Sechster Abschnitt

[435] Nachdem Säugling der Vater von seiner Krankheit genesen war, wurde er einst mit seinem Sohne zu der Frau Gertrud in die Stadt zu Mittage eingeladen. Die schöne Anastasia, welche gleich ihrer Mutter des jungen Säuglings Achtsamkeiten ganz ernsthaft auslegte, hatte diesen Tag alle ihre sittsame Reizungen aufgeboten, weil sie nunmehr zuträglich hielt, sein Herz ganz zu fesseln. Man fand an ihr heute nicht bloß die andächtige Selbstgenügsamkeit wohlbegüterter Betschwestern, nicht nur das ihnen sonst gewöhnliche selbstbehagliche Achtgeben auf[435] gesundes Ansehen, auf Weiche der Haut, auf Glätte der Bekleidung, auf Gelindigkeit der ganzen Person, welches sogar bei Nonnen die Stelle alles weltlichen Putzes vertritt, sondern ihr mit brabantischen Spitzen besetztes Häubchen war auch einen halben Zoll höher auf die Stirne gerückt, sie schlug die Augen öfter lieblich empor und ließ sie mit langsamerm Schmachten niedersinken, und ihre immer weichlich lispelnde Stimme erstarb heute auf ihren Lippen mit einer holdem Lächeln nahekommenden Freundlichkeit.

Alle diese schmachtende Reize ließ sie, mit der andächtelnden Mädchen so eignen zurückhaltenden Innigkeit, auf Säuglingen wirken, als sie nach dem Mittagsmahle mit ihm allein im Garten spazierenging. Jungfer Anastasia, die bald in seinen Augen die unverstellten Merkmale des Wohlgefallens las, glaubte sichere Zeichen ihres geheimen Sieges zu finden und ihrem wohlmeinenden Zwecke, aus einem weltlichen Jünglinge einen frommen Ehemann zu bilden, ziemlich nahe zu sein.

Doch da sie nun mit stillem Herzklopfen einer zärtlichen Erklärung entgegensah, ließ sich Säugling – weit gefehlt, daß er seiner einzig geliebten Mariane nur einen Augenblick hätte untreu werden sollen – durch ihre anmutige Vertraulichkeit zu nichts anders bewegen, als daß er einige von seinen Lieblingsliedern über die Freuden des Lebens aus der Tasche zog, die er sich bisher noch nicht getrauet hatte, ihr vorzulesen. Sie hörte sie an, mit völliger Ergebung in ihr Schicksal. Bei feinen Gedanken, die sie nicht verstand, sah sie freilich ein wenig dämisch aus; aber dies ward durch das sanfte Lächeln vergütet, welches zugleich diente, ihre schönen Zähne und die Grübchen in ihren runden Wangen zu zeigen. Bei verliebten Stellen errötete sie nicht gleich wie sonst, sondern schlug die Augen seitwärts auf, mit[436] einem Blicke zwischen Verschämtheit und Sehnsucht, und wenn sie dann im Herabsinken dem auf ihren Beifall gierigen Blicke Säuglings begegneten, stieg ein sanftes Rot auf ihre vollen Wangen, indem ihre Augen nochmals furchtsam aufblinzten.

Indem dieses vorging, hatte sich ein mitgebetener Freund der Frau Gertrud des alten Säugling bemächtigt und ihn nach Tische ebenfalls in eine andere Gegend des Gartens geführet. Er brachte, ungezwungnerweise, das Gespräch auf die Jungfer Anastasia und breitete sich ausführlich über das große Heiratsgut aus, das sie zu gewarten habe. Er erzählte zugleich, es hätten sich schon viele Partien gefunden, die aber, weil sie Weltkinder gewesen, von der Frau Gertrud wären abgewiesen worden, bis sich kürzlich erst ein annehmlicher Bräutigam, sogar ein Edelmann, gefunden hätte, dessen Ansuchen jetzt wirklich in Erwägung gezogen würde.

Diese Nachricht tat auf den alten Säugling die begehrte Wirkung. Er ward etwas still, blies einige Minuten lang den Rauch aus seiner Pfeife langsamer von sich und fragte, so gleichgültig als er konnte, ob denn der bewußte Bräutigam schon das Jawort erhalten habe.

»Bis jetzt noch nicht«, sagte der Freund des Hauses, »die Sache ist noch in Überlegung und verdient sie.«

»Ich wünschte«, sagte der alte Säugling, nachdem er wieder einige Minuten pausieret hatte, »daß ich eher etwas davon gewußt hätte; denn ich muß gestehen, daß ich die Jungfer Anastasia immer für eine schickliche Partie für meinen Sohn gehalten habe.«

Der Hausfreund versicherte, daß hierbei noch nichts verloren wäre; man sei mit dem andern Bräutigam auf keine Weise gebunden, und obgleich derselbe ein rechtes frommes Gnadenkind geworden, so sei er doch ein Mann von Stande und ein Offizier, und man wisse wohl,[437] daß Leute dieser Art am leichtesten in Rückfall geraten könnten; daher werde die Frau Gertrud seinem Sohne gewiß den Vorzug geben, nur müsse er, wie leicht zu erachten, sich sehr bald deshalb erklären.

