es macht?«

»Nun, Schreck, Angst, Mitleid, Rührung ... ebenso als ob ich durch die Öffnung in der Mauer sähe. Sie haben angenommen, daß die Malerei vollkommen ist, ich muß also davon ganz denselben Eindruck haben als von der Wirklichkeit.«

»Nein, binnen zwei Minuten fühlen Sie Schmerzen im rechten Arm aus Sympathie mit dem Henker, der so lange das schwere Stück Stahl unbeweglich in die Höhe hält ...«

»Sympathie mit dem Henker?«

»Ja, Mitgefühl, Mitleid ... und ebenso mit der Frau, die da so lange in unbequemer Haltung, und wahrscheinlich auch in ungemütlicher Stimmung, vor dem Block liegt. Sie haben immer noch Mitleid mit ihr; aber diesmal nicht, weil sie enthauptet wird, sondern weil man sie so lange warten läßt, bis sie enthauptet wird. Und wenn Sie noch irgend etwas sagen oder rufen möchten, würde es schließlich – vorausgesetzt, daß Sie sich überhaupt in die Sache einmischen wollen – nichts anderes sein können als: Schlag doch endlich zu, Mann, sie wartet ja darauf! Und wenn Sie später das Bild wiedersehen und nochmals wiedersehen, ist selbst der erste Eindruck schon der: Ist es noch nicht vorbei? steht er und liegt sie noch immer da?«

»Aber was ist denn für Bewegung in der Schönheit der Frauen von Arles?« fragte Verbrügge.

»O das ist etwas anderes. Sie spielen Geschichte aus in ihren Zügen. Karthago blüht und baut Schiffe auf ihrer Stirn ... hören Sie Hannibals Eid gegen Rom ... da flechten sie Sehnen für die Bogen ... da brennt die Stadt ...«

»Max, Max, ich glaube, du hast dein Herz in Arles gelassen,« sagte Tine.

»Ja, für einen Augenblick ... aber ich habe es schon wieder, du sollst es sehen. Stellt euch vor, ich sage nicht: da habe ich eine Frau gesehen, die so oder so schön war;[145] nein, alle waren sie schön, und es war daher eine Unmöglichkeit, sich zu verlieben, weil jede folgende immer wieder die vorhergehende in der Bewunderung verdrängte; und ich dachte wirklich an Caligula oder Tiberius – von wem erzählt man die Fabel? – der wünschte, daß das ganze Menschengeschlecht nur einen Kopf hätte ... so kam auch unwillkürlich mir der Wunsch, daß die Frauen von Arles ...«

»Nur einen Kopf zusammen hätten?«

»Ja ...«

»Um ihn abzuschlagen?«

»O nein ... um ihn auf die Stirn zu küssen, wollte ich sagen, aber das ist es nicht, um ihn anzuschwärmen, um davon zu träumen, und um ... gut zu sein!«

Düclari und Verbrügge fanden sicherlich diesen Schluß wieder sehr sonderbar. Aber Max merkte das nicht und fuhr fort:

»Denn so edel waren die Züge, daß man etwas wie Scham fühlte, nur ein Mensch zu sein, und nicht ein Funken, ein Strahl ... nein, das wäre noch Stoff ... ein Gedanke! Aber ... dann saß da so ein Bruder oder ein Vater bei diesen Frauen ... und Gott steh mir bei, ich habe gar eine gesehen, die sich die Nase schneuzte!«

»Ich wußte wohl, daß du wieder einen schwarzen Strich darüber zeichnen würdest,« sagte Tine.

»Kann ich dafür? Ich hätte sie lieber tot umfallen gesehen; – darf solch ein Mädchen sich profanieren?«

»Aber Mijnheer Havelaar,« fragte Verbrügge, »wenn sie nun erkältet ist?«

»Sie darf nicht erkältet sein mit so einer Nase!«

Als ob der Böse seine Hand im Spiele hatte, auf einmal mußte Tine niesen ... und bevor sie daran dachte, hatte sie sich geschneuzt!

»Bester Max! Du wirst mir doch darum nicht böse werden!« sagte sie mit verhaltenem Lachen.

Er antwortete nicht, und wie närrisch es scheine oder sei, ja, er war böse darum. Und was auch merkwürdig klingen mag, Tine freute sich, daß er böse war und von ihr verlangte, daß sie mehr sei als die Phokäischen Frauen zu Arles, wenn sie auch gerade keinen Grund hatte, auf ihre Nase stolz zu sein.

Wenn Düclari noch meinte, daß Havelaar »närrisch« war, hätte man es ihm nicht übel deuten können, wenn er, bei Beobachtung der kurzen Verstörtheit, die auf Havelaars[146] Gesicht bei dem Naseschneuzen bemerkbar war, in dieser Meinung bestärkt worden wäre. Aber dieser war zurückgekehrt von Karthago, und mit der Schnelligkeit, mit der er lesen konnte, wenn er nicht gerade mit seinem Geist zu weit von Hause fort war, las er auf den Gesichtern seiner Gäste, daß sie zwei Thesen aufstellten:

Erstens, wer nicht will, daß seine Frau sich die Nase schneuzt, ist ein Narr.

Zweitens, wer glaubte, daß eine in schönen Linien gezeichnete Nase nicht geschneuzt werden darf, thut falsch, diesen Glauben auch auf Mewrouw Havelaars Nase zu übertragen, deren Nase ein bißchen »Kartoffel« ist.

Die erste Behauptung ließ Havelaar auf sich beruhen, aber die zweite!

»O,« rief er, als ob er antworten müßte, obschon seine Gäste zu höflich gewesen waren, um diese Gedanken auszusprechen, »das will ich dir erklären, Tine ...«

»Bester Max!« sagte sie bittend.

Das wollte sagen: Erzähle doch diesen Herren nicht, warum ich in deinen Augen über Erkältung erhaben sein muß ...

Havelaar schien zu verstehen, was Tine meinte, denn er antwortete:

»Gut, Kind. Aber wissen Sie, meine Herren, daß man sich oft irrt im Beurteilen der Rechte der Men schen auf materielle Unvollkommenheit?«

Ich glaube bestimmt, daß die Gäste von diesen Rechten noch nie etwas gehört hatten.

»Ich habe auf Sumatra ein Mädchen gekannt,« fuhr er fort, »die Tochter von einem Datu ... nun, ich meine, daß sie auf diese Unvollkommenheit kein Recht hatte, und doch habe ich sie bei einem Schiffbruch ins Wasser fallen sehen ... wie jeden anderen. Ich, ein Mensch, habe ihr helfen müssen, um ans Land zu kommen.«

»Aber hätte sie denn fliegen sollen wie eine Möwe?«

»Gewiß ... oder, nein ... sie hätte keinen Körper haben dürfen. Soll ich Ihnen erzählen, wie ich ihre Bekanntschaft machte? Es war im Jahre 42, ich war Kontroleur von Natal. Sie sind ja wohl dagewesen, Verbrügge?«[147]

»Ja.«

»Nun, dann wissen Sie, daß im Natalschen Pfefferkultur ist. Die Pfefferpflanzungen liegen zu Taloh-Baleh, nördlich von Natal, an der Küste. Ich sollte sie inspizieren, und da ich von Pfeffer nichts verstand, nahm ich in der Praauw (Praku) einen Datu mit, der mehr davon wußte. Sein Töchterchen, damals ein Kind von dreizehn Jahren, kam mit. Wir segelten die Küste entlang und langweilten uns ...«

»Und dann habt ihr Schiffbruch gelitten?«

»Nein, es war schönes Wetter ... der Schiffbruch fiel erst viel später vor; sonst würde ich mich wohl nicht gelangweilt haben. So segelten wir die Küste entlang und es war stickendheiß. Solch eine Praauw bietet wenig Gelegenheit zur Zerstreuung, dazu war ich gerade in sehr verdrießlicher Stimmung, wozu viele Ursachen beigetragen hatten. Ich hatte erstens eine unglückliche Liebe – das war damals mein täglich Brot – ferner befand ich mich auf einer Station zwischen zwei Anfällen von Ehrsucht. Ich hatte mich zum König gemacht und war entthront worden, ich war auf einen Turm gestiegen und zur Erde niedergestürzt ... ich will jetzt überschlagen, wie es kam. Genug, ich saß da in der Praauw mit saurem Gesicht und schlechter Laune, ich war, was die Deutschen, ›ungenießbar‹ nennen. Ich fand, daß es nicht angebracht war, mich Pfeffergärten inspizieren zu lassen, und daß ich schon lange hätte als Gouverneur eines Sonnensystems angestellt sein sollen. Dabei kam es mir vor wie moralischer Mord, einen Geist wie den meinen in eine Praauw zu setzen mit diesem dummen Datu und seinem Kinde.

Ich muß Ihnen sagen, daß ich sonst die malayischen Großen gut leiden konnte und gut mit ihnen fertig wurde. Sie haben vieles, was sie in meinen Augen über die javanischen Großen stellt. Ich weiß wohl, Verbrügge, daß Sie da nicht einstimmen; es sind wenige, die mir darin recht geben ... aber lassen wir das.

Hätte ich diese Fahrt einen anderen Tag gethan – mit weniger Raupen im Kopfe – so wäre ich wahrscheinlich bald mit diesem Datu ins Gespräch gekommen, und ich hätte vielleicht gefunden, daß er das Gespräch wohl wert war. Vielleicht hätte ich dann auch das Mädchen zum Sprechen gebracht,[148] und das hätte mich unterhalten können; denn ein Kind hat meistens etwas Ursprüngliches – obschon ich auch selbst noch zu sehr Kind war, um auf Ursprünglichkeit viel zu geben. Jetzt ist das anders. Jetzt sehe ich in jedem dreizehnjährigen Mädchen ein Manuskript, in dem noch wenig oder nichts gestrichen ist. Man überrascht den Verfasser im Negligé, und das ist oft nett.

Das Kind reihte Perlen auf eine Schnur und schien ihre ganze Aufmerksamkeit dazu nötig zu haben. Drei rote, eine schwarze ... drei rote, eine schwarze ... es war hübsch.

Sie hieß Si Upi Keteh. Das bedeutet auf Sumatra so viel wie ›kleines Fräulein‹ ... ja, Verbrügge, Sie wissen das wohl, aber Düclari hat immer auf Java gedient. Sie hieß Si Upi Keteh, aber in meinen Gedanken nannte ich sie ›Stümpert,‹ weil ich meiner Schätzung nach so himmelhoch über ihr stand.

Es wurde Mittag ... beinahe Abend. Die Perlen waren aufgereiht. Das Land schob langsam bei uns vorbei, kleiner und kleiner wurde der Ophir hinter uns. Links im Westen über der weiten weiten See, die keine Grenze hat bis Madagaskar und Afrika dahinter, sank die Sonne und ließ ihre Strahlen in immer stumpferem Winkel über die Wogen hüpfen, und sie suchte Kühlung in der See. Wie ist doch das Ding gleich?«

»Was für ein Ding ... die Sonne?«

»Nein ... ich machte in diesen Tagen Verse ...


Ihr fragt, warum der Ocean,

Der Natals Flur bespült,

Niemalen sanft und friedlich ruht,

Warum die ungestüme Flut

Nur kocht und stürmt und wühlt?


Ihr fragt, und eure Frage hört'

Der arme Fischerknab',

Und mit dem dunklen Aug' er winkt

Gen Westen, wo die Sonne sinkt

Am Horizont hinab.


Es starrt des dunklen Auges Blick

Fern in den West hinein.[149]

Und zeigt euch in der Runde dort

Nur Wasser, Wasser immerfort

Und See, und See allein.


Darum hier peitscht der Ocean

Grausam den Ufersand,

Nur See ist, wo dein Blick auch sucht,

Nur Wasser, endlos Wasser wogt

Bis Madagaskars Rand.


Und manches Opfer ward gebracht

Dem mitleidlosen Meer,

Und mancher Schrei ward dort erstickt,

Und mancher kämpfte und erblickt'

Sein Weib und Kind nicht mehr.


Und manche Hand zum letztenmal

Erhob sich aus dem Meer,

Und tastete und griff umher,

Ob niergend Stütze, Hilfe wär',

Eh' sie versank ins Meer ...


... Den Rest weiß ich nicht mehr ...«

»Sie werden ihn wieder bekommen können, wenn Sie an Krijgsman schreiben, der bei Ihnen in Natal Schreiber war; er hat es,« sagte Verbrügge.

»Wie soll der dazu kommen?« fragte Max.

»Vielleicht aus Ihrem Papierkorb ... Aber sicher ist, daß er es hat. Folgt da nicht die Legende von der ersten Sünde, die das Eiland versinken ließ, das früher die Reede von Natal beschützte ... die Geschichte von Djiwa mit den zwei Brüdern?«

»Ja, das ist richtig. Diese Legende ... war keine Legende. Es war eine Parabel, die ich machte, und die über ein oder zwei Jahrhunderte eine Legende werden wird ... wenn Krijgsman das Ding öfters deklamiert. So begannen alle Mythologien. Djiwa ist die Seele, wie Sie wissen ...«

»Max, wo bleibt das kleine Fräulein mit den Perlen?« fragte Tine.

»Die Perlen waren aufgezogen. Es war sechs Uhr, und da unter der Linie – Natal liegt wenige Minuten nördlich; als ich über Land nach Ayer-Bangi ging, stieg ich zu Pferd über die Linie hin, nahe genug, es war, um darüber zu fallen – da war sechs Uhr das Zeichen zu Abendgedanken. Nun finde ich, daß der Mensch des Abends immer besser ist[150] oder wenigstens weniger untugendhaft als des Morgens, und das ist natürlich. Des Morgens hält man sich zusammen, man sei Gerichtsvollzieher oder Kontroleur oder ... nein, es ist genug. Ein Gerichtsvollzieher nimmt sich zusammen, um den Tag über gut seine Pflicht zu thun ... Gott, welch eine Pflicht! Wie muß das ›zusammengehaltene‹ Herz wohl aussehen! Ein Kontroleur – ich sage das nicht für Sie, Verbrügge! – ein Kontroleur reibt sich die Augen aus, und sieht er einer Begegnung mit einem Adsistent-Residenten entgegen, der einmal sein Übergewicht zeigen will wegen der paar Dienstjahre mehr; oder er muß diesen Tag Felder vermessen und steht im Zweifel zwischen seiner Ehrlichkeit – Sie wissen das nicht, Düclari, weil Sie Militär sind, aber es giebt wirklich ehrliche Kontroleure – dann steht er in Zweifel zwischen seiner Ehrlichkeit und der Furcht, daß Radhen Demang soundso von ihm den Schimmel zurückverlangen wird, der so gut zählt; – oder auch, er muß diesen Tag kurz und bündig ja oder nein antworten auf Erlaß Nummer so und so viel. Kurz, des Morgens beim Erwachen fällt einem die Welt aufs Herz, und das ist schwer für ein Herz, sei es auch noch so stark.

Aber des Abends hat man eine Pause. Es sind zehn Stunden zwischen jetzt und dem Augenblick, da man seinen Rock wiedersieht. Zehn Stunden; sechsunddreißigtausend Sekunden, um Mensch zu sein! Da freut sich jeder darüber. Das ist der Augenblick, in dem ich zu sterben hoffe ... um drüben ohne Amtsmiene anzukommen. Das ist der Augenblick, in dem die Frau etwas in Eurem Gesicht wiederfindet, was sie für Euch einnahm, als sie Euch das Taschentuch behalten ließ mit einem E in der Ecke ...«

»Und als sie noch nicht erkältet sein konnte,« sagte Tine.

»Ach, störe mich nicht. Ich will nur sagen, daß man des Abends gemütlicher ist.«

Als also die Sonne unterging, wurde ich ein besserer Mensch, und als erstes Zeichen der Besserung konnte gelten, daß ich zu dem kleinen Fräulein sagte:

»Es wird nun bald etwas kühler werden.«

»Ja, Mijnheer,« antwortete sie.

Aber ich beugte meine Erhabenheit noch tiefer zu dem »Stümpert« herunter und fing mit ihr ein Gespräch an. Mein Verdienst war um so größer, da sie wenig antwortete.[151] Ich hatte recht in allem, was ich sagte, und das ist auch langweilig, wenn man auch verwöhnt ist.

»Würdest du gern wieder nach Taloh-Baleh mitgehen?« fragte ich.

»Wie Mijnheer befiehlt.«

»Nein, ich frage dich, ob du solch eine Fahrt angenehm findest?«

»Wie mein Vater wünscht,« antwortete sie.

War das nicht, um toll zu werden? Nun, ich wurde nicht toll. Die Sonne war hinunter, und ich fühlte mich gemütlich genug, um noch nicht durch so viel Dummheit abgeschreckt zu werden; oder lieber, ich glaube, daß ich an dem Hören meiner Stimme Geschmack bekam – denn es giebt wenige unter uns, die sich nicht gern reden hören; – und nach meiner Stummheit des gestrigen Tages meinte ich etwas Besseres zu verdienen als das maulfaule Antworten von Si Upi Keteh.

