Sechster Abschnitt

[177] Säugling war von allem Troste verlassen, als er erfuhr, daß Mariane weder seine Poesie noch seine Prose einer Antwort würdigen wolle. Er hielt sich für den unglücklichsten unter allen Menschen und wußte, da seine Dichtkunst die erwartete Hilfe nicht leistete, jetzt bloß zu bittern Tränen seine Zuflucht zu nehmen. Rambold hingegen, der bei weniger Zärtlichkeit etwas mehr Erfahrung besaß und dem das Kammermädchen auch in ihrem Antwortschreiben einen gewissen Wink gegeben hatte, tat keck den Vorschlag, daß Säugling in seiner Gesellschft insgeheim nach dem Gute der Frau von Hohenauf reiten und Marianen besuchen sollte. Säugling erschrak vor diesem Gedanken, sowohl wegen dessen Folgen als wegen der Beschwerlichkeit eines Ritts von fünf Meilen. Allein Rambold wußte diese Bedenklichkeiten mit seinem gewöhnlichen Witze lächerlich zu machen, so daß Säugling anfing, diesen Vorschlag nur von der angenehmen Seite zu betrachten, und darinwilligte.

Sie ritten also an einem schönen Sommermorgen aus, und Säugling, über seinen eigenen Mut erstaunt, kam sich, nachdem er eine Meile zurückgelegt hatte und die Beschwerlichkeiten der Reise zu empfinden anfing, als ein anderer Leander vor, der durch die Gefahr der wilden[177] Wellen zu seiner geliebten Hero eilte. Sie langten des Abends sehr ermüdet auf einem Vorwerke an, das etwa zweihundert Schritte von dem Dorfe entlegen war. Des andern Morgens sehr früh ermannte sich Säugling, seiner Müdigkeit ungeachtet, und wanderte mit Rambold nach dem herrschaftlichen Garten, in den sie durch eine von dem schlauen Kammermädchen geöffnete Hintertür traten. Sie führte Säuglingen ferner nach einer etwas abgelegenen grünen Laube, wo Mariane, in der Meinung, ganz allein zu sein, mit süßer Schwermut Säuglings Heroide las.

Marianne tat einen lauten Schrei, als sie ihn erblickte, und wollte forteilen. Ihre Füße versagten ihr aber glücklicherweise diesen Dienst, denn der zitternde Säugling war selbst in so großer Verlegenheit, daß er schwerlich Besonnenheit genug gehabt haben würde, sie zurückzuhalten. Er stand mit herunterhängenden Händen wie ein stummes Bild da, und es währte einige Minuten, ehe er mit stammelnder Zunge eine Entschuldigung seiner Verwegenheit vorbrachte. Da er in Marianens Augen keinen Zorn wahrnahm, so faßte er das Herz, sich ihr zu Füßen zu werfen, ihr nochmals die ganze Innigkeit seiner Liebe zu entdecken und sie um Gegenliebe anzuflehen. Mariane wollte noch zurückhalten, aber sie konnte ihrer innern Zärtlichkeit selbst nicht Widerstand tun und entdeckte, unter sanftem Erröten, alles, was sie für ihn fühlte. Säugling glaubte in den dritten Himmel versetzt zu sein, dankte ihr mit den herzrührendsten Ausdrücken, und beide schworen sich unverbrüchliche Treue und Zärtlichkeit.

Sie hatten sich so viel zu sagen, daß einige Stunden vergingen, ehe sie voneinander schieden. Die Wollust dieser Unterredung war zu groß, als daß nicht noch mehrere gleich geheime Zusammenkünfte auf diese[178] hätten folgen sollen, in denen beide Liebenden ihre Herzen aufs genaueste miteinander vereinigten und den süßesten Reiz in dem Versprechen fanden, alles Widerstandes ungeachtet sich ewig zu lieben.

Indes hatte die Frau von Hohenauf insgeheim erfahren, daß Mariane täglich sehr früh aufstände, in den Garten ginge und sich daselbst einige Stunden aufhielte. Sie schlich ihr eines Tages nach, ohne die wahre Ursache nur im geringsten zu vermuten, und behorchte das verliebte Paar, als sie eben in der zärtlichsten Unterredung waren. Sie kam außer sich vor heftiger Wut, fuhr wie eine Furie auf die arme Mariane los, belegte sie mit den schimpflichsten Namen, stieß sie aus der Laube weg; und indem sie dem ganz erschrockenen Säugling, der wie eine unbewegliche Bildsäule dastand, zuschrie, ihr nimmermehr wieder vor die Augen zu kommen, schleppte sie die halbtote Mariane nach dem Hause zu.

Säugling stand noch einige Zeit in zitternder Untätigkeit, bis er sich endlich besann, es werde am besten sein, wegzugehen. Er fand aber zu seinem großen Erschrecken die Hintertür des Gartens verschlossen. Rambold, der sich mit dem Kammermädchen in einem etwa fünfzig Schritte von der Laube entfernten ziemlich dichten Gebüsche befand, vielleicht um ihr ein Kapitel aus dem vierten Bande der »Insel Felsenburg« zu erklären, war bei dem ersten Lärmen davongelaufen und hatte in der Eil die Türe hinter sich zugeschlagen. So sah sich der arme Säugling allein und eingeschlossen und wußte nicht, was vor Angst beginnen. Er konnte keinen Ausgang finden; denn über die Mauer zu steigen, ob sie gleich nicht sehr hoch war, war für ihn eine unmögliche Sache; er fing also an zu zittern, als wäre er in der Gewalt seines ärgsten Feindes. Nachdem er aber eine Viertelstunde im Garten in der Irre gelaufen war, fiel ihm[179] endlich ein, daß die große Gartentüre offen sein möchte. Sie war es wirklich, und er ging, ohne von jemand bemerkt zu werden, mit Zittern und Zagen durch den Hof und durch das Haus auf die freie Straße des Dorfs.