Der alte Säugling ward über diese Nachricht ungemein vergnügt und versicherte, er werde morgen unverzüglich mit seinem Sohne reden, welcher ihm schon längst eine besondere Neigung zur Jungfer Anastasia zu haben schiene; und da er gar nicht zweifelte, derselbe werde zu dieser Heirat die größeste Begierde zeigen, so nahm er zugleich mit dem Hausfreunde die Abrede, daß dieser nebst der Frau Gertrud und ihrer Tochter auf den übermorgenden Tag zum Mittagsessen gebeten werden solle, damit alsdann der erste Antrag geschehen und vielleicht gar die Sache gleich in Richtigkeit gebracht werden könne. Der Freund der Frau Gertrud bestärkte den alten Säugling sehr in diesem Vorsatze und fuhr fort, ihm über das Vermögen derselben eine ausführliche Auskunft zu geben nebst andern dahin einschlagenden, dem Alten ungemein angenehmen Gesprächen. Es entspann sich daher zwischen beiden eine wechselseitige Vertraulichkeit, und sie hatten einander so viel zu sagen, daß, als gegen Abend die Zeit zur Abfahrt herankam, der alte Säugling sich ohne Umstände in den Wagen des fremden Herrn setzte, damit sie in ihrem Gespräche fortfahren und ihre Ratschläge und Entwürfe ferner ins reine bringen könnten.

Der junge Säugling fuhr also ganz allein. Dieser war durch die Lieblichkeit der Jungfer Anastasia und durch den Weihrauch, den sie seinen Gedichten angezündet hatte – denn er hielt ihr Seufzen und Erröten bloß für eine starke Wirkung seiner Gedichte –, in die wohlgefälligste Laune gesetzt worden. Es war einer der schönsten Sommerabende. Er stieg daher aus dem Wagen, als[438] der Weg neben einem Walde vorbeiging, um im Grünen zu spazieren. Der Kutscher beschrieb ihm einen Fußsteig, der nach einer Viertelmeile wieder aus dem Walde herausführe. Dahin ward der Wagen beschieden, und Säugling ging in das Gebüsch, um, mit der Schreibtafel in der Hand, unter den Einflüssen der schönen Gegend einer Szene in seinem empfindsamen Romane nachzudenken.

Er war schon eine geraume Zeit in aller Wollust der Autorempfängnis fortgewandelt, als er, ungefähr dreißig Schritte vom Fußsteige ab, im Walde einen angenehmen Gesang zu hören glaubte. Noch mehr ward er aufmerksam gemacht, da ihm die Melodie bekannt war; noch mehr, da es ihm bei näherm Hinzugehen eines seiner Lieder zu sein schien; noch mehr, da ihm die Stimme wie Marianens Stimme vorkam. Er eilte durch das Gesträuch. Es war wirklich Mariane, die bei ihrem gewöhnlichen einsamen Abendspaziergange sich am Ufer des kleinen Baches niedergesetzt hatte, um ihren schwermütigen Gedanken über ihren geliebten, ihr so frühzeitig geraubten Säugling nachzuhangen, und in diesem süßen Staunen ein von demselben ehemals an sie gerichtetes Lied sang.

Als sie Säuglingen erblickte, sprang sie auf und tat einen lauten Schrei, weil sie glaubte, ein Gespenst zu sehen. Er überzeugte sie aber bald, daß er lebte, da er sie aufs feurigste in seine Arme schloß und den ersten Kuß auf ihre jungfräulichen Lippen drückte. Unnennbare Freude zitterte aus beiden in dieser Umarmung, zu innig für alle Beschreibung. Marianens ganze Zurückhaltung zerfloß in diesem Gefühle, wie Eis beim Blicke der Sonne im Mai. Sie schwor, die Seinige zu sein, sie war die Seinige.

In dieser wonnevollen Unterhaltung verstrich eine Stunde, ohne daß sie es merkten. Säuglings Bedienter,[439] der am abgeredeten Orte mit dem Wagen so lange gewartet hatte, ward endlich unruhig, suchte seinen Herrn im Walde, fand ihn und erinnerte ihn, nach Hause zu fahren.

Quelle:
Friedrich Nicolai: Leben und Meinungen des Herrn Sebaldus Nothanker, Berlin 1960, S. 435-440.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker
Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker