Sechzehntes Kapitel.

[218] Stern fährt fort. Die Leute von Lebak fassen Vertrauen zu ihrem Tuwan. Indische Autoritäten ... Droogstoppel meldet sich wieder.


Havelaar empfing einen Brief des Regenten von Tjikand, in dem dieser ihm mitteilte, daß er seinem Oheim, dem Adhipatti von Lebak, einen Besuch abzustatten wünschte. Diese Nachricht war ihm sehr unlieb. Er wußte, daß die Großen aus den Preange--Regentschaften gewöhnt waren, viel Luxus um sich zu verbreiten, und daß daher der Tjikandsche Tommongong nicht ohne ein Gefolge von Hunderten kommen werde, die alle mit ihren Pferden beherbergt und verpflegt werden mußten. Gern hätte er den Besuch abgelehnt; aber er sann vergebens auf Mittel, die dazu helfen konnten, ohne den Regenten von Rangkas-Betung zu verletzen; denn dieser war sehr stolz und hätte sich tiefbeleidigt gefühlt, wenn man seine Armut als Grund, ihn nicht zu besuchen, angegeben hätte. Und wenn man diesen Besuch nicht verhindern konnte, wäre es ein unvermeidlicher Anlaß geworden, um den Druck, der auf dem Volke lastete, noch zu erschweren.

Es ist zu bezweifeln, ob Havelaars Ansprache einen bleibenden Eindruck auf die Häupter gemacht hatte. Bei vielen war das sicher nicht der Fall, und er hatte wohl auch nicht darauf gerechnet. Und ebenso gewiß ist, daß sich das Gerücht in den Dörfern verbreitet hatte, daß der »Tuwan,«[218] der zu Rangkas-Betung die Macht hatte, Recht üben wollte. Hatten also seine Worte auch nicht die Kraft gehabt, von Missethat zurückzuhalten, so hatten sie doch den Opfern davon Mut gemacht, sich zu beklagen, wenn auch noch ängstlich und im geheimen.

Sie krochen des Abends durch die Schlucht, und wenn Tine in ihrem Zimmer saß, wurde sie oft durch plötzliches Geräusch aufgeschreckt, und sie erblickte vor dem offenen Fenster dunkle Gestalten, die mit scheuem Tritt herumliefen. Bald erschrak sie nicht mehr; denn sie wußte, was es bedeutete, wenn diese Gestalten so spukhaft um das Haus irrten und bei ihrem Max Schutz suchten. Dann winkte sie ihm, und er stand auf, um die Kläger hereinzurufen. Die meisten kamen aus dem Distrikt Parang-Kudjang, wo der Schwiegersohn des Regenten Oberhaupt war, und wenn dieses Haupt auch nicht unterließ, seinen Teil an dem Raub zu nehmen, war es doch kein Geheimnis, daß er meist im Namen und zum Vorteil des Regenten raubte. Es war rührend, wie die armen Burschen auf Havelaars Ritterlichkeit vertrauten, daß er sie nicht am Tage darauf rufen würde, um öffentlich zu wiederholen, was sie auf seinem Zimmer gesagt hatten. Das aber wäre für alle Mißhandlung gewesen und für viele der Tod. Havelaar zeichnete auf, was sie sagten, und dann befahl er den Klägern, in ihr Dorf zurückzukehren. Er versprach, daß Gerechtigkeit geübt werden sollte, wenn sie sich nicht empörten oder flohen, was viele beabsichtigt hatten. Meistens war er kurz darauf an dem Platze, wo das Unrecht geschah, ja, oft war er schon dagewesen und hatte, gewöhnlich des Nachts, die Sache untersucht, bevor noch der Kläger an seinen Wohnort zurückgekehrt war. So besuchte er den ausgedehnten Bezirk, Dörfer, die zwanzig Stunden von Rangkas-Betung entfernt lagen, ohne daß der Regent oder selbst der Kontroleur Verbrügge wußten, daß er vom Hauptorte abwesend war. Seine Absicht war dabei, von den Klägern die Gefahr der Rache abzuwenden, und zugleich dem Regenten die Scham zu ersparen, denn unter Havelaar wäre die öffentliche Untersuchung nicht mit Zurücknahme der Klagen abgelaufen. So hoffte er immer noch, daß die Häupter von dem gefährlichen Wege, den sie schon so lange wandelten, zurückkehren würden, und er würde in diesem Falle sich mit der Schadloshaltung der armen Beraubten begnügt haben.

Aber oftmals, wenn er mit dem Regenten gesprochen hatte, sah er, daß das Versprechen der Besserung eitel war,[219] und er war über das Fehlschlagen seiner Absichten bitter enttäuscht.

Wir wollen ihn nun einige Zeit seiner Trauer und seiner mühseligen Arbeit überlassen, um dem Leser die Geschichte des Javanen Saïdjah im Dorfe Badur zu erzählen. Ich nehme den Namen des Dorfes und dieses Javanen aus Havelaars Aufzeichnungen. Es wird von Erpressung und Raub die Rede sein, und wenn man meine Erzählung als eine Erdichtung ansehen sollte, so gebe ich die Versicherung, daß ich imstande bin, die Namen von zweiunddreißig Leuten im Distrikt Parang-Kudjang anzugeben, denen in einem einzigen Monat sechsunddreißig Büffel für den Regenten abgenommen worden sind. Oder richtiger, ich kann die Namen von zweiunddreißig Leuten aus diesem Distrikt nennen, die in einem einzigen Monat gewagt haben, sich zu beklagen, und deren Klage durch Havelaar untersucht und als begründet befunden worden ist.

Es sind fünf solcher Distrikte in dem Bezirk Lebak.

Wenn man nun vorzieht, anzunehmen, daß die Zahl der geraubten Büffel in den Strichen, die nicht die Ehre hatten, von des Adhipatti Schwiegersohn verwaltet zu werden, weniger groß war, so will ich das wohl zugeben, wenn es auch fraglich bleibt, ob nicht die Frechheit der übrigen Häupter auf einem ebenso festen Grunde ruhte, wie der der hohen Verwandtschaft ist. Das Distriktshaupt von Tjilang-Kahan, an der Südküste, konnte, in Ermangelung eines gefürchteten Schwiegervaters, sich auf die Schwierigkeit der Anklage durch die armen Leute verlassen, die vierzig bis sechzig Palen zurückzulegen hatten, bevor sie sich des Abends in der Schlucht bei Havelaars Hause versteckten. Und wenn man dann an die große Zahl derer denkt, die sich auf den Weg machten, um jenes Haus niemals zu erreichen, oder an die vielen, die nicht einmal das Dorf verließen, abgeschreckt durch eigene Erfahrung oder durch das Schicksal anderer Kläger, dann, glaube ich, wäre es ein Irrtum, zu denken, daß die Multiplikation mit fünf, der man die Zahl der gestohlenen Büffel eines Distrikts zu Grunde legt, einen zu hohen Maßstab für die Statistik der Rinderzahl liefern sollte, die monatlich in den fünf Distrikten für den Haushalt des Regenten von Lebak geraubt wurde.

Und es waren nicht Büffel allein, und selbst Büffelraub[220] war nicht das Hauptsächlichste. Es ist – in Indien besonders, wo noch der »Herrendienst« zu Recht besteht – ein geringeres Maß Frechheit nötig, um Leute gesetzwidrig zu unbezahlter Arbeit aufzurufen, als man braucht, um Eigentum wegzunehmen. Es ist leichter, dem Volke weiszumachen, daß die Regierung seine Arbeit braucht, ohne sie bezahlen zu wollen, als daß sie seine Büffel für nichts verlangen sollte. Und wagte der furchtsame Javane auch dem sogenannten Herrendienst nachzuspüren, ob er im Einklang stehe mit den Vorschriften, so würde er damit nicht zu Rande kommen, da der eine nicht vom anderen weiß und er daher nicht berechnen kann, ob die erlaubte Zahl der Personen nicht zehnfach, ja fünfzigfach überschritten wird. Wo also das gefährlichere, leichter zu entdeckende Verbrechen mit solcher Dreistigkeit ausgeführt wurde, was soll man sich da von den Mißbräuchen denken, die in der Anwendung leichter sind und weniger Gefahr der Entdeckung in sich schließen?

Ich sagte, ich wollte zu der Geschichte des Javanen Saïdjah übergehen, Zunächst bin ich aber zu einer jener Abschweifungen genötigt, die so schwer vermieden werden können, wenn es sich um fremdartige Verhältnisse handelt. Ich werde dabei zugleich Anlaß nehmen, die Gründe zu berühren, die das Urteil nicht-indischer Personen über indische Dinge so besonders erschweren.

Ich habe wiederholt von Javanen gesprochen, und so natürlich das auch dem europäischen Leser scheinen möge, wird die Bezeichnung doch in den Ohren derer, die auf Java bekannt sind, wie ein Fehler geklungen haben. Die westlichen Residentschaften Bantam, Batavia, Preanger, Krawang und ein Teil von Cheribon – zusammen Sundalande genannt – gelten als nicht zum eigentlichen Java gehörig. Und, von den über See gekommenen Fremdlingen in diesen Gebieten gar nicht zu sprechen, ist in der That die ursprüngliche Bevölkerung eine ganz andere als in Mittel-Java oder in der sogenannten Ostecke. Sprache, Volkstum, Sitten, Kleidung sind so ganz anders als mehr ostwärts, daß sich der Sundanese wirklich von dem eigentlichen Javanen mehr unterscheidet als ein Engländer von einem Holländer. Solche Unterschiede geben oft Anlaß zur Uneinigkeit im Urteil über viele indische Dinge. Wenn man sich nun klar macht, daß Java allein schon in zwei ungleichartige Teile so scharf abgeteilt ist, ohne auf die vielen Unterabteilungen Gewicht zu legen, kann man sich vorstellen, wie groß der Unterschied[221] zwischen den Volksstämmen ist, die weiter voneinander wohnen und durch die See getrennt sind. Wer Niederländisch-Indien allein von Java her kennt, kann sich von dem Malayen, dem Amboinesen, dem Battah, dem Alfur, dem Timoresen, dem Dajak oder dem Makassar ebensowenig eine richtige Vorstellung machen, als wenn er nie aus Europa herausgekommen wäre. Es ist denn auch für jemand, der Gelegenheit hatte, den Unterschied dieser Völker kennen zu lernen, oft spaßhaft, die Gespräche anzuhören, und ebenso betrübend, die Ausführungen zu lesen, die von Leuten herrühren, die ihre Kenntnisse indischer Dinge zu Batavia oder zu Buitenzorg aufgelesen haben. Mehrfach habe ich mich über den Mut verwundert, mit dem ein früherer General-Gouverneur zum Beispiel, auf Grund seiner örtlichen Kenntnis und Erfahrung, in der Kammer der Volksvertretung seinen Worten Gewicht zu verleihen sucht. Ich stelle die Wissenschaft gewiß hoch, die durch tiefes Bücherstudium erlangt ist, und oft habe ich gestaunt über die Ausdehnung der Kenntnisse von indischen Dingen, die einige zeigten, ohne jemals indischen Boden betreten zu haben, und sobald ein gewesener General-Gouverneur zeigt, daß er sich solche Kenntnisse auf diese Weise erworben habe, so hat man vor ihm die Achtung zu fühlen, die der rechtmäßige Lohn vieljähriger, peinlicher, fruchtbarer Arbeit ist. Größer noch soll die Ehrerbietung vor ihm sein als vor dem Gelehrten, der weniger Schwierigkeiten zu überwinden hatte, weil dieser auf weiten Abstand ohne eigene Anschauung weniger Gefahr lief in Irrtümer zu verfallen, die die Folgen einer dürftigen Anschauung sind, wie sie dem gewesenen General-Gouverneur zu teil wurde.

Ich sagte, ich bin über den Mut verwundert gewesen, den einige bei der Behandlung indischer Dinge zur Schau tragen. Sie wissen doch, daß ihre Worte auch von anderen gehört werden, als von Leuten, die meinen können, ein paar in Buitenzorg zugebrachte Jahre reichten aus, um Indien zu kennen. Sie wissen, daß ihre Worte auch von Leuten in Indien selbst gelesen werden, die Zeugen ihrer Ungeschicklichkeit waren, und die, ebenso sehr wie ich, erstaunt sind über die Dreistigkeit, mit der jemand, der vor kurzem noch seine[222] Untauglichkeit unter dem hohen, ihm vom König verliehenen Range zu verstecken suchte, nun mit einmal so spricht, als ob er wirklich etwas davon verstände.

Oft hört man denn auch Klagen über unbefugtes Dreinreden, und oft wird diese oder jene Richtung in der Volksvertretung bekämpft durch Ableugnung der Befugtheit dessen, der diese Richtung vertritt. Es wäre vielleicht nicht ohne Interesse, eine ordentliche Untersuchung nach den Eigenschaften anzustellen, die einen befugt machen, um über Befugtheit zu urteilen. Meistens wird eine wichtige Frage nicht an der Sache, um die es sich handelt, geprüft, sondern an dem Wert, den man der Meinung, die darüber das Wort führt, zuerkennt, und da das meistens die Person ist, die für eine »Autorität« gilt, mit Vorliebe einer, »der in Indien ein so gewichtiges Amt bekleidet hat,« so ergiebt sich, daß das Resultat einer Abstimmung meist die Farbe der Irrtümer trägt, die an »den gewichtigen Ämtern« zu kleben scheinen. Wenn dies schon denn so ist, wenn der Einfluß solcher Autorität lediglich durch ein Mitglied der Volksvertretung ausgeübt wird, wie groß wird dann die Prädestination zu verkehrten Urteilen, wenn solcher Einfluß gepaart geht mit dem Vertrauen des Königs, der diese Autorität an die Spitze seines Kolonialministeriums setzte.

Es in ein eigenartiges Schauspiel – das vielleicht zurückgeht auf eine Art von Trägheit, die die Mühe des Selbsturteilens scheut – wie leicht man Personen, die sich den Schein größerer Kenntnis zu geben wissen, Glauben schenkt, sobald nur diese Kenntnis aus einer fernen Quelle geschöpft ist. Die Ursache liegt vielleicht darin, daß die Eigenliebe durch das Anerkennen eines solchen Übergewichts weniger verletzt wird, als es der Fall wäre, wenn man von denselben Hilfsmitteln hätte Gebrauch machen können, woraus etwas wie Wetteifer entstehen würde. Es fällt dem Volksvertreter leicht, seine Ansicht aufzugeben, sobald sie von jemand, der ein richtigeres Urteil fällen könnte, bestritten wird, vorausgesetzt, daß die größere Richtigkeit nicht persönlichem Übergewicht zugeschrieben wird – denn dann würde die Anerkennung schwerer fallen – sondern lediglich besonderen Umständen, die dem Gegner zu gute kommen.

Und ohne von denen zu sprechen, die »hohe Ämter in Indien bekleideten,« ist es in der That merkwürdig, wie man oftmals der Ansicht von Leuten Wert beimißt, die absolut nichts zur Rechtfertigung dieses Anspruchs aufzuweisen[223] haben als die »Erinnerung an einen so vielfältigen Aufenthalt in jenen Ländern.« Das ist um so komischer, da die, die einem solchen Beweisgrund Gewicht beilegen, doch nicht so bereitwillig alles annehmen würden, was man ihnen sagen könnte über den Haushalt des niederländischen Staates, mit der Versicherung, daß der Sprecher vierzig oder fünfzig Jahre in Niederland gewohnt habe. Es giebt Leute, die mehr als dreißig Jahre in Niederländisch-Indien zubrachten, ohne je mit der Bevölkerung oder mit inländischen Großen in Berührung zu kommen. Es ist betrübend, daß der Rat von Indien meistens oder großenteils aus solchen Leuten zusammengesetzt ist, ja daß man selbst Mittel gefunden hat, den König zu bestimmen, einen, der zu dieser Art von Autoritäten gehörte, zum General-Gouverneur zu ernennen.

Als ich sagte, daß die bei einem neuernannten General-Gouverneur vorausgesetzte Tüchtigkeit die Ansicht einschließe, daß man ihn für ein Genie halte, war meine Absicht damit durchaus nicht, die Ernennung von Genies zu empfehlen. Außer der Schwierigkeit jedoch, die in dem fortwährenden Unbesetztlassen eines so wichtigen Postens liegen würde, spricht noch ein anderer Grund dagegen. Ein Genie würde nicht unter dem Kolonialministerium arbeiten können, und wäre deshalb als General-Gouverneur unbrauchbar – wie es Genies gewöhnlich sind.

Es wäre wohl zu wünschen, daß die von mir in Form einer Krankheitsgeschichte gegebenen Hauptfehler die Aufmerksamkeit derjenigen auf sich zögen, die zur Wahl eines neuen Landvogts berufen sind. In den Vordergrund stelle ich natürlich, daß alle die Personen, die für diesen Posten in Vorschlag gebracht werden, rechtschaffen seien und im Besitz eines Fassungsvermögens, das sie einigermaßen instand setzt, zu lernen, was sie wissen müssen; dann aber halte ich es für eine Hauptsache, daß man von ihnen erwarten könnte, sie würden die anmaßende Besserwisserei zu Anfang und vor allem die apathische Schläfrigkeit der letzten Regierungsjaher vermeiden.

Ich sagte schon, wie sich Havelaar in seiner schweren Pflichterfüllung auf die Hilfe des General-Gouverneurs stützen zu können glaubte, und ich fügte hinzu, daß diese Ansicht »naiv« war. Dieser General-Gouverneur erwartete seinen Nachfolger ... die Ruhe in Niederland stand nahe bevor!

Wir werden sehen, was diese Neigung zum Schlaf für[224] den Lebakschen Bezirk, für Havelaar und für den Javanen Saïdjah mit sich gebracht, zu dessen eintöniger Geschichte – einer unter vielen – ich nun übergehe.

Ja, eintönig soll sie werden! Eintönig wie die Geschichte von der mühseligen Anstrengung der Ameise, die ihren Beitrag zu dem Wintervorrat den Erdklumpen – den Berg – hinaufschleppen muß, der auf dem Wege zu der Vorratskammer liegt. Immer wieder fällt sie mit ihrer Fracht zurück, um immer wieder zu versuchen, ob sie endlich auf dem Steinchen da oben – dem Felsen, der den Berg krönt – festen Fuß fassen werde. Aber zwischen ihr und dieser Spitze ist ein Abgrund – eine Tiefe, die tausend Ameisen nicht ausfüllen würden, – die überwunden werden muß. Darum muß sie, die kaum die Kraft hat, ihre Last auf ebenem Boden fortzuschleppen – eine Last, die vielmal schwerer ist als ihr eigener Körper – sich emporheben und sich auf einem schwankenden Fleck aufrecht erhalten. Sie muß das Gleichgewicht bewahren, wenn sie sich aufrichtet mit ihrer Fracht zwischen den Vorderfüßen, sie muß sie umklammern in schiefer Richtung nach oben, um sie auf dem an der Felswand hervorstehenden Punkt niederzusetzen: sie wankt, sie schwankt, erschrickt, ermattet, versucht sich an dem halb entwurzelten Baumstamme zu halten, der mit seiner Krone nach der Tiefe zeigt – einem Grashalm: – sie verfehlt den Stützpunkt, den sie sucht, der Baum schnellt zurück – der Grashalm weicht unter ihrem Tritt ... und die Ameise stürzt mit ihrer Last in die Tiefe. Dann ist sie einen Augenblick still, eine Sekunde, die in dem Leben einer Ameise lang ist. Ist sie von dem Schmerze des Sturzes betäubt? oder giebt sie sich der Trauer hin, daß so viel Anstrengung vergebens war? Aber sie verliert den Mut nicht. Wieder erfaßt sie ihre Last und wieder schleppt sie sie nach oben, um nachher noch einmal, und noch einmal, niederzusinken in die Tiefe.

So eintönig ist meine Erzählung. Aber ich werde nicht von Ameisen sprechen, deren Freude und Leid unserer Wahrnehmung, wegen der Grobheit unserer Sinne, entgeht. Ich will von Menschen erzählen, die die gleichen Gefühle haben wie wir. Es ist wahr, wer Rührung scheut oder Mitleid ablehnt, wird sagen, daß diese Menschen gelb oder braun sind – viele nennen sie schwarz; und für diese ist dann der Farbenunterschied Grund genug, um das Auge von dem Elend abzuwenden oder doch, wenn sie darauf hinsehen, darauf hinabzusehen ohne Mitgefühl.[225]

Meine Erzählung richtet sich daher nur an die, die imstande sind, den schweren Glauben zu erfassen, daß Herzen schlagen unter der dunklen Oberhaut, und daß, wer mit weißer Haut gesegnet ist und mit der damit zusammenhängenden Kultur, mit Edelsinn, Handels- znd Gotteskenntnis und Tugend, diese weißen Eigenschaften auf andere Weise anwenden könnte als die, die in Hautfarbe und Seelenvollkommenheit weniger bevoruzgt sind, bis jetzt von dieser Seite erlebt haben.

Meine Hoffnung auf Mitgefühl geht indes nicht so weit, daß ich bei der Beschreibung, wie man den letzten Büffel aus dem »Kendang« holt, bei hellem lichten Tage, ohne Scham, unter dem Schutze der niederländischen Macht, wenn ich erzähle, wie der Eigentümer und seine weinenden Kinder hinter dem geraubten Rinde her laufen, wie sie auf der Treppe des Räubers niedersitzen, sprachlos und wesenlos und in Schmerz versunken, wie man ihn wegjagt mit Hohn und Spott, unter Bedrohung mit Stockschlägen und Blockgefängnis – sieh, ich verlange nicht, noch erwarte ich, daß ihr davon in gleicher Weise ergriffen sein solltet, als ob ich das Los eines Bauern schilderte, dem man seine Kuh nähme. Ich verlange keine Thräne bei den Thränen, die über die dunklen Gesichter fließen, noch auch edlen Zorn, wenn ich von der Verzweiflung der Beraubten spreche. Ich erwarte auch nicht, daß ihr aufspringen sollt und mit meinem Buche in der Hand zum Könige gehen, und sagen: »Sieh, o König, das geschieht in deinem Reiche, in deinem schönen Reiche Insulinde!«

Nein, das erwarte ich alles nicht. Zu viel Leid in eurer nächsten Nähe erschüttert euer Gefühl, um so viel Gefühl übrig zu haben für fernen Kummer. War es nicht gestern matt auf der Börse? Droht nicht etwas, was eine Baisse im Kaffeemarkt bringen könnte?


* * *


»Schreiben Sie doch bloß solche sinnlose Dinge nicht an Ihren Papa, Stern!« habe ich gesagt, und vielleicht etwas dringend, denn ich kann nun einmal Unwahrheit nicht leiden das ist immer ein festes Prinzip von mir gewesen. Ich hahe diesen Abend sofort an den alten Stern geschrieben, daß er sich beeilen solle, und sich in acht nehmen vor falschen Berichten.[226]

Der Leser kann mir nachfühlen, was ich beim Anhören dieser letzten Kapitel wieder ausgestanden habe. Jetzt habe ich im Kinderzimmer ein »Einsiedler-Spielchen« gefunden, und das nehme ich von jetzt ab mit auf den Theeabend. Hatte ich nicht recht, daß der Shawlmann alle mit seinem Paket verrückt gemacht hat? Sollte man in all dem Geschreibsel von Stern – und Fritz ist auch dabei, das ist sicher – junge Leute erkennen, die in einem würdigen Hause erzogen werden? Was sind das für dumme Ausfälle gegen eine Krankheit, die sich in Sehnsucht nach einem Landsitz äußert? Ist das auf mich gemünzt? Soll ich nicht nach Driebergen gehen, wenn Fritz Makler ist? Und wer spricht in Gesellschaft von Frauen und Mädchen von Bauchweh? Es ist ein festes Prinzip von mir, stets ruhig und ernst zu bleiben, denn ich halte das für nützlich für die Geschäfte, aber ich muß bekennen, daß es mir oft Mühe kostete, wenn ich alle die Narrheit, die Stern vorliest, anhören muß. Was will er denn? Was soll das Ende sein? Wann kommt er zu etwas Vernünftigem? Was geht es mich an, ob dieser Havelaar seinen Garten sauber hält, und ob die Menschen von vorn oder von hinten zu ihm kommen? Bei Büsselinck & Waterman muß man durch einen engen Gang, neben einem Öllager, wo es immer schmutzig ist. Und dann das Geschwätz über die Büffel. Was brauchen sie Büffel zu haben, die Schwarzen? ... Ich habe nie einen Büffel gehabt und bin doch zufrieden; es giebt Menschen, die klagen immer. Und was das Schimpfen auf gezwungene Arbeit angeht, da sieht man wohl, daß er die Predigt von Pastor Wawelaar nicht gehört hat. Sonst wüßte er wohl, wie nützlich das Arbeiten für die Ausbreitung des Reiches Gottes ist. Freilich, er ist lutherisch.

Ja, gewiß, wenn ich das gewußt hätte, wie er das Buch schreiben würde, das so wichtig werden muß für alle Makler in Kaffee ... und andere – ich hätte es lieber selbst gethan. Aber er hat eine Stütze bei den Rosemeyers, die in Zucker machen, und das hebt ihn so. Ich habe geradeweg gesagt, denn ich bin aufrichtig in diesen Dingen, daß wir die Geschichte von dem Saïdjah wohl entbehren könnten. Aber da begann mit einem Mal Luise Rosemeyer gegen mich aufzustehen. Wahrscheinlich hat Stern ihr gesagt, daß da etwas von Liebe drin vorkommen wird, und auf so etwas sind die jungen Mädchen rein toll. Das hatte mich indes nicht abgeschreckt, aber die Rosemeyers haben mir gesagt, daß sie gern mit Sterns Vater Bekanntschaft anknüpfen möchten.[227] Das ist natürlich, um durch den Vater an den Oheim zu kommen, der in Zucker macht. Wenn ich nun zu stark die Partei des gesunden Menschenverstandes gegen den jungen Stern ergriffe, könnte es so aussehen, als ob ich ihn von ihnen entfernen wollte, und das ist durchaus nicht der Fall; denn sie machen ja in Zucker.

Ich begreife überhaupt Stern nicht mit seinem Geschreibsel. Unzufriedene Menschen giebt es überall, und schickt es sich nun für ihn, der so viel Gutes in Holland genießt – diese Woche erst hat ihm meine Frau Kamillenthee gekocht – auf die Regierung zu schimpfen? Will er damit die allgemeine Unzufriedenheit schüren? Will er General-Gouverneur werden? Verrückt genug ist er dazu – es zu wollen, meine ich. Ich fragte ihn vorgestern, und sagte dabei, daß sein Holländisch noch so mangelhaft wäre. »O, das macht nichts,« antwortete er, »es scheint selten ein General-Gouverneur hingeschickt zu werden, der die Landessprache versteht.« Was soll ich mit so einem Naseweis anfangen? Er hat nicht den geringsten Respekt vor meiner Erfahrung! Als ich ihm diese Woche sagte, daß ich schon siebzehn Jahre Makler wäre und schon zwanzig Jahre die Börse besuche, führte er Büsselinck & Waterman an, die schon achtzehn Jahre Makler sind, und, sagte er, »dann haben die also noch ein Jahr Erfahrung mehr.« So hatte er mich gefangen, denn ich muß zugeben, weil ich die Wahrheit liebe, daß Büsselinck & Waterman wenig vom Geschäft verstehen, und daß es Pfuscher sind.

Marie ist auch in dem Wirrwarr drin. Stellen Sie sich vor, daß sie diese Woche – sie war dran, beim Frühstück vorzulesen, und wir waren bei der Geschichte von Lot – auf einmal innehielt und nicht weiter lesen wollte. Meine Frau, die ebenso sehr wie ich auf Religion hält, versuchte sie mit Milde zum Gehorsam zurückzuführen, weil es doch für ein sittig Mädchen sich nicht paßt, so störrisch zu sein. Alles vergebens. Da mußte ich sie nun als Vater mit großer Strenge zurechtweisen, weil sie durch ihre Hartnäckigkeit die Erbauung beim Frühstück störte, was stets auf den ganzen Tag nachteilig wirkt. Aber es war nichts zu machen, und sie ging sogar so weit, daß sie sagte, sie wolle sich lieber totschlagen lassen als weiter lesen. Ich habe sie darauf mit drei Tagen Stubenarrest bei Kaffee und Brot gestraft, und denke,[228] das wird ihr gut thun. Um aber die Strafe zu moralischer Besserung auszunutzen, habe ich ihr aufgetragen, das Kapitel das sie nicht lesen wollte, zehnmal abzuschreiben, und ich bin hauptsächlich deswegen mit solcher Strenge vorgegangen, weil ich gemerkt habe, daß sie in der letzten Zeit – ob es von Stern kommt, weiß ich nicht – Begriffe angenommen hat, die mir für die Moral gefährlich scheinen, und darauf halten meine Frau und ich sehr. Ich habe sie unter anderem ein französisches Liedchen singen hören – von Béranger, glaube ich – in dem er ein altes armes Bettelweib beklagt, das in ihrer Jugend auf dem Theater sang, und gestern beim Frühstück war sie ohne Korsett – Marie meine ich – was doch nicht anständig ist.

Auch muß ich bekennen, daß Fritz wenig Gescheites von der Betstunde heimgebracht hat. Ich hatte mich ordentlich gefreut, weil er in der Kirche so still saß. Er rührte sich nicht und verwendete kein Auge von der Kanzel; aber später hörte ich, daß Betsy Rosemeyer vorn in dem umfriedeten Raum gesessen hatte. Ich habe nichts darüber gesagt, denn man muß mit jungen Leuten nicht allzu streng sein, und die Rosemeyers sind ein anständiges Haus. Sie haben ihrer ältesten Tochter, die mit Brüggemann, in Drogen und Parfümerien, verheiratet ist, etwas ganz Hübsches mitgegeben, und darum glaube ich, daß so etwas Fritz vom Westermarkt fernhält, und das ist mir angenehm, denn ich bin für Moral.

Aber das hindert nicht, daß es mich sehr verdrießt, wenn ich sehen muß, wie Fritz sein Herz verhärtet, wie Pharao, der weniger schuldig war, denn er hatte keinen Vater, der ihm fortwährend den rechten Weg zeigte, von dem alten Pharao steht in der Schrift nichts. Pastor Wawelaar klagte über seine Anmaßlichkeit – Fritzens, meine ich – in der Religionsstunde, und er scheint – auch wieder aus dem Paket von Shawlmann – eine Naseweisheit aufgeschnappt zu haben, die den gemütlichen Wawelaar ganz toll macht. Es ist rührend, wie der würdige Mann, der manchmal bei uns Kaffee trinkt, bei Fritz auf das Gefühl zu wirken versucht, und wie der schlimme Junge immer wieder neue Fragen bereit hat, die die Widerhaarigkeit seines Gemüts zeigen. Alles kommt aus dem verfluchten Paket von Shawlmann. Mit Thränen des Gefühls auf den Wangen trachtet der eifrige Diener des Evangeliums ihn zu bewegen, abzusehen von der Weisheit nach den Menschen, um eingeführt zu werden in die Geheimnisse der Weisheit Gottes. Mit Milde und Sanftmut redet[229] er ihm zu, doch nicht zu verwerfen das Brot des ewigen Lebens, und so zu fallen in die Klauen des Satans, der mit seinen Engeln das Feuer bewohnt, das ihm bereitet ist bis in Ewigkeit. »O!« sagte er gestern – Wawelaar, meine ich – »o junger Freund! öffne doch die Augen und die Ohren, und höre und siehe, was der Herr dir zu hören giebt und zu sehen durch meinen Mund. Blicke hin auf die Zeugnisse der Heiligen, die gestorben sind für den wahren Glauben. Siehe Stephanus, wie er niedersinkt unter den Steinwürfen, die ihn zerschmettern, wie noch sein Blick gegen Himmel strebt und wie seine Zunge noch lobsinget ...«

»Ich hätte lieber wieder geschmissen,« sagte Fritz darauf. Leser, was soll ich mit dem Jungen anfangen?

Einen Augenblick später begann Wawelaar wieder; denn er ist ein eifriger Knecht und läßt nicht ab von der Arbeit. »O!« sagte er, »junger Freund, öffne doch ...« (Anrede wie oben.) »Kannst du gefühllos bleiben, wenn du daran denkst, was aus dir werden soll, wenn du einmal gerechnet wirst zu den Böcken der Linken ...?«

Da brach der Taugenichts in lautes Lachen aus ... Fritz meine ich – und Marie lachte auch. Sogar auf dem Gesicht meiner Frau vermeinte ich etwas zu merken, was nach einem Lächeln aussah. Da aber bin ich Wawelaar zu Hilfe gekommen, ich habe Fritz mit einer Buße aus seiner Sparbüchse gestraft, zahlbar an die Missionsgesellschaft.

Das alles aber greift mich sehr an. Und man sollte, bei solchen Sorgen, sich unterhalten können, wenn man Geschichtchen über Büffel und Javanen hört? Was gehen mich die Geschäfte der Menschen in der Ferne an, wenn ich fürchten muß, daß Fritz durch seinen Unglauben meine eigenen Geschäfte verderben wird, und daß er nie ein ordentlicher Makler werden wird? Denn Wawelaar hat selbst gesagt, daß Gott alles so regiert, daß Rechtssinn zum Reichtum führt. »Sehen Sie,« sagte er, »ist nicht viel Reichtum in Niederland? Das kommt durch den Glauben. Ist nicht in Frankreich fortwährend Mord und Totschlag? Das ist, weil sie da katholisch sind. Sind nicht die Javanen arm? Es sind Heiden. Je länger die Holländer mit den Javanen umgehen, desto mehr Reichtum soll hierher kommen, und desto mehr Armut dorthin.«

Ich stehe erstaunt über Wawelaars Einsicht in die Geschäfte. Denn das ist die Wahrheit, daß ich, der fest in der[230] Religion ist, meine Geschäfte sehe vorwärts gehen von Jahr zu Jahr, und Büsselinck & Waterman, die sich weder um Gott noch seine Gebote kümmern, werden Pfuscher bleiben ihr lebelang. Auch die Rosemeyers, die in Zucker machen und ein katholisches Dienstmädchen haben, mußten neulich wieder 27 Prozent annehmen aus der Konkursmasse eines Juden, der pleite war. Je mehr ich nachdenke, desto weiter komme ich in der Erkenntnis von Gottes unerforschten Wegen. Kürzlich ist es herausgekommen, daß wieder dreißig Millionen reichlich gewonnen sind bei dem Verkauf von Produkten, die die Heiden geliefert haben, und dabei ist nicht mitgerechnet, was ich noch darauf verdient habe, und die anderen, die von diesen Geschäften leben. Ist das nun nicht, als ob der Herr sagte: »Siehst du, dreißig Millionen zur Belohnung für euren Glauben!« Ist das nicht der Finger Gottes, der den Bösen arbeiten läßt, um den Rechtschaffenen zu erhalten? Ist das nicht ein Wink, um weiter zu gehen auf dem guten Wege, und da drüben viel wegbringen zu lassen, und hier festzustehen im wahren Glauben? Heißt es nicht »bete und arbeite«, damit wir beten sollen, und die Arbeit verrichten lassen durch das Volk, das kein Vaterunser kennt?

O, wie hat Wawelaar recht, wenn er Gottes Joch sanft nennt! Wie leicht wird die Last jedem gemacht, der glaubt! Ich bin eben in den Vierzigen, und wenn ich wollte, könnte ich ausscheiden und nach Driebergen gehen, und nun sieh, wie es mit den anderen geht, die den Herrn verließen. Gestern habe ich Shawlmann mit seiner Frau und seinem Jungchen gesehen: sie sahen aus wie Gespenster. Er ist blaß wie der Tod, seine Augen stehen heraus, und seine Wangen sind hohl. Seine Haltung ist gebogen, und dabei ist er jünger als ich. Auch sie war sehr armselig angezogen, und sie schien wieder sehr geweint zu haben. Ich habe ja gleich gemerkt, daß sie von Natur unzufrieden ist: ich brauche jemand bloß einmal zu sehen, um ihn zu beurteilen, das kommt von der Erfahrung. Sie hatte ein dünnes Mäntelchen von schwarzer Seide, und es war doch recht kalt. Von Krinoline keine Spur, ihr leichtes Röckchen hing schlaff um die Knie, und am Rande war es ausgefranst. Er hatte selbst seinen Shawl nicht mehr um, er sah aus, als ob es Sommer wäre. Aber er scheint noch eine Sorte von Dünkel zu besitzen, denn er gab der armen Frau etwas, die auf der Schleuse saß (Fritz sagt: Brücke, aber was von Stein ist, ohne Aufzug, nenne ich Schleuse), und wer selber so wenig hat thut Sünde, wenn[231] er noch an andere etwas verschenkt. Überhaupt, ich gebe nie auf der Straße, das ist ein Prinzip von mir, denn ich sage stets, wenn ich so arme Leute sehe: wer weiß, ob es nicht ihre eigene Schuld ist, und ich mag sie nicht fördern in ihrer Verkehrtheit. Sonntags gebe ich zweimal: einmal für die Armen, einmal für die Kirche. So gehört sich's. Ich weiß nicht, ob Shawlmann mich gesehen hat, aber ich ging schnell vorbei und sah nach oben und dachte an Gottes Gerechtigkeit, die ihn doch nicht so laufen ließe, ohne Winterjacke, wenn er besser aufgepaßt hätte, und nicht faul, schwerfällig und kränklich wäre.

Was nun mein Buch betrifft, so muß ich wirklich den Leser um Entschuldigung bitten wegen der unverzeihlichen Art und Weise, wie Stern unseren Kontrakt mißbraucht. Ich muß bekennen, mir graut schon vor dem nächsten Gesellschaftsabend und der Liebesgeschichte von diesem Saïdjah. Der Leser weiß schon, welche gesunden Begriffe ich über Liebe habe; man denke nur an mein Urteil über die Landpartie nach dem Ganges. Daß junge Mädchen so etwas nett finden, verstehe ich, aber daß Männer von Jahren solche Dummheiten ohne Ekel anhören, ist mir unerklärlich. Ich bin sicher, daß ich am nächsten Gesellschaftsabend den »Triolett« von meinem Einsiedlerspiel finde.

Ich will versuchen, von diesem Saïdjah nichts zu hören, und ich hoffe, daß er sich bald verheiraten wird, wenn er der Held der Liebesgeschichte ist. Es ist wenigstens noch brav von Stern, daß er gleich gewarnt hat, weil es eine eintönige Geschichte ist. Wenn er nachher wieder etwas anderes anfängt, will ich wieder zuhören. Aber diese Angriffe auf die Regierung ärgern mich beinahe ebenso sehr wie die Liebesgeschichte. Man sieht aus allem, daß Stern jung ist und keine Erfahrung hat. Um die Geschäfte gut zu beurteilen, muß man alles aus der Nähe sehen. Als ich heiratete, bin ich selbst im Haag gewesen und habe das Mauritshuis besucht mit meiner Frau. Ich bin mit allen Ständen der Gesellschaft in Berührung gekommen, denn ich habe den Finanzminister vorbeifahren gesehen, und wir haben zusammen Flanell gekauft in der Veenestraat – ich und meine Frau, meine ich – und nirgends habe ich das geringste Zeichen gespürt von Unzufriedenheit mit der Regierung. Die Jüffrouw in dem Laden sah zufrieden und wohlsituiert aus, und als dann achtzehnhundertsoundso einige uns weismachen wollten, daß im Haag nicht alles so wäre, wie es[232] sollte, habe ich auf dem Theeabend das Meine über die Unzufriedenheit gesagt, und sie gaben mir recht; denn jeder wußte, ich sprach aus Erfahrung. Auch auf der Rückreise mit der Post hat der Postillon »Freut euch des Lebens« geblasen, und das hätte er wohl nicht gethan, wenn da so viel Verkehrtes wäre. So habe ich auf alles aufgepaßt, und wußte also, was ich zu denken hatte über das Murren im Jahre achtzehnhundertsoundso.

Und gegenüber wohnt eine Jüffrouw, deren Neffe einen Toko im Osten hat, wie sie da einen Laden nennen. Wenn da alles so schlecht ginge, wie Stern sagt, wüßte sie doch wohl auch etwas davon, und sie muß doch sehr zufrieden sein mit den Geschäften, denn ich höre sie nie klagen. Im Gegenteil, sie sagt, daß ihr Neffe auf einem Landsitz wohnt und daß er Mitglied des Kirchenrats ist, und daß er ihr eine Cigarrenkiste mit Pfauenfedern geschickt hat, die er selbst aus Bambus gemacht hat. Das zeigt doch alles deutlich, wie grundlos das Geklage über schlechte Regierung ist. Auch sieht man, daß für jemand, der aufpassen will, in dem Lande noch etwas zu verdienen ist, und daß der Shawlmann auch da schon faul, schwerfällig und kränklich gewesen ist, sonst wäre er wohl nicht so arm heimgekommen und müßte nicht ohne Winterjacke herumlaufen. Und der Neffe von der Jüffrouw ist der einzige nicht, der drüben sein Glück gemacht hat. In »Polen« sehe ich so viele, die dagewesen sind, und die ganz hübsch in Kleidern stecken. Aber das versteht sich, aufpassen muß man auf die Geschäfte da so gut wie hier. Auf Java werden die gebratenen Tauben keinem in den Mund fliegen ... es muß gearbeitet werden, und wer das nicht will, der ist arm und bleibt arm, das spricht von selbst.

Quelle:
Multatuli (Eduard Douwes Dekker): Max Havelaar. Halle a. d. S[aale] [o. J.], S. 218-233.
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