6.


Haller kam wegen der Anatomie in Lebensgefahr.

[37] Als Haller auf seinen Reisen sich mehrere Monate in Paris aufhielt, konnte er unmöglich seine Neigung, menschliche Leichname zu zergliedern, unbefriedigt lassen. Er verschaffte sich durch reichliche Bezahlung aus den Hospitälern heimlich[37] Leichname, und zergliederte sie in seinem Zimmer in der größten Stille. Ein Schneider, welcher neben seinem Zimmer wohnte, und den die Neugierde plagte, zu wissen, was doch ein Mensch in der größten Stille und so lange Zeit in seinem Zimmer verschlossen treiben möchte, bohrte ein Loch in die Wand, um ihn zu belauschen. Er sah mit Entsetzen, was hier vorgieng, und erschrack zugleich über den heftigen Gestank, der aus der Oefnung hervorkam. Er zeigte die Sache sogleich bey der Polizey an, und Haller, der das Loch gewahr wurde, und von der Sache überhaupt einen Wink erhielt, hatte kaum soviel Zeit, daß er in der größten Eile aus Paris entfliehen konnte, um einer gerichtlichen Untersuchung zu entgehen.

Quelle:
[Nebel, Ernst Ludwig Wilhelm:] Medicinisches Vademecum für lustige Aerzte und lustige Kranken [...] Theil 1–4, Frankfurt, Leipzig 1795 (Bd. 1), 1796 (Bd. 2); Berlin, Leipzig 1797 (Bd. 3); Berlin, Leipzig 1798 (Bd. 4), S. 37-38.
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