Sechster Abschnitt

[311] Unterdessen dies vorging, war Mariane mit ihren Entführern einen Tag und eine Nacht lang fortgefahren, ohne daß sie durch öftere Fragen hätte erfahren können, wohin sie sollte gebracht werden. Die Landstraßen wurden soviel möglich vermieden und nur auf abgelegenen Vorwerken schon bestellte Pferde gewechselt, ohne daß Mariane aussteigen durfte. Den zweiten Tag mußten sie notwendig quer über einen Hochweg. Mariane erblickte auf demselben einen Postwagen. Sie schrie, so stark sie konnte. Ihre Begleiter wollten sie zwar zurückhalten und riefen dem Kutscher, er solle eilen, welches auch geschah; aber auf Marianens fortdaurendes Geschrei fuhr der Postwagen nicht allein geschwinder, sondern ein Mann zu Pferde, der neben demselben ritt, kam immer näher und holte in kurzem die Kutsche ein. Er gebot dem Kutscher zu halten, der sich aber daran nicht kehrte,[311] und aus der Kutsche ward eine Büchse auf den Reiter gerichtet; allein indem sie losgedrückt wurde, schlug er sie mit seinem Hirschfänger herunter, so daß sie ihn nur am Fuße mit grobem Hagel verwundete. In diesem Augenblicke öffnete Mariane auf der andern Seite den Schlag und sprang heraus. Der auf dem Bocke sitzende Bediente traute sich nicht, dieses zu hindern, weil der Postwagen ganz nahe kam, von dem vier oder fünf Reisende absprangen und zu Hilfe eilten, daher der Kutscher mit verhängtem Zügel davonjagte.

Mariane war im Springen gefallen, doch ohne Schaden. Der eine Reisende, der mit einem spanischen Rohre in der Hand vorangelaufen war und den Wagen beinahe erreicht hätte, hob sie auf. Sie erkannte ihn sogleich für ihren Freund Hieronymus; und kaum erholte sie sich von ihrem ersten Erstaunen, so erblickte sie ihren Vater und lag in dessen Armen. Während beide sich ihrer Freude über diese unerwartete Zusammenkunft überließen, besichtigten die übrigen Reisenden den Verwalter, den das Schrot nahe am Schienbeine gestreift hatte. Sie hoben ihn vom Pferde und auf den Postwagen, welchen Mariane gleichfalls bestieg; das Pferd ward an den Wagen gebunden, und so zogen sie fort bis in das nächste, nicht weit entlegene Städtchen.

Hier blieben sie liegen, um ihren Verwundeten verbinden zu lassen, dessen Beschädigung, nachdem den andern Tag der Verband abgenommen war, nicht gefährlich befunden ward. Sie beschlossen also, zur Gräfin zurückzukehren, zumal da der Verwalter in der Nachbarschaft wohnte. Hieronymus mietete dazu einen halbbedeckten dreisitzigen Wagen. In denselben setzte sich Mariane und der Verwundete vorwärts; Hieronymus mußte den Rücksitz einnehmen, denn Sebaldus, durch die Freude, seine Tochter wiedergefunden zu haben,[312] ganz verjünget, setzte sich, alles Zuredens ungeachtet, auf des Verwalters Pferd und trabte frisch neben dem Wagen her. Da ihm dies in kurzem beschwerlich ward, so kam er auf den Gedanken, voranzureiten und in dem Dorfe, wo sie mittags anzuhalten gedachten, die Mahlzeit zu bestellen. Der Kutscher bezeichnete es ihm sehr genau und versicherte, der Weg sei nicht zu verfehlen. Sebaldus stieß also sein Tier in die Seite, und sie verloren ihn bald aus dem Gesichte.

Als sie mittags im Dorfe ankamen, fanden sie nicht nur keine Mahlzeit bestellt, sondern, was noch mehr, auch Sebaldus war nicht zu sehen. Mariane und Hieronymus wurden dadurch nicht wenig beunruhigt. Nachdem sie ein paar Stunden vergeblich auf seine Ankunft gehofft hatten, schickten sie einige Bauern auf verschiedenen Wegen aus, die aber zurückkamen, ohne etwas von ihm gehört zu haben, wodurch sich ihre Angst nicht wenig vermehrte. Sie warteten noch diesen und den folgenden Tag auf ihn; da er aber nicht erschien, so reiseten sie in großer Bekümmernis weiter, nachdem sie eine Nachricht für ihn zurückgelassen hatten.

Sie gelangten in kurzem auf dem Gute der Gräfin an. Mariane begab sich sogleich mit Hieronymus nach dem Schlosse. Sie hoffte von der Gräfin mit Vergnügen empfangen zu werden; aber diese Dame war, besonders durch Rambolds tückische Einblasungen, sehr wider die gute Mariane eingenommen, welche daher von ihr sehr kalt bewillkommt wurde. In der Tat war der äußerliche Anschein ganz wider Marianen. Auf die Frage der Gräfin, wie die Entführung veranlasset worden, konnte sie nichts mehr antworten, als sie sei von unbekannten Leuten auf einen unbekannten Weg geführet, ohne daß sie die geringste Veranlassung dazu gegeben habe. Dies klang unwahrscheinlich, und es tat Marianen im Gemüte[313] der Gräfin noch mehr Schaden, daß sie schien die Wahrheit wissentlich verhehlen zu wollen. Die Gräfin warf ihr vor, daß sie ihr ungeachtet ihres vertraulichen Umgangs aus den Vorfällen bei der Frau von Hohenauf und aus ihrer Verbindung mit Säuglingen ein Geheimnis gemacht hätte, obgleich aus Säuglings gefundenen Briefen die Beschaffenheit der beiderseitigen Verbindung genugsam erhelle. Sie erinnerte Marianen an ihre und seine Verlegenheit bei seiner Ankunft und an viele andere kleine, vorher nicht bemerkte Umstände, wozu noch der ungewohnte Eifer kam, womit Säugling sie gegen den Obersten verteidigt hatte. Alles dies zeugte wider Marianens Aussage, die sich durch nichts rechtfertigen konnte als durch ihre Tränen; und die Gräfin wußte wohl, daß Tränen oft die Waffen der Unschuld, aber ebenso oft auch der Deckmantel der Verstellung sind. Hieronymus' Vorstellungen, dem überdies alle vorgefallenen Begebenheiten unbekannt waren, konnten wenig Gewicht haben.

