Sechster Abschnitt

[60] Wilhelminens Krankheit nahm sehr schnell zu, und bei der kleinen Charlotte, die einige Tage in der äußersten Hitze lag, fingen sich an die Blattern zu zeigen. Der ehrliche Bauer pflegte sie so sehr, als es seine eignen notdürftigen Umstände erlaubten. Er gab ihnen seine einzige Stube ein, und er und Sebaldus schliefen abwechselnd in der Scheune und wachten bei den Kranken; Mariane aber kam ihrer kranken Mutter und Schwester nie von der Seite. Alles, was möglich war, um ihnen Erleichterung zu verschaffen, tat sie, aber leider war nur sehr wenig möglich, denn mit jedem Tage vermehrte sich das Elend. Wilhelmine in der äußersten Entkräftung, Charlottchen mit zusammenfließenden Eiterbeulen überdeckt, keine Arznei, wenig Speise, keinen Freund außer dem ehrlichen Bauer, keine Hoffnung, daß dieser Zustand verbessert werden, keine Aussicht, wie man darin fortleben könne. Schon seit mehrern Wochen hatte die Familie von dem Verkaufe einiger Wäsche und Mobilien gelebt, die der Bauer, wenn er zum Markte fuhr, in der Stadt verhandelte. Es war zu übersehen, daß diese kleine Hilfe nicht lange dauren könnte. Hernach zeigte sich der kommende Winter, keine Nahrung, kein Obdach, das bitterste Elend. »O großer Gott«, rief Sebaldus aus, »verdienet eine Abweichung von den symbolischen Büchern, daß eine Familie, welche beständig nach deinen Geboten zu wandeln[60] beflissen gewesen, in den kläglichsten Mangel gestürzt werde!«

Inzwischen beschäftigte das gegenwärtige und vergangene Elend den Geist viel zu sehr, als daß oft an das künftige gedacht werden konnte. Jeder Tag setzte zu der großen Masse des Kummers seinen reichlichen Anteil hinzu. Charlottchens Krankheit stieg schnell bis auf den äußersten Gipfel. Je mehr die Säfte ihres Körpers in die schreckliche Gärung gerieten, welche alle Teile aus der Mischung, worin sie sich einander zusammenhalten und ernähren, in die versetzet, worin sie sich einander zerstören und auflösen, desto mehr nahm ihr zarter Geist an gezwungener Stärke, an tumultuarischer Tätigkeit zu. Phantasien traten an die Stelle der Empfindungen und ein stumpfes Hinbrüten an die Stelle der Ruhe, die Körper und Geist erquickt. Sie geriet endlich einen Tag lang in einen betäubenden Schlummer, woraus sie mit der Heiterkeit einer gesunden Person erwachte. Sie streckte ihre kleinen Hände mit einem zärtlichen Lallen nach dem Bette ihrer schwachen Mutter aus, redete ihren Vater und ihre Schwester an, welche sie seit acht Tagen bei aller zärtlichen Bemühung derselben, ihr zu helfen, nicht gekannt hatte, richtete ihr Haupt auf, forderte ihres Vaters Segen, aber, indem er einen Schritt zu ihr trat, sank sie tot in die Arme ihrer Schwester. Mariane tat einen lauten Schrei, Sebaldus fiel auf den entseelten Körper, die schwache Wilhelmine richtete sich auf, als ob sie ihrer Tochter helfen wollte. Umsonst, sie war dahin. Nun sank Sebaldus in die tiefe Betäubung, die keinen Teil des Elends einzeln empfindet, weil das Ganze die Seele völlig eingenommen hat. Auch Marianens Kräfte reichten nicht zu, so viel Unglück zu ertragen. Sie fiel unter einem Strome von Tränen auf ihr Lager und blieb den ganzen Tag in einer[61] betäubenden Mattigkeit, ohne daß sie imstande war, ihrer kranken Mutter die gewöhnlichen zärtlichen Liebesdienste zu leisten. Wilhelmine aber, welche bisher in der äußersten Entkräftung gelegen hatte, rief alle ihre Lebensgeister hervor, um ihr überschwengliches Elend zu empfinden, denn bei großer Wehmut ist die Wehmut selbst der einzige Genuß. So schwach sie war, fand sie doch Kräfte, bald zu klagen, bald zu seufzen, bald, weil selbst der Anblick der Leiche ihre Zärtlichkeit stärker auf die Lebendigen zog, ihren Mann und ihre Tochter zu trösten. Sie wollte sogar aufstehen, um denen Handreichungen zu leisten, deren Handreichung sie selbst nötig hatte. Aber hier merkte sie, daß ihr Körper schwächer war als ihr Geist, denn nun fiel sie ermattet nieder und konnte nur noch bloß durch Zureden Trost geben. So brachte diese unglückliche Familie eine Nacht und einen Tag zu, ihr Elend ganz zu fühlen und einen sehr kleinen Teil davon durch wechselseitigen Trost zu erleichtern. Am Ende dieses Tages fiel Wilhelmine in eine außerordentliche Ermattung und in ein mit vieler Hitze verknüpftes Fieber. Kaum konnte sie gegen Mitternacht einen unruhigen, unerquickenden Schlaf genießen. Sie brachte den folgenden Tag in einem schmachtenden Zustande hin. Gegen Abend ergriff sie das Fieber mit viel stärkerer Hitze, sie erwachte des andern Morgens bei Sonnenaufgang äußerst entkräftet und empfand etwas, dergleichen sie noch nie empfunden hatte. Sie legte ihre Hand in die Hand ihres Mannes, der nebst Marianen die ganze Nacht über nicht von ihrem Bette gewichen war, und sagte mit schwacher Stimme: »Ich sterbe, ich fühle es. Vergib es mir, lieber Mann, daß mein unbedachtsamer Enthusiasmus, den ich oft genug bereuet habe, die unerwartete Folge gehabt hat, unsere ganze Familie unglücklich zu machen. ›Der[62] Tod fürs Vaterland'‹ ist der Vorwand unsers Unglücks; wollte Gott, ich könnte ihn sterben, diesen Tod! Doch, ich würde glauben, fürs Vaterland gestorben zu sein, wenn unser Unglück, von einer empfindsamen Seele nacherzählt, unsere Geistlichen warnen könnte, wegen Verschiedenheit der Lehre nicht die bittere Feindschaft aufeinander zu werfen, die die eigentliche Ursache unsers Unglücks ist. Meine Absicht war gut. Mich und unsere Feinde richte der allmächtige Gott, der das Innerste der Herzen kennet. – Lebe wohl, meine liebe Tochter, lebe so, wie dich deine Eltern gelehret haben, tugendhaft und unsträflich. Gott gebe, daß du deinen Bruder noch einmal glücklich wiedersehest. Ist's möglich, so unterstütze deinen alten Vater, solange er lebt. Gott sei dein Erhalter! Seiner Vorsorge empfehle ich dich – denn leider von Menschen bist du verlassen! Umarme mich!«

Hier entrannen Tränen ihren sich brechenden Augen. Mariane küßte sie auf und drückte ihren Mund auf den Mund ihrer Mutter, deren Haupt in diesem Augenblicke sanft auf ihre linke Schulter sank, und die matten Hände glitten ab, die sie eben um ihre Mariane schlingen wollte. Sie entschlief. Mariane hatte nur noch Kraft, ein wimmerndes Seufzen hören zu lassen, indem sie ihr nochmals den kalten Mund küßte und die mütterlichen Augen zudrückte. Sie fiel stumm zurück, ohne Träne, gleich einem unbeweglichen Bilde. Sebaldus in tränenloser Verzweiflung, stumm und staunend, saß ohne Bewegung, außer daß er seinen düstern Blick von der Leiche seiner kleinen Tochter zu der Leiche seiner Frau wendete. So saßen zwischen zwei geliebten Leichen zwei Lebende, totenähnlich, in stummem Todeskummer. Der einzige Laut, den man hörte, war von dem gutherzigen Bauer, der, auf der Bank am Ofen sitzend, den Kopf an die Wand gelehnt, innerlich schnuckte.[63]

Sie saßen so, und der Mittag war vorbei, ohne daß jemand sich gereget oder etwas zu sich genommen hätte, als ein Mann in einem großen Reiserocke und in einer Reisekappe vor der Türe vom Pferde stieg und in die Stube trat. Es war Hieronymus, den sein Rückweg von einer Geschäftsreise durch dieses Dorf führte und welcher daher seinen alten Freund, den Pastor, hatte besuchen wollen. Er fand aber im Pfarrhause anstatt seines Freundes den Magister Tuffelius und den Superintendenten, die eben abgespeiset hatten und nach Tische bei einem Glase Wein sich noch von alten Geschichten unterhielten, von der Konvention zu Kloster-Seven und von dem Atheismus, der in den brandenburgischen Landen statt der symbolischen Bücher eingeführt werden sollte, und dergleichen mehr. Sie nötigten ihn aufs freundlichste hinein, sobald er aber von ihnen den ganzen Vorgang erfuhr, setzte er sich, alles Nötigens ungeachtet, wieder zu Pferde und ritt nach dem ihm bezeichneten Bauerhause.

