Viertes Kapitel
Samuel bleibt sich immer gleich

[40] Wir standen noch lange an der Thür unsers Hauses, und sahen Alberten nach, ohne zu bedenken, daß es Nacht war, und daß der schwache Schimmer des Mondes uns die Gestalt desjenigen, der sich von uns entfernte, kaum wie einen düstern Schatten zeigte. Auch dieser Schatten war uns lieb; bald verschwand er ganz vor unsern Augen, und wir kehrten traurig mit den Gedanken an die lange Trennung und das zweifelhafte Wiedersehen zurück. – Ich warf mich auf einen Stuhl und weinte, und Julchen schmiegte sich schmeichelnd an meine Seite. – Aber Himmel, fuhr ich auf einmal auf, Samuel, sollte es möglich seyn, daß Samuel lebte? Albert hat ihn gesehen, vielleicht nicht weit von hier gesehen? – O Himmel, so werde ich ihn auch sehen, ihn vielleicht bald sehen! Julchen, Julchen, meynst du wohl, daß ich diese Freude ertragen werde?

Diese Nacht und der folgende Tag vergiengen, ohne daß ich für etwas anders Gedanken hatte, als für Albert, für Samuel, und für ihre unglücklichen verführten Schwestern, an deren Lage ich nicht ohne Schrecken denken konnte. Das Andenken der Verstorbenen ward beynahe von der Sorge für die Lebendigen verschlungen. Hannchens[40] Zimmer ward verschlossen, ihre Kassette blieb unbesichtigt, ungeachtet das wenige, was ich von den darinnen enthaltenen Papieren gelesen hatte, hinlänglich war, meine ganze Aufmerksamkeit zu erregen. Die Gegenstände, die meine Seele beschäftigten, waren zu verschieden; kein Wunder, wenn mein Verstand darunter erlegen wär.

Meine Sorgen um die von mir getrennten unglücklichen Kinder war vergebens, mein Herz war des Kummers müde, es schmachtete nach einem Strahl von Freude, ich glaubte denselben in dem Wiedersehen meines auf ewig verlohren geglaubten Sohns Samuel zu erblicken, und die Vorstellung von dieser herrlichen Scene, die, wie ich glaubte, mir nahe bevorstand, behauptete jetzt den ersten Platz unter meinen Gedanken; sie stärkte mich gegen alles, was mich kränkte, und ich konnte nur dieses nicht begreifen, wo Samuel so lange verweilen müsse. Am siebenten Tage erhielt ich einen von seiner Hand überschriebenen Brief, ich erbrach ihn mit Zittern, und las folgendes:

»Nach einer langen Abwesenheit und mancher überstandenen Gefahr, eile ich in Ihre Arme, um Ihnen den Wahn von meinem Tode zu benehmen, in welchen sie vielleicht durch einige Umstände in meiner Geschichte gestürzt worden seyn könnten. Da fand ich in einem Städtchen von ihrer Nachbarschaft, meinen Bruder, meinen Albert – Himmel, in einer elenden Rekrutenkleidung, im Begrif aus Verzweiflung, nach Amerika[41] zu gehen. – O Mutter! Mutter! was ist aus ihren Kindern geworden! Albert aufs Aeußerste gebracht; Amalie und Jucunde auf dem Wege des Lasters; Johanne todt; und dieses, wie man sagt, aus Gram über den Verlurst ihrer Ehre; Peninna in dem Hause des abscheulichen Regierungsraths Berg, als seine deklarirte Mätresse. O Mutter! wo ist die Wachsamkeit für Ihre Kinder! es ist unmöglich, daß wir alle ohne Ihre Schuld so elend seyn können! Nein, ich kann, ich kann Sie nicht sehen! ich möchte mich vergessen, und meinen Mund zu Vorwürfen gegen die öfnen, die mich gebahr, die meinem Herzen noch immer so theuer ist. Sieben Tage bin ich in Ihrer Gegend herumgeschwärmt; der Trieb sie zu sehen und der Entschluß ihren Anblick zu meiden, kämpften lange mit einander; endlich behielt der letzte die Oberhand. Mein Bruder geht nach Amerika, ich will ihm folgen. Was verliere ich denn auch endlich in Europa? schwache weitaussehende Hofnungen? Hirngespinste von wiederkehrender Ruhe? Nein, ich kann unter diesem Himmel nicht ruhig werden. – Meine Anschläge sind zwar zum Theil geglückt, ich hätte vielleicht einige Aussichten auf Glück – – aber nein; meine Eltern, meine Geschwister sind unglücklich, sind mit Schande überhäuft; ich muß fliehen, muß alle diese Dinge zu vergessen suchen, ihr Anblick würde mir jedes Glück verbittern. Ach daß mein einiger bester Freund, mein Vater[42] in Traußenthal, nicht mehr ist! bey ihm könnte ich Rath und Trost finden. Leben Sie wohl, unglückliche Mutter, sorgen Sie wenigstens für Julchen und verzeihen Sie

Ihrem Sohn Samuel.«


Ja wohl unglücklich, schrie ich, unglücklich ohne Rettung! O Samuel ists nicht zu hart, mir alle mein Elend so vor die Augen zu mahlen, mich die Urheberinn desselben zu nennen? – – Ich bin unschuldig, Gott weis, ich bin unschuldig.

Ich weinte lange – – und fuhr endlich über den Gedanken an Peninnen auf. Peninna! schrie ich, in dem Hause des abscheulichen Regierungsraths? – warum abscheulich? ich kenne ihn auf keiner schlechten Seite. – Und sie seine erklärte Buhlerinn? – o Peninna, Peninna, sollte dieses wahr seyn, der Gram würde mich bald in die Grube bringen! – Ich war neben meinem Stuhl auf die Knie gesunken, Thränen badeten meine gefaltene Hände, ich jammerte und flehte zu Gott für meine arme Kinder! Ich musterte sie alle in meinen Gedanken, und schnell fiel Hannchens Name wie ein Stein auf mein Herz, Gott, schrie ich, sollte es wahr seyn, was Samuel von ihr sagt? – Muthmaßungen von dieser schrecklichen Sache hatte ich schon, und der Anfang jenes Briefs, den ich in ihrem Schmuckkästgen fand! – Ich muß Gewißheit haben, ich muß, und sollte mir es das Leben kosten.[43]

Ich eilte in das Zimmer der Verstorbenen, ich schloß die Thür hinter mir zu. Alles was das geheimnisvolle Kästgen enthielt, breitete sich vor mir aus, ich ergriff das Blatt, das ich schon einmal zu lesen anfieng, hielt es einige Zeit in der Hand, ohne den Muth zu haben, es anzublicken, und fand, als ich mich gefaßt hatte, folgendes.

Quelle:
Benedikte Naubert: Die Amtmannin von Hohenweiler. Bdchen. 1–2, Band 2, Mannheim 1791, S. 40-44.
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