Sechs und zwanzigstes Kapitel.

Abentheuer auf dem Kirchhofe.

[269] Man stelle sich Idas Empfindungen bey Lesung dieser traurigen Blätter vor! – Sie hatte die erhabene Leidende vor sich, von welcher sie handelten, sah die Züge des Grams und des hier beschriebenen Elends auf ihrem majestätischen Gesicht, kannte zum Theil die Urheber ihrer Leiden; was für Umstände eine Rührung bey ihr hervorzubringen, welche der kalte Leser nicht gefühlt haben kann!

Marie schien weniger von der Erinnerung an diese Dinge gelitten zu haben, das vornehmste ihres Kummers der Verlust ihrer Tochter und ihrer Freundinn war ja, wie ihr Ida versicherte, nur ein Traum gewesen, sie sollte ja diese Lieben wiedersehn! Liebe für den undankbaren Siegmund und Verdruß über die Erhebung ihrer Feindinn, waren durch die Zeit geschwächt worden, das vornehmste, was sie zu betrauren hatte, waren verlorne Jahre und geschwächte Kräfte des Geistes und des Körpers; Dinge, die sie in ihrer gegenwärtigen[269] Verfassung nicht lebhaft genug fühlte, um sich darüber zu grämen. Sie lag ruhig auf ihrem Bette, und tröstete die weinende Ida, welche oft die Schrift hinweglegen mußte, um ihren Thränen freyen Lauf zu lassen.

Ida hatte noch eine, noch manche verborgene Ursach Thränen zu vergießen, außer dem Mitleide gegen die, deren Geschichte sie eben gelesen hatte. Ihre Hoffnung zu Mariens, zu ihrer eigenen Rettung war weit schwächer, als sie sie der Königinn vorstellte.

Die Kranke war nicht so stark, als sie sich bey den neuen Empfindungen der Ruhe und der Hoffnung hielt. Bis zu dem Besuch der heiligen Nikola sollte noch mancher Tag verfließen. Es waren Zufälle möglich, die der Gräfinn allein bewußt waren, und die das ganze Gebäude ihrer Plane zerstören konnten, was für Stoff zu Besorgnissen für die bekümmerte Ida!

Indessen war Marie doch auch nicht ganz ohne Kummer. Die ängstliche Andacht, wie sie zu Sankt Annen gelehrt und von dem besseren Theil der Klosterfrauen geübt wurde, hatte die Begriffe der Königinn von Recht und Unrecht unendlich verfeinert, sie fing an sich Gedanken darüber zu machen, daß Ida durch sie ihren Stand erfuhr, nannte sich eine Eidbrüchige, und klagte über Verletzung ihres Gewissens![270]

Ida stellte ihr vor, daß sie eigentlich nichts gestanden habe, daß fast alles nur von ihr errathen worden sey. Und hättet ihr, setzte sie hinzu, hättet ihr es leugnen wollen, wer ihr seyd, wie ihr dennoch auch nicht ohne Gewissensverletzung hättet thun können, so würde ich doch bey meiner Meynung geblieben seyn, und jeden Schritt gethan haben, den ich jetzt thun werde. – Glaubt ihr, daß eure zärtliche Freundinn, die Fürstinn Gara, nicht auf die kleinste Möglichkeit euch zu treffen herbey geeilt seyn, und euch erkannt haben würde? würde das Herz eurer Tochter, wenn man sie zu euch gebracht hätte, ihr nicht den Namen ihrer Mutter genannt haben? – Und Herzog Albrecht, euer künftiger Sohn, der so sehr um euch besorgt ist, würde er nicht, ihr hättet gestehen oder leugnen mögen, Himmel und Erde bewegt haben, euch wieder in eure Rechte einzusetzen und eure Feindinn zu stürzen?