Hier fand er den traurigsten Anblick. Das Kind im Sarge, die Mutter erblasset, die Tochter halb ohnmächtig, den Vater vor Schmerz betäubt, den gutherzigen Bauer, der anfing, ihnen Trost zuzusprechen, da er selbst Trost nötig gehabt hätte. Beim Anblicke des Hieronymus ergoß sich das weiche Herz Marianens in einen Tränenstrom. Sie zeigte auf die Leiche ihrer Mutter und Schwester, ihre Blicke sagten mehr als ihre gestammelten Worte. Hieronymus konnte auch nichts als Tränen anstatt Worte hervorbringen. Mariane fiel erschöpft in seinen Armen in Ohnmacht. Er brachte sie mit Hilfe des gutherzigen Bauers wieder zu sich. Nun ging seine Sorge auf Sebaldus, welcher dasaß, starre Blicke auf beide geliebte Leichen geheftet, ohne Empfindung dessen, was um ihn vorging. Auf alles Zureden des Hieronymus antwortete[64] er nur durch abgebrochene Worte, tiefe Seufzer und starre Blicke gen Himmel. Endlich stand er auf, hob beide Hände empor, faltete sie und brach folgendermaßen aus: »Ja, ich habe unrecht, o meine verklärte Wilhelmine, dich zu beklagen, daß du einer Welt voll Elend, voll Betrug, voll Bosheit bist entrissen worden, wo das Laster in güldenem Stücke gehet, wo Tugend und Menschenfreundschaft betteln muß, wo fühllose Priester noch jenseit dieses Lebens ihre Verdammungen ausspenden. Wohl dir, daß du gestorben bist! Zwar betrübt mich dein Abschied jetzt sehr, aber wieviel freudiger wird unsere Zusammenkunft sein, wenn wir uns in dem himmlischen Jerusalem wiedersehen werden, wo kein Verbanntes mehr sein wird, wo wir sehen werden den lautern Strom des lebendigen Wassers, klar wie ein Kristall, wo die, die da siegten an dem Tiere und seinem Bilde und an der Zahl seines Namens, stehen werden und haben Gottes Harfen und singen das Lied Mosis und das Lied des Lämmleins und sprechen: Groß und wundersam sind deine Werke, Herr Gott, Allmächtiger, gerecht und wahrhaftig sind deine Wege, du König der Nationen! Wer sollte dich nicht fürchten, Herr, und deinen Namen verherrlichen, weil du so gnädig bist!«

Mit diesen und andern Worten der Apokalypse suchte Sebaldus Kräfte, sein Leid zu ertragen. Hieronymus ließ ihn in dieser beruhigenden Ekstase, ging zu seinem Mantelsacke, der noch auf dem Pferde lag, holte daraus ein paar gebratene Hühner und unter einem seiner Pistolenhalfter eine geschliffene Flasche Rheinwein hervor, denn er pflegte auf Reisen die Pistolen für seine Feinde und den Wein für seine Freunde bei sich zu führen. Er zog seinen schweren Reiserock aus und bereitete in der Scheune das Mahl, von dem er und der Bauer, ihrer[65] Traurigkeit ungeachtet, dennoch herzlich aßen, weil beide hungrig waren. Sebaldus und Mariane aber nahmen, auf wiederholtes Zureden, wenigstens so viel zu sich, daß der Körper in den Stand gesetzt ward, die Bekümmernisse der Seele zu ertragen.

Nach der Mahlzeit trug Hieronymus mit dem Bauer Wilhelminens erblaßten Körper und den Sarg der kleinen Tochter in die Scheune, die dem Sebaldus bisher zum Nachtlager und noch kürzlich zum Speisezimmer gedient hatte. Er riet Sebaldus und Marianen, nunmehr ihren Körper zu pflegen, da sie die Toten nicht mehr pflegen könnten. Er versprach, in zwei Tagen wiederzukommen und für Wilhelminens und des Kindes Begräbnis zu sorgen. Zuletzt erbot er sich, alsdann Sebaldus und Marianen mit sich nach der Stadt zu nehmen, wo sie in seinem Hause willkommen sein sollten. Beide nahmen ein so freundschaftliches Anerbieten mit Dank an. Hieronymus bat Vater und Tochter nochmals, ihre Traurigkeit zu mäßigen, gab, als er seinen Reiserock aus der Scheune holte, dem Bauer etwas Geld, um sie besser pflegen zu können, umarmte sie und ritt nach Hause.

Quelle:
Friedrich Nicolai: Leben und Meinungen des Herrn Sebaldus Nothanker, Berlin 1960, S. 60-66.
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