Die Gräfin brach endlich kurz ab und sagte zu Marianen: »Es ist in dieser Sache ein Geheimnis, das ich nicht aufzuklären vermag. Ich liebe Sie und wünsche daher, Sie möchten unschuldig sein. Sind Sie es, so erinnern Sie sich doch aufs künftige, daß ein Frauenzimmer jedem Manne einen ungebührlichen Vorteil über sich einräumt, mit dem sie sich in einen geheimen verliebten Briefwechsel einläßt, wäre es auch in der unschuldigsten Absicht, und daß dadurch Verdacht erregt werden kann, wo sie es am wenigsten wünschet. Eine solche kleine Intrige kömmt einem jungen Mädchen, ich weiß wohl, gar allerliebst empfindsam vor; es dünkt sich so vom gemeinen Haufen unterschieden, einer Sappho oder Hero so ähnlich, wenn es an seinen Phaon oder Leander denken und schreiben kann. Dieses romantische Wesen aber (wozu[314] Sie, liebe Mariane, einige Anlage haben) ist zwar in Büchern und in Gedichten schön und gut; allein wenn es ins gemeine Leben gebracht wird, verursacht es, daß sich niemand in die Lage schickt, in die er vom Schicksale gesetzt ist, sondern eine eigne Welt für sich allein haben will. Ich wenigstens bin keine Liebhaberin der Seltsamkeit und verlange eine Gesellschafterin, die davon ganz frei ist. Die unbekannte Person, die sich für Sie so stark interessiert, wird nicht sogleich ablassen; und dies könnte sich in eine neue Entführung oder sonst in eine unvermutete romanhafte Szene endigen, dergleichen ich in meinem Hause nicht erfahren mag. Wir können also nicht auf dem vorigen Fuße zusammenbleiben. Indes sollen Sie nicht verstoßen sein. Bleiben Sie bei mir, bis Sie auf eine anständige Art versorgt werden; und wenn Sie sich über den letztern unerklärlichen Vorfall rechtfertigen können, will ich selbst für Ihr ferneres Glück Sorge tragen.«

Mariane weinte bitterlich, daß sie erst ihren Vater und nun auch ihre Gönnerin verloren hatte und daß sie, ohne ihr Verschulden, in einen Verdacht kam, den sie nicht widerlegen konnte und der noch dazu unglücklicherweise wahrscheinlich war. Sie überlegte mit Hieronymus, was in ihren jetzigen Umständen zu tun sei, oder vielmehr Hieronymus überlegte es allein; denn die gute Mariane lag in ihrem Zimmer halb sinnlos auf einem Lehnstuhle, in Tränen zerfließend. Hieronymus dachte auf verschiedene Vorschläge, die er wieder verwarf. Endlich besann er sich auf den Freiherrn von D. Dieser würdige Mann veranlaßte eigentlich Wilhelminens Heirat mit Sebaldus54, und Mariane war seine Pate. Er hatte, als er noch am Hofe war, den unüberlegten Vorsatz[315] gefaßt, ein ehrlicher Mann zu sein, nie zu schmeicheln, keinen mächtigen Bösewicht erheben und keinen rechtschaffnen Mann unterdrücken zu helfen. Es konnte also nicht fehlen, daß er nicht endlich ein Opfer der List und der Ränke der Hofschranzen werden mußte und in Ungnade kam; wenn man es Ungnade nennen kann, der Abhängigkeit entzogen und sich selbst, seinen Gütern und seiner Familie wiedergegeben zu werden. Der Herr von D. lebte seitdem auf seinen Gütern im Hildesheimischen im Schoße seiner Familie und als Vater seiner Untertanen. Er hatte sich noch kürzlich nach seiner Pate erkundigt, der er in ihrer ersten Jugend sehr gewogen gewesen war, welches den Hieronymus auf die Gedanken brachte, daß Mariane bei ihm die sicherste Zuflucht finden könnte.

Er überlegte abends mit seinem Reisegefährten, dem Verwalter, wie dieser Vorsatz am besten auszuführen sei. Denn seine Geschäfte riefen ihn auf einen entgegengesetzten Weg; und hier wollte er Marianen auch nicht lassen, weil er wirklich das Geheimnis der Entführung nicht ergründen konnte und noch mehrere Folgen davon befürchtete. Der Verwalter, dem Marianens Unfall sehr zu Herzen zu gehen schien, bestärkte ihn in diesen Gedanken; und um ihn noch mehr zu beruhigen, schlug er vor, er wolle Marianen mit sich nach Hause nehmen, wo sie so lange bei seiner Frau bleiben könne, bis seine Wunde völlig geheilt sei; alsdann wolle er sie selbst zum Herrn von D. bringen, der ihm sehr wohl bekannt sei, auch denselben vorher benachrichtigen.

Hieronymus billigte diesen Vorschlag, mit dem auch die Gräfin, die Marianen im Grunde herzlich liebte und des Herrn von D. vortreffliche Eigenschaften kannte, sehr wohl zufrieden war. Sie nahm von Marianen den freundschaftlichsten Abschied, gab ihr mit mütterlicher[316] