3.


Nervenkrankheiten.

[36] Es waren einst glückliche Zeiten, wo kein Mensch wußte, daß er Nerven habe. Man wurde von ihnen auf das Beste bedient, ohne ihre Gegenwart zu ahnden, ohne sichs möglich zu denken, daß sie auch untreu werden können. Wie sehr haben sich die Sachen geändert! Vor vierzig Jahren hatte ein Engländer (Whyt ist sein Name) den unseligen Einfall, ein Buch von den Nerven und ihren Krankheiten zu schreiben. Ein Apotheker, der sich schon lange über die Zufälle einer gewissen Dame den Kopf zerbrochen hatte, (in England prakticiren auch die Apotheker) liest das Buch. Er kommt wieder zu der Dame; da sie ihm nun abermals mit einem ganzen Heere von Beschwerden überhäuft, und endlich einen kategorischen Ausspruch von ihm verlangt: so durchschneidet er den ganzen Gordischen Knoten mit vier Worten: Es sind die Nerven, Madame[36] und der Einfall glückte. Man fand den Ausdruck völlig befriedigend, er wurde Mode, und Hypochondrie, Vapeurs, u.s.w. mußten ihm Platz machen. Selbst die Aerzte fanden den Ausdruck sehr bequem. – Jetzt will alle Welt Nerven haben; und zwar pikirt man sich, schwache, reizbare, delicate Nerven zu haben; denn so will es der Ton. Ein nervichter Mensch hieß sonst ein fester, kraftvoller Adamssohn; jetzt aber heißt es ein Wesen, das jeden Eindruck tausendfach fühlt, das von dem Getrampel einer Mücke in Ohnmacht fällt, und von dem Geruch einer Rose Convulsionen bekommt. – Diabolique invention de la médecine moderne, ruft ein französischer Schriftsteller in seinem Feuereifer aus; nous n'avons plus de caractère, depuis qu'on nous à donné des nerfs: échange malheureux, qui met de niveau tous les sexes, tous les âges, et ne laisse subsister dans les uns et autres ni les graces, ni l'ambilité.


S. Hufelands gemeinnützige Aufsätze zur Beförderung der Gesundheit, des Wohlseins, und vernünftiger medicinischer Aufklärung, S. 115.

Quelle:
[Nebel, Ernst Ludwig Wilhelm:] Medicinisches Vademecum für lustige Aerzte und lustige Kranken [...] Theil 1–4, Frankfurt, Leipzig 1795 (Bd. 1), 1796 (Bd. 2); Berlin, Leipzig 1797 (Bd. 3); Berlin, Leipzig 1798 (Bd. 4), S. 36-37.
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