Mich in meine Rechte einzusetzen? Barbara zu stürzen? rief die Königinn. Nein Ida, das verlange ich nicht, es wär sündlich es zu verlangen, denn hierauf habe ich in meinem Eide vornemlich Verzicht gethan. Auch ist die Liebe für Siegmund zu sehr erloschen, der Haß gegen meine Feindinn zu sehr durch Dankbarkeit gegen Gott meinen Retter getilgt, als daß ich diese beyden trennen[271] sollte. Könnte mich etwas dazu bewegen, so wär es Sorge für Siegmunds Glück, welcher unbesorgt an der Seite einer Tiegerinn ruht, und endlich auch von ihr könnte zerfleischt werden. Doch nein, Barbara liebt ihn, beging ihm zu Liebe so manches Verbrechen, wie sollte sie ihr eigenes Gebäude zerstören, und auf das Verderben ihres Lieblings denken. Nein, Siegmund ist sicher vor ihren Tücken, auch kann sie sich dereinst bessern, hat sich vielleicht schon gebessert, und ich kann ruhig den Plan ausführen, den ich mir zu meinem Glück gemacht habe. Höre, worin er besteht. Ich werde nach Sankt Nikola gebracht werden, werde meine Rosa, bald darauf auch meine Elisabeth wiedersehen. Bin ich stark genug, die schweren Scenen der Freude, die mir hier bevorstehen, zu überleben, so steht mir noch ein Glück bevor, ich werde Herzog Albrechten, meinen theuren unbekannten Sohn, meinen Retter umarmen. Ja er ists, er ist mein Retter! ohne ihn hätte ich meine Ida, meine Aerztinn, meine Trösterinn, meine Befreyerinn nicht kennen gelernt, – er schickte mir sie zu Hülfe! – Ich lebe dann im Schoos meiner Lieben ganz ruhig zu Sankt Nikola, bis Albrecht Elisabeths Gemahl wird, dann folge ich meinen Kindern verborgen, ganz verborgen nach Oesterreich; ein ruhiges Kloster nimmt mich auf, täglich besuchen mich[272] meine Theuren, und ich sterbe einst froh in ihren Armen. – O welch ein Gebäude von Glückseeligkeit! sollte sich kein Unglückswind erheben es einzustürzen?

Ida bestärkte die Königinn in ihren süssen Träumereyen, und strebte alle ihre Besorgnisse zu vernichten. Die Hoffnung wiegte sie gegen den Morgen in einen süssen Schlummer, aber ihre Trösterinn vermochte nicht zu schlafen. Neue Stürme schienen sich für sie zu erheben, die alle heitere Aussichten zu verdunkeln drohten, sie hatte in dieser Nacht Entdeckungen gemacht, die sie der Königinn aus Furcht sie zu beunruhigen verschwieg; sie waren es, die ihre Rückkunft vom Kirchhofe verzögerten, und ihr einen Anstreich von Bestürzung gaben, der nur für die mit andern Gedanken beschäftigte Marie unmerklich seyn konnte.

Es ist nöthig hier meine Leser einige Schritte zurück zu führen. Ida wandelte, als sie von der Königinn nach dem Kirchhofe geschickt wurde, ruhig mit Gedanken des Todes und der Auferstehung unter den Gräbern dahin, ihre Augen lasen im Mondesschimmer an den weißen Kreuzen den Namen mancher Nonne, die auch sie gekannt hatte, einige unter ihnen waren in dem letzten Theil ihres Noviziats auch von ihren Händen gewartet und zur ewigen Ruhe eingesegnet worden,[273] und ihre Thränen, so wie sie bey ihrer Rückkunft zur Königinn sagte, flossen im Verbeygehen ihrem Andenken. – Den Namen Veronika konnte sie lang nicht finden, die Eigenthümerinn dieser Ruhestätte war zu lang im Krankenzimmer verschlossen gewesen, um sie in Ordnung zu halten, und keine freundschaftliche Hand vertrat ihre Stelle. Der aufgeworfene Hügel war eingesunken, das Kreuz lag auf dem Boden, und Ida hätte es nicht gefunden, wenn sie nicht klug genug gewesen wär, es eben an diesem Umstand zu erkennen. – Sie richtete das Kreuz empor, öfnete die Höle, fand die Schriften, und war eben im Zurückgehen, als ein Geräusch an der Seite der Kirchhofsmauer sie aufmerksam machte.

Es war in den damahligen Zeiten ein doppeltes Verdienst für ein Mädchen, Muth genug zu haben in der Mitternachtsstunde unter Gräbern zu wandeln! die Sage, daß zu dieser Zeit die Geister der Verstorbenen zwischen den Todenhügeln schweben, und ihre modernden Gebeine besuchen, hatte damahls noch nichts von ihrem Ansehen verloren, stellte auf gewisse Art einen Glaubensartikel vor.

