Fünfter Gesang.

[39] Rolla stand auf und trat zum Fenster rasch hinüber,

Da auf die Dächer er die Sonne steigen sah.

Der Wagen schwere Last zog träge schon vorüber.

Die bleiche Stirn gebeugt, so stand er wortlos da.

In lange Bäche Bluts zerfloß das Wolkenmeer –

So riß, als Jesus schrie, der Engel klagend Heer

In Fetzen seinen Flor mit all den blutigen Falten.


Ein Wandersängertrupp, recht grämliche Gestalten,

Sang auf dem öden Platz ein überlebtes Lied.

Wie alter Weisen Klang, die ng man wert gehalten,

In schwerer Stunde doch erst recht die Brust durchzieht!

Wie packen sie das Herz! Man fühlt die Zeit zurück,

Und – schaut man sie so alt, dann feuchtet sich der Blick.

Sind sie die Seufzer wohl des Dämons der Ruinen,

Und des Gedenkens Geist, schluchzt er denn nicht aus ihnen?

Wie Vögel zwitscherten sie hell in muntrer Hast

Durch reiner Kindeslust goldglänzenden Palast.

Sie wissen welke Blust noch einmal aufzufärben,

Und wie sie uns gewiegt, so gehn sie mit uns sterben.[40]

Da wandte Rolla sich und seine Augen trafen

Das Mädchen; müd und matt, war's wiederum entschlafen.

So flohen beide denn des Schicksals starre Not,

Das Kind durch seinen Schlaf, der Mann durch seinen Tod.


Sieht man zum schönen Tag im Herbst die Sonne steigen,

So scheint der Berge Schnee vor ihr das Haupt zu neigen;

Die silberweiße Stirn der wachgeschreckten Nacht

Umgießt ihr erster Kuß mit goldesroter Pracht.

Die keusche Jungfrau schrickt wohl so in sich zusammen,

Wenn in der Sommernacht ihr Herz zur Liebe reift,

Und der geheimste Wunsch, der sie mit Flügeln streift,

Macht ihre weiße Stirn in Scham so rot erflammen.

O Sonne! Weltenfürst! Dein Lieb ist diese Erde;

Ihr jüngrer Bruder hält sie schlummernd fest umschlungen;

Der Jugend Ewigkeit hast du dir ausbedungen,

Damit der Erde Glanz durch sie verewigt werde!


»Ihr Schwalben leichtbeschwingt, die dort ich fliegen sehe,

O sagt mir, sagt mir doch, weshalb ich sterben gehe!

Selbstmörder! – Ekles Wort! – O daß ich Flügel hätte,

Mit Schwalben flög' ich dann in Gottes Luft zu Wette!

Was soll dies Morgenrot? O Erde, Himmel, sprecht!

Was soll denn noch ein Tag der Welt, so alt, so schlecht?

Ihr grünen Rasen all, ihr dunklen Meere, sagt,

Wenn rot zum Horizont des Morgens Feuer steigt

Und ihr dabei nichts fühlt, was ihr in euch dann tragt,

Das schlagen macht ein Herz und starre Kniee beugt?

Wer hat dem Sonnengott dich, Erde, angetraut?

Wem gilt dein Vogelsang, dein Morgen, weiß bethaut?[41]

Was soll's, wenn jetzt dein Reiz mein Herz so heiß besteht?

Was soll das Alles mir – mir, der nun sterben geht!«


Warum denn Liebe auch? – Weshalb klang dieses Wort

In Rolla's Herz und Hirn erschauernd fort und fort?

Welch unsichtbarer Mund, welch ferne Stimme grollte

Dies Wort ihm ewig zu, jetzt, da er sterben sollte?


Warum gerade ihm, der wüst und sinnlos fast

Ein Leben Tag für Tag im Weinhaus hingepraßt;

Ihm, der dies Leben stets verachtet; jede Lieb'

Aus Laune oder Haß gehöhnt in Ernst und Scherz;

Für welchen dieses Wort stets Lüge hieß und blieb;

Der, wie ein Veteran euch zeigt vernarbten Schmerz,

Stolz lächelnd trug zur Schau sein steingeworden Herz,

Durch dessen Rinde nie das kleinste Blümlein trieb;

Gerade ihm, dem Mann, der ohne Weib und Herd,

Der unter freier Luft, dem Schicksal abgekehrt,

Mit seiner Jugend stets den Sturmwind spielen ließ,

Der wie ein gelbes Blatt vom dürren Baum sie riß.

Und jetzt, da dieser Mensch sein Glas zur Neige trank,

Auf dieses Sterbebett zum letzten Fluche sank,

Nachdem der Stunden Rest in Sünden er verbracht;

Jetzt, da ihm alles aus; schon nah die stete Nacht,

Den letzten Funken ihm des Lebens auszudüstern:

Wer wagt dem Sterbenden von Liebe da zu flüstern?


Wenn sich der junge Aar zum Rand des Nestes hebt,

Indeß er starren Aug's die Mutter scheiden sieht,

Wer hieß es ihm, wenn er von hinnen plötzlich schwebt

Und durch die Luft sich schwingt, die blauend ihn umzieht?[42]

Er schloß die Fänge nie und brauchte nie die Schwingen.

Wer spricht da Mut ihm ein, beschwört ihm das Gelingen?

Er fühlt, er ist ein Aar – es lockt der Wind – er steigt.


Der Adler lebt empor im gleichen Sonnenstrahl,

In dem der Wurm ersteht, der Hund und der Schakal,

Die in dem Kot vergehn, der ihre Mütter zeugt,

Den Bauch gestrotzt vom Heer der ekelschwangern Eier.

Doch schafft sich die Natur nur deshalb solche Last,

Da deren sie bedarf zu ihrer Felder Mast,

Zu ihrer Schätze Fund, zur Nahrung ihrer Geier.


Wenn aber die Natur an einem Liebling werkt,

Sie, die von oben schaut, wie man im Staube hudelt,

Nützt ein Geheimniß sie, das ihren Schöpfling stärkt,

Daß selbst die ganze Welt ihn nimmer ihr besudelt.

Je seltener die Art, je fester sind die Normen.

Taucht die Natur sie auch in ihrer Sümpfe Schwärze,

So weiß sie doch zu wohl, daß an Carrara's Erze

Des Himmels Thräne selbst niemals entklärt die Formen.


Der Mensch, dem die Natur aus ihren besten Erden

Die allerbeste Form gebaut mit sichrer Hand,

Kann selbst drei Jahre lang zum eklen Wüstling werden,

Ersticken mit Gewalt des Geistes hellen Brand –

In seines Herzens Nacht entrollt die kalte Schlange

Der Ringe Tausendzahl doch über kurz und lange.


Domingo's schwarzes Volk, nach wieviel bangen Wochen,

In Stumpfsinn hingekeucht mit wutverbissner Lippe,

Hat deiner Kinder Heer den Freiheitsraub gerochen

Und seiner Fesseln Haft am Ende doch gebrochen,[43]

Gleichwie ein jäher Sturm, an seines Hasses Klippe?

So lohte heut dein Geist aus seinem Aschenbette,

So sprang heut schrillen Klangs, o Rolla, deine Kette,

Und die Erinnerung mit hellem Brande schwirrt

Durch all das Wüstenland, das taumelnd du durchirrt.


Ersticke immer nun des Lebens letzten Funken,

Tanze mit nacktem Fuß auf den zerschellten Flaschen,

Und in dem letzten Toast, zum letztenmale trunken,

Magst du das weite Nichts mit schlaffen Armen haschen!

Das Nichts! Sein Schatten – sieh – wie er sich weiterspinnt –

Und mehr und immer mehr der Sonne Klarheit trübt –

Er wächst und sie erlischt. die Ewigkeit beginnt –

Und niemals liebst du mehr, du, der noch nie geliebt!


Bleich drückte Rolla nun das Fenster zu. Ihm bebte

Die Hand, als er vom Stock ein kleines Blümchen brach.

»Ich liebe,« sprach es laut, »und sterbe, glühend, ach,

Vom Kuß des Zephyrs noch, der mich ja auch belebte.

Was unrein war an mir und meinen Glanz entweihte,

Das haucht' ich ängstlich aus, um mich für ihn zu schmücken,

Der mir die Stirn geküßt in meinem Purpurkleide.

Magst nun entfalten mich, und mir das Herz zerdrücken!«


Ich liebe – heißt das Wort, das laut die ganze Welt

In alle Winde schreit, die es zum Himmel tragen.

Wenn unsre Erde einst in's alte Nichts zerfällt,

Wird dumpf noch dieses Wort ihr letzter Seufzer klagen.

Ihr murmelt es ja auch in euren reinen Höhen,

Ihr Fackeln Morgenlichts, dies traurig süße Wort!

Die zarteste von euch, da Gott euch ließ entstehen,[44]

Schwang durch des Aethers Plan in heißer Glut sich fort.

Des Mittags hellen Stern, den ewig jungen Gatten

Zu suchen, irrte sie durch all des Weltalls Schatten.

Ein eifersüchtiger Stern hat sich ihr nachgestohlen;

Die andern zogen aus, die beiden heimzuholen.


Rolla stand regungslos und schaute auf Marie.

Was hatte dieses Weib in ihren Zügen nur,

So fremd, und wieder nicht, so ein »ich weiß nicht wie« –

Ihn überlief ein Frost, wie er's noch nie erfuhr.

Die Dirne da, war denn nicht seine Schwester sie?

Dies traurige Gemach, war über Jahr und Tag

Es denn nicht auch bestimmt zu ihrem Sterbezimer?

Und hörte er nicht schon der Kranken leis Gewimmer,

Verblutend an dem Weh, an dem er selbst erlag?


»O diesem süßen Bau, der kleinen zarten Hütte

Naht der Verfall sich schon, wenn auch mit trägem Schritte.

Ja, Schwester bist du mir – und meine Kirchhofsäule,

Die bleich und regungslos am offnen Grab ich finde,

Vom Schlafe leicht umflort, indeß ich niedereile.

Marie erwache nicht! – Dein Wachen ist die Sünde,

Jedoch dein Schlaf ist rein – dein Schlaf ist deine Tugend.

Ihm gilt es, wenn ich nun der Wimpern Netz dir küsse;

Er ist es, armes Kind, den ich zum Abschied grüße;

Er, der noch nicht verkauft das Kleid der keuschen Jugend;

Er, den ich lieben kann, da ich ihn nicht bezahlt!

Er, der im Traum noch glaubt an Kindheit und an Tugend,

Und der mit dir, Marie, nichts theilt, als die Gestalt.[45]

Mein Gott! Muß diese Form man nicht für himmlisch halten?

Wie fließt sie schmiegsam weich durch all des Linnens Falten!

Wenn Liebe wie ein Schwan, der durch die Wogen taucht,

Das schwärmerische Lied zu schmücken, mehr nicht braucht,

Als an der Wirklichkeit die göttliche Kontour,

Und von der Schönheit stets den äußern Schimmer nur;

Wenn Liebe, die man täuscht ohn Unterlaß auf Erden,

Und die das weiß, ewig, aus Furcht geheilt zu werden,

An ihrem Götzenbild die Illusion allein

Sich ängstlich wahren muß, um ja nur krank zu sein –

Was such' ich dann umher? Der Jugend warme Wahrheit,

Liegt sie denn nicht vor mir in ihrer schönsten Klarheit?

Liebe! Hier hast du mich! – Was kümmert dich Marie?

Wenn du ein Duft nur bist, magst du mein Herz umziehen,

So lang am Stocke noch die Blume ist im Blühen.«


Sanft legte Rolla sich auf's Lager zu Marie,

Und Wang an Wang, so daß der laue Hauch sich einte;

Sein müdes Auge schwamm, als ob es Thränen weinte,

Dann flammte es empor und dann erlosch es wieder.

Marie erseufzte tief und hob die schweren Lider.

»Ich hatte,« sprach sie dann, »gar einen eignen Traum.

Da lag ich – hier im Bett, jedoch ich schlief nicht mehr.

Ein Kirchhof, tief und breit, so schien mir dieser Raum,

Von Knochen weiß besät der Gräber schwarzes Heer.

Es trugen durch den Schnee drei Männer einen Sarg

Und setzten ihn dann ab, um ihr Gebet zu sprechen.

Die Bahre schloß sich auf – du warst es, den sie barg.

Ich sah ein schwarzes Blut aus deiner Stirne brechen,[46]

Plötzlich erhobst du dich, tratst an das Lager hier,

Erfaßtest meine Hand und murmeltest zu mir:

Was treibst denn du dahier und nimmst den Platz mir ab?

Da schaut' ich um mich her – ich lag – auf einem Grab.«


Und Rolla meinte drauf: »Mein süßer Schatz – ach gar –

Dein Traum ist, wenn nicht schön, zum mindesten recht wahr.

Willst du das wieder sehn, so hast du nicht vonnöten,

Daß du erst lange träumst. Ich will mich heute tödten!«


Da lächelte Marie und sandte einen Blick

Zum Spiegel. Rolla's Bild warf dieser bleich zurück.

Da wurde ihr Gesicht noch blässer als das seine.

»Was ist nur heut mit dir?« so frug sie dann verwirrt.

»Was mit mir ist?« sprach er – »beim Himmel, liebe Kleine,

Weißt du denn nicht, daß ich seit heute Nacht ruinirt?

Das weiß ja alle Welt! – Drum muß ich sterben gehen,

Und kam die Nacht hieher, noch einmal dich zu sehen.«

»Ja hast du denn gespielt?« – »O nein, ich bin ruinirt!«

»Ruinirt?« frug sie; und wie zur Statue gerührt,

Ließ sie den vollen Blick starr auf der Decke ruhn –

»Ruinirt? Ruinirt? Hast du denn keine Mutter? Hör!

Verwandte? Keinen Freund? Auf Erden niemand mehr?

Und tödten willst du dich? Weshalb willst du es thun?«


Vom weichen Kissen hob plötzlich das Haupt Marie,

Und süßer glomm ihr Blick als wie in allen Tagen.

Es bebte ihr der Mund im Drang von tausend Fragen,

Doch keine wurde laut – nur schluchzend neigte sie

Ihr Angesicht auf seins zu einem langen Kuß. –

»Jakob – zürnst du, wenn ich um etwas bitten muß?«[47]

So schluchzte sie – »du weißt, Jakob – Geld hab ich nie –

Denn was du mir auch gabst, nahm mir die Mutter ab –

Jedoch – dies Halsband hier – 's ist Gold – soll ich's verkaufen?

Du nimmst das Geld und spielst – laß, Jakob – ich will laufen ....«


Ein mattes Lächeln war die Antwort, die er gab;

Drauf zog ein Fläschchen er hervor, trank's langsam leer,

Neigte sich über sie und küßte ihren Schmuck.

Dann sank auf ihre Brust sein Haupt mit leisem Druck –

Und als Marie es hob, da war es kalt und schwer.

Durch diesen keuschen Kuß ließ er die Seele scheiden,

Und, einen Augenblick, hatten geliebt die Beiden.[48]

Quelle:
Alfred de Musset: Rolla. Wien 1883, S. 39-49.
Lizenz:

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