Nun eilte er mit verdoppelten Schritten nach dem Vorwerke, wo er die Pferde schon gesattelt und Rambolden seiner erwartend antraf. Sie setzten sich sogleich zu Pferde, Säugling in der größten Traurigkeit, die durch Rambolds Lustigkeit und Schrauberei nicht zu mildern war. Sie brachten auf der Zurückreise zwei Tage zu, demungeachtet legte sich Säugling sogleich bei der Ankunft ins Bette, um sich teils von einem Fieber heilen zu lassen, welches die Gemütsbewegung, teils von einigen andern kleinen Beschwerlichkeiten auszuruhen, welche ein Ritt von fünf Meilen seinem zarten Körper zugezogen hatte.

Der unglücklichen Mariane ward von der Frau von Hohenauf mit der äußersten Härte begegnet. Keine Entschuldigung ward angenommen, die schimpflichsten Vorwürfe wurden nicht gesparet. Ohne die Furcht, daß Säugling durch ihr Unglück noch näher mit ihr verbunden werden möchte, wäre sie sogleich auf die Straße geworfen worden. Sie ward also eingesperrt, bis sich eine Gelegenheit fände, sie gänzlich wegzuschaffen.

Die Frau von Hohenauf besann sich, daß die Gräfin von *** bei ihrer Anwesenheit im Diskurse beiläufig geäußert hatte, sie wünschte eine Person von guter Aufführung und von Talenten um sich zu haben, die ihr Gesellschaft leisten und ihr vorlesen könnte. Die Gräfin, obgleich aus einem der ältesten Geschlechte und unter der Pracht und den Lustbarkeiten des Hofes erzogen, schätzte Verdienst mehr als Adel und die Schönheiten der Natur und eine in der Stille wohlverbrachte Zeit mehr als glänzenden Pomp. Dies war den Neigungen der[180] Frau von Hohenauf so schnurgerade zuwider, daß zuweilen zwischen ihnen einiger Wortwechsel darüber entstanden war; daher die letztere die erstere – wie es immer zu geschehen pflegt, wenn ein Tor gegen einen Klugen unrecht hat – herzlich zu hassen anfing, ob sie gleich freilich dem Wohlstande gemäß eine Dame von diesem Range äußerlich mit den größten Freundschaftsbezeugungen überhäufte.

»Ha«, sagte die Frau von Hohenauf, »für diesen Zieraffen wird die schöne Mariane eine würdige Gesellschaft sein.« Hierzu kam, daß die Güter der Gräfin an fünfundzwanzig Meilen entfernt lagen, indem sie zur Zeit des Geburtsfestes, nur um eine Verwandtin zu besuchen, in diese Gegend gekommen war. Die Frau von Hohenauf schrieb also an die Gräfin und trug ihr Marianen zur Gesellschafterin an, doch ohne die wahre Ursache dieses Vorschlags im geringsten zu erwähnen. Die Gräfin, welche sich Marianens Betragen gegen den armen Pachter noch mit Vergnügen erinnerte, antwortete nach Wunsche.

Nun trat die Frau von Hohenauf in Marianens Gefängnis, zwang sich zu einer Freundlichkeit, die ihr gar nicht von Herzen ging, stellte ihr die unverdiente Gnade vor, daß sie ihr, anstatt sie zu strafen, einen so guten Platz verschafft habe. Sie versicherte zugleich, sie wolle alles Vergangene vergessen, verlangte aber auch von Marianen das Versprechen, alle Verbindung mit Säuglingen aufzuheben, ja ihm nie ihren Aufenthalt zu melden.

Mariane, die einige Wochen in großer Verlegenheit über ihr jetziges und künftiges Schicksal zugebracht hatte, war sehr erfreut, daß es eine so glückliche Wendung nahm. Sie hatte die vortrefflichen Gesinnungen der Gräfin bei derselben Anwesenheit kennenlernen[181] und sah also sehr wohl ein, daß der Vorfall mit Säuglingen derselben Zutrauen zu ihr mindern könnte. Sie versprach daher mehr, als verlangt wurde, nämlich niemand, wer es auch sei, das geringste von der Sache zu entdecken; ja sie versprach sich selbst, wenn sie von Säugling nichts mehr hörte, ihn ganz zu vergessen, und hoffte dadurch wieder so ruhig zu werden als vormals, ehe sie die Wirkungen dieser unglücklichen Liebe erfuhr.

Um jedermann den Ort ihres künftigen Aufenthalts zu verbergen, ward sie des Nachts mit Postpferden nach einer nicht weit von den Gütern der Gräfin gelegenen Stadt gebracht, wo ein Wagen der Gräfin auf sie wartete, um sie abzuholen.[182]

Quelle:
Friedrich Nicolai: Leben und Meinungen des Herrn Sebaldus Nothanker, Berlin 1960, S. 177-183.
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