Ein und vierzigstes Kapitel
Unaufgelößte Räthsel

[277] Man entschuldige das Unvollständige in der Beschreibung der letzterwähnten Scenen! Wenig oder gar nichts von gewissen Dingen sagen, ist oft die treffendste Schilderung. Dieses gilt auch von meinen Empfindungen bey Hannchens Sterbebette, und von meinem Leben die erste Zeit nach ihrem Tode. Jener Mahler, der Iphigeniens Aeltern bey ihrer Hinopferung, in dichte Gewänder verhüllt erscheinen ließ, wußte das, was ich fühle, daß älterlicher Schmerz für jeden Pinsel unerreichbar ist.

Ich saß, nachdem schon manche schwarze, melancholische, thränenleere Stunde vorüber geflohen, manche lindernde Zähre verweint war, eines Tages auf dem Zimmer der Verstorbenen, und machte mir ein trauriges Fest, aus der Betrachtung ihrer hinterlassenen, zum Theil unvollendeten Arbeiten, die sie von den künstlichsten Arten sehr schön verfertigte, und einiger wenigen Scripturen, die meistens ernsthafte Dinge zum Gegenstand hatten, und noch vor ihrem Aufenthalte in dem Wilteckischen Hause von ihr verfaßt worden waren; ihre Kränklichkeit hatte ihr nach ihrer Rückkunft, wenig Muße zum schreiben gegönnt.[277]

Von ohngefähr stieß ich auf eine kleine Kassette, die mir von langer Zeit als das Behältniß von Hannchens liebsten Kostbarkeiten bekannt war. – Vielleicht würde ich es uneröfnet bey Seite gesetzt haben, wenn mich nicht ein darauf befestigter Zettel aufmerksam gemacht hätte. Er war von der Hand der Verstorbenen, und enthielt folgendes:

»Liebe Mutter!

Ein geheimes Gefühl sagt mir, daß ich sterben werde; sollte dieses geschehen, und sollten sie dieses Kästchen unter meinen Sachen finden, so bitte ich, so beschwöre ich sie, es uneröfnet zu lassen, und derjenigen Person zu geben, die ich ihnen nennen werde.

Ich erwarte gegen das Ende des künftigen Monats, den Besuch der Madam Kathin, der Wirthschafterinn der Frau von Wilteck; geben sie ihr dieses kleine Behältniß der geringen Kostbarkeiten die ich besitze; es enthält etwas weniges an Geld, einige Juwelen, und andere kostbare Tändeleyen, deren Werth sie berechnen können, da ich sie alle von Ihrer Güte habe. Die Frau ist redlich, und wird mit diesen Dingen so verfahren wie ich ihr befohlen habe. Aber – liebe Mutter, ich wünschte eben nicht, daß sie sich mit ihr in weitläuftige Unterredungen einliessen; diese Art Leute ist so geschwätzig, so – ich weiß selbst nicht wie ich sagen soll, wie leicht könnten sie etwas von ihrem Hannchen hören,[278] das sie ihnen noch im Tode zuwider machte. Ueberhaupt, da sie nun immer so in mich dringen ein Geheimniß von mir zu erfahren, so würde ich doch – vorausgesetzt daß ich eins hätte – es lieber Ihnen selbst – ach ich weiß nicht, was ich schreibe. Ich werde wohl diesen Zettel, so wie die vorhergehenden, wieder abreissen, und einen andern schreiben. Nichts ist mir recht, was ich Ihnen sage, und meine Angst ist unaussprechlich.«

Ich weiß nicht wie oft ich dieses Blatt überlas, ehe ich den Inhalt davon recht begreifen konnte. Ich untersuchte das darunter gesetzte Datum, es war der 4. Jenner, als der Tag vor dem Besuche des Obristen, an welchem die Zeitung von Wiltecks Reise nach Amerika, einen so nachtheiligen Eindruck auf das Gemüth des armen Mädchens machte. Nachher war sie zu schwach gewesen, so viel schreiben zu können. – Meine Gedanken drehten sich in einem Wirbel herum, ich dachte mir alle auf diesen Tag folgende Scenen, dachte mir ihr ängstliches Bestreben in ihren letzten Stunden, mir etwas zu entdecken, das sie auf dem Herzen hatte, und ihre Bitte, nicht in das Innere ihres Geheimnisses zu dringen, war meinen Gedanken nach aufgehoben. Das Schloß des Kästchens war zersprengt, ehe ich selbst dar an dachte, und alles was es enthielt, lag offen vor meinen Augen.[279]

Ich griff hastig nach einigen Papieren, welche oben auf lagen, ich las einige Zeilen, die mich in Erstaunen setzten; ich wollte weiter gehen, aber ein Geräusch an der Thür machte mich aufmerksam.

Sie ward geöfnet; Julchen trat herein, und führte an ihrer Hand einen jungen Menschen im leinenen Kittel, mit einem Hute, der mit einer Kokarde geziert war. Er sah mich eine Weile schüchtern an, warf sich dann mir zu Füßen, und schrie mit einer von Schluchzen unterbrochenen Stimme: Mutter! Mutter! kennen sie ihren verlohrnen Sohn, ihren Albert nicht mehr?

Quelle:
Benedikte Naubert: Die Amtmannin von Hohenweiler. Bdchen. 1–2, Band 2, Mannheim 1791, S. 7.
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