Ich werde ihr etwas erzählen, dachte ich, dann höre ich es selbst mit an, und ich habe es nicht nötig, daß sie mir antwortet. Nun wißt ihr, daß, wie beim Löschen einer Schiffsladung das zuletzt eingenommene ›Kranjang‹ Zucker zuerst wieder zum Vorschein kommt, auch wir gewöhnlich den Gedanken oder die Geschichte zuerst wieder hervorholen, die zuletzt ein geladen worden ist. In der Zeitschrift von Niederländisch-Indien hatte ich kurz zuvor eine Geschichte von Jeronimus gelesen: ›Der japanische Steinhauer.‹ Der Jeronimus hat hübsche Sachen geschrieben. Haben Sie seine ›Auktion im Sterbehause‹ gelesen? und seine ›Gräber?‹ Und vor allem den ›Pedatti‹ (Büffelwagen)? Ich werde sie Ihnen geben.

Ich hatte also kurz zuvor den ›japanischen Steinhauer‹ gelesen. Nun erinnere ich mich auf einmal, wie ich soeben in das Liedchen geraten bin, in dem ich das ›dunkle Auge‹ jenes Fischerknaben, bis zu schiefen Ausdrücken, ›in die Runde‹ irren lasse – in einer Richtung! Ganz verrückt. Das war eine Vermischung von Ideen. Meine Verstörtheit dieses Tages stand in Beziehung mit der Gefährlichkeit der Natalschen Reede ... Sie wissen, Verbrügge, daß kein Kriegsschiff dort landen kann, besonders im Juli ... ja, Düclari, der Westmonsun ist da im Juli am stärksten; ganz anders als hier. Nun, die Gefährlichkeit dieser Reede hängt sich wieder fest an meine gekränkte Ehrsucht, und die Ehrsucht hängt wieder zusammen mit dem Liedchen von Djiwa. Ich war wiederholt bei dem Residenten vorstellig geworden, dort zu[152] Natal eine Seewehr zu bauen, oder wenigstens einen künstlichen Hafen in der Flußmündung, um den Handel in dem Bezirk Natal, der die Battahländer mit der See verbindet, zu fördern. Anderthalb Millionen Menschen im Binnenlande wissen keinen Weg mit ihren Produkten, weil die Natalsche Reede sich in einem so schlechten Zustande befindet. Die Vorstellungen wurden indessen von dem Residenten nicht gutgeheißen, oder er meinte möglicherweise, daß die Regierung sie nicht gutheißen würde, und Sie wissen, daß die Residenten niemals einen Vorschlag machen, wenn sie nicht im voraus berechnen können, daß er der Regierung angenehm sein wird. Einen Hafen in Natal zu schaffen, war gegen das Prinzip der Abschließung, und anstatt Schiffe dorthin zu locken, war es sogar verboten, Raaschiffe auf die Reede zuzulassen, es sei im Falle ›höherer Gewalt.‹ Wenn nun doch ein Schiff kam, – es waren meistens amerikanische Walfischfänger oder Franzosen, die in den kleinen unabhängigen Reichen an der Nordspitze Sumatras Pfeffer geladen hatten – ließ ich immer den Kapitän einen Brief an mich schreiben, in dem er die Erlaubnis nachsuchte, Trinkwasser einzunehmen. Der Ärger über das Fehlschlagen meiner Absichten, etwas zu Natals Gunsten zustande zu bringen, oder lieber die gekränkte Eitelkeit, noch so wenig zu bedeuten, daß ich nicht einmal einen Hafen machen lassen konnte, wo ich wollte, und das alles in Verbindung mit meiner Kandidatur für die Regierung eines Sonnensystems – das war es, was mich diesen Tag so übellaunig gemacht hatte. Als ich durch den Untergang der Sonne etwas besser wurde, denn Unzufriedenheit ist eine Krankheit, brachte gerade diese Krankheit mir den ›japanischen Steinhauer‹ in die Erinnerung, und vielleicht dachte ich darum allein die Geschichte noch einmal durch, um mir selber weiszumachen, ich thäte es aus Wohlwollen für das Kind, und dabei heimlich den letzten Tropfen des Tränkchens einzunehmen, das ich nötig hatte. Aber sie, das Kind, heilte mich – wenigstens für einen Tag oder etwas länger – besser als meine Geschichte.[153]

Upi! Es war ein Mann, der Steine hieb aus dem Fels. Seine Arbeit war sehr schwer, und er arbeitete viel; aber sein Lohn war gering, und zufrieden war er nicht.

Er seufzte, weil seine Arbeit schwer war, und er rief: ›O, daß ich reich wäre, um zu ruhen auf einer Baleh-baleh mit Klambu von roter Seide!‹

Und es kam ein Engel aus dem Himmel, der sagte: ›Dir sei, wie du gesagt hast.‹

Und er war reich. Und er ruhte auf einer Baleh-baleh, und die Klambu war aus roter Seide.

Und der König des Landes zog vorbei mit Reitern vor seinem Wagen; und auch hinter dem Wagen waren Reiter, und man hielt den goldenen Pajong über das Haupt des Königs.

Und als der reiche Mann das hörte, verdroß es ihn, daß über seinem Haupte kein goldener Pajong gehalten wurde, und zufrieden war er nicht.

Er seufzte und rief: ›Ich möchte König sein!‹

Und es kam ein Engel vom Himmel, der sagte: ›Dir sei, wie du gesagt hast.‹

Und er war König. Und vor seinem Wagen ritten viele Reiter, und es waren auch Reiter hinter seinem Wagen, und über seinem Haupte hielt man den goldenen Pajong.

Und die Sonne schien mit heißen Strahlen und verbrannte das Erdreich, sodaß das Gras dürre ward.

Und der König klagte, daß die Sonne ihm ins Antlitz sengte und Macht über ihn hatte, und zufrieden war er nicht.

Er seufzte und rief: ›Ich möchte die Sonne sein!‹

Und es kam ein Engel vom Himmel, der sprach: ›Dir sei, wie du gesagt hast.‹

Und er war die Sonne. Und er sandte seine Strahlen nach oben und nach unten, nach der rechten Seite und nach der linken, und überall.

Und er versengte das Gras auf der Erde, und das Antlitz der Fürsten, die auf Erden waren.

Und eine Wolke stellte sich zwischen die Erde und ihn, und die Strahlen der Sonne prallten davon zurück.[154]

Und er ward zornig, daß seiner Macht widerstanden wurde, und er klagte, daß die Wolke mächtig war über ihn, und zufrieden war er nicht.

Er wollte die Wolke sein, die so mächtig war.

Und es kam ein Engel vom Himmel, der sprach: ›Dir sei, wie du gesagt hast.‹

Und er wurde zu einer Wolke und stellte sich zwischen Sonne und Erde, und fing die Strahlen auf, sodaß das Gras grün wurde.

Und die Wolke regnete in großen Tropfen auf das Erdreich, und ließ die Flüsse schwellen, und die Banjirs führten die Herden weg.

Und sie verwüstete durch viel Wasser das Feld.

Und sie fiel nieder auf einen Fels, der nicht wich. Und sie rauschte in großen Strömen, aber der Fels wich nicht.

Und sie ward zornig, weil der Fels nicht weichen wollte und weil die Stärke ihrer Ströme eitel war. Und zufrieden war sie nicht.

Sie rief: ›Dem Felsen ist Macht gegeben über mich, ich wünschte der Fels zu sein!‹

Und es kam ein Engel vom Himmel, der sprach: ›Dir sei, wie du gesagt hast!‹

Und sie wurde Fels und bewegte sich nicht, wenn die Sonne schien, und nicht, wenn es regnete.

Und da kam ein Mann mit der Hacke, mit spitzem Meißel und mit schwerem Hammer, der Steine schlug aus dem Fels.

Und der Fels sagte: ›Was ist das, daß der Mann Macht hat über mich und Steine schlägt aus meinem Schoß?‹ Und zufrieden war er nicht.

Er rief: ›Ich bin schwächer als dieser, ich möchte der Mann sein!‹

Und es kam ein Engel vom Himmel, der sprach: ›Dir sei, wie du gesagt hast.‹

Und er war Steinhauer und hieb Steine aus dem Fels, mit schwerer Arbeit, und er arbeitete sehr schwer, für geringen Lohn, und er war zufrieden. –

»Sehr hübsch,« sagte Düclari. »Aber nun sind Sie uns noch den Beweis schuldig, daß die kleine Upi hätte imponderabel sein sollen.«

»Nein, ich habe Ihnen den Beweis nicht versprochen. Ich[155] habe Ihnen nur erzählen wollen wie ich ihre Bekanntschaft machte. Als mein Märchen aus war, fragte ich: Und du Upi, was würdest du wünschen, wenn ein Engel aus dem Himmel dich fragen würde?«

»Mijnheer! ich werde ihn bitten, mich mitzunehmen nach dem Himmel.«

»Ist das nicht schön?« fragte Tine ihre Gäste, die es vielleicht sehr sonderbar fanden.

Havelaar stand auf und wischte etwas von seiner Stirn weg.

Quelle:
Multatuli (Eduard Douwes Dekker): Max Havelaar. Halle a. d. S[aale] [o. J.], S. 139-156.
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