Die fromme Ida glaubte diesen Satz so wie jeden andern, der ihrer Tugendliebe nicht widersprach und ihrem Hang zur Schwärmerey etwas verwandt war, von ganzem Herzen; und man hat[274] sich also nicht zu verwundern, daß sie bey dem Säuseln, das sie umwehte, Schauer und Ahndung der Gegenwart eines Unsichtbaren fühlte.

Sie hatte Muth genug nicht zu fliehen; wofür hätte die Unschuld fliehen sollen? diese Gräber konnten, wie sie meynte, nur von seligen Geistern umschwebt werden, und Ida fühlte, daß sie eine Verwandte der Engel sey. Sie stellte sich unter den bejahrten Flieder, der an der Kirchhofmauer stand, und mit ihr an Höhe zu wetteifern schien.

Das Rauschen ward stärker, über ihr wankten die Blätter, und unter ihr der Schatten, den der Mond auf den Boden mahlte. Es war nicht der Wind, der dieses Säuseln verursachte, gewisse Nebentöne mußten ihre Furcht bestärken. Jetzt litt der Stamm, an den sie sich lehnte, einen gewaltigen Stoß, und im nemlichen Augenblicke senkte sich wenige Schritte von ihr mit einem ziemlichem Getöse eine Gestalt herab, die nun lang und fürchterlich im Mondglanz da stand. – Ida wollte und konnte jetzt nicht fliehen. Das, was sie sah und bald darauf hörte, stimmte so wenig mit ihren Ideen von Geistererscheinungen überein, daß eine ganz andere Art von Furcht als die vor Gespenstern in ihr rege ward. Sie war der Erscheinung zu nahe; eine Bewegung konnte sie verrathen,[275] nur der Schatten, in dem sie stand, und die äußerste Stille schätzte sie vor der Entdeckung.

Hier herüber! flüsterte die lange Gestalt, indem sie aufwärts nach dem Gipfel des Baums sah. Haltet euch an diesen starken Ast, und dann ein herzhafter Sprung, so seyd ihr wo ich bin. Das Geräusch über der zitternden Ida vermehrte sich, der vorige Schall ließ sich zum zweytenmahl hören, und noch ein Mann sprang zu dem vorigen herab. – Ihr seht also doch wohl, sagte der Erste, daß unser Unternehmen keine Unmöglichkeit ist! Gott gebe es? sprach der andre mit leiser Stimme. – Nun kommt auch und hört das weitere, fuhr der Erste fort. Sehet dort, die vergitterten Fenster, wo das schwache Lämpgen glimmt, es sind die Fenster des Krankenzimmers, wo sie sich jetzt meistens aufhalten soll, sie sind nicht zu hoch über der Erde, daß wir – die Männer entfernten sich im Gehen und Ida konnte nichts weiter vernehmen. Gern wär sie geflohen, aber einestheils Neugier, anderntheils Furcht hielt sie zurück, sie hätte bey diesen Leuten, welche keine gute Absicht zu haben schienen, vorbey streichen müssen, wenn sie zum Eingang ins Kloster hätte kommen wollen. Der Ort, wo sie verborgen stand, war sicher, und sie blieb.[276]

Die Männer kamen jetzt zurück, das Gesicht des einen schien ihr bekannt zu seyn, der andere hatte sich fest in seinen Mantel gehüllt. Sie selbst mit in unsern Anschlag zu ziehen, wär freylich das beste, sagte der erste im Vorübergehen, aber wie soll man sie treffen? – Das Fest der Heiligen Nikola ist, wie ihr sagt, vor der Thür, war die Antwort, die Nonnen sollen alsdann hier mehr Freyheit haben, man kann sie vielleicht einmahl im Garten, einmahl hier auf dem Kirchhof sprechen! –

Warum erst sprechen? fragte der erste, nicht lieber gleich handeln? – Die Einkleidung wird nicht lang mehr verschoben werden, wir haben keine Zeit zu verlieren! –

Die Männer waren nicht weit von dem Orte, wo Ida sich verbarg, im Mondschein stehen geblieben, sie verstand alle ihre Reden, merkte, daß sie die Person war, von welcher man sprach, und ach, erkannte das Gesicht des einen! es war einer der Reisigen des Erzbischoffs, welche sie in dieses Kloster gebracht hatten.

Sie schauerte in sich zurück, der Urheber des Anschlags war ihr nun kein Geheimniß mehr, es ward ihr klar, daß ihr alter Verfolger, in der Hoffnung getäuscht, daß das elende Leben zu Sankt Annen sie für seine Wünsche erweichen würde, es nicht auf das äußerste kommen lassen, sie lieber[277] vor der Einkleidung entführen, als die, welche er zu seiner geistlichen Tochter erkohren hatte, auf ewig verlieren wollte. – Die Männer, welche weiter gegangen waren, kamen jetzt wieder bey Idas Baume vorbey, sie nannten den Namen des Erzbischoffs, und bestärkten dadurch das zitternde Mädchen in ihren Vermuthungen, die doch im Grunde wenig Wahrscheinlichkeit hatten. – Der Erzbischoff hatte in diesem ganzen Jahre keine Neugier merken lassen, wie sie gegen ihn gesinnt sey, und ob das Leben zu Sankt Annen sie gefälliger gemacht habe; wahrscheinlich war sie, wenn er seine Absichten noch nicht aufgegeben hatte, als Nonne noch mehr in seiner Gewalt, als im weltlichen Stande; warum hatte er also ein so unheiliges Mittel, als die Entführung, ergreifen sollen, sich ihren Besitz zu versichern?

Ida bedachte das nicht, sie nahm den Augenblick wahr, da ihre Entführer auf der entgegengesetzten Seite des Kirchhofs wandelten, schlüpfte schnell in den Kreuzgang, warf die Thür hinter sich zu, und gelangte fast außer Athem bey der Königinn an, welche zwar über ihr Ausbleiben, welches länger als eine Stunde gedauert hatte, befremdet war, die aber doch, wie wir gesehen haben, der Sache nicht weiter nachforschte, sondern sich von ihr die Schriften vorlesen ließ, welche Ida[278] über die letzte Begebenheit fast aus der Acht gelassen, aber zum Glück sie doch fast maschinenmäsig mitgebracht hatte.

Ida las. – Das Schicksal der unglücklichen Königinn machte doppelt starken Eindruck auf sie, wenn sie bedachte, wie man darauf sönne, der erhabenen Leidenden auch ihren letzten Trost zu rauben. Was sollte aus Marien werden, wenn diejenige von ihr genommen würde, welche jetzt ihr ganzes Schicksal in Händen hatte? was würde aus ihr geworden seyn, wenn sie diese Nacht von ihren Verfolgern entdeckt, davon geführt, und von der Kranken vergeblich erwartet worden wär?

Mit Mühe hatte die Gräfinn so lange als die Königinn wachte das Uebermaas ihrer Gefühle unter der Hülle der Rührung über das Gelesene verborgen, jetzt da diese schlief, ließ sie ihren Empfindungen freyen Lauf, und erlag fast unter der Vorstellung desjenigen, was ihr und ihrer königlichen Freundinn bevorstand.

Wenn nur erst der Tag der heiligen Nikola vorbey wär, sagte sie zu sich selbst, daß ich Mariens Geheimniß enthüllt und ihr Schicksal sicher gestellt hätte, mich selbst sollte dann, wenn andere Hülfe zu lang zögerte, wenigstens die Beschleunigung meines Gelübdes schützen. Lieber ewig eine[279] Bewohnerinn dieses abscheulichen Klosters, als die Mathilde dieses Gregors!

Ida schlich ans Fenster, um zu sehen, ob ihre Verfolger noch auf dem Kirchhofe weilten. Alles war stille, doch entging ihr nicht die Bemerkung, daß die Ausführung eines klug ausgedachten Anschlags hier nicht unmöglich sey. Die Fenster waren nicht allzuhoch über der Erde, die Stäbe hier und da vom Rost gefressen, auch konnte sie von oben herab bemerken, daß die Mauer hinter dem Baume, unter welchem sie diese Nacht Schutz fand, schadhaft und nicht schwer zu übersteigen sey.

Ach, Flucht wär bey einer Kühnheit vielleicht ihr selbst möglich gewesen, aber wo ließ sich bey Mariens Schicksal, das an das ihrige gebunden war, nur so ein Gedanke fassen!

Quelle:
Benedikte Naubert: Herrmann von Unna. Theile 1–2, Teil 2, Leipzig 1788, S. 269-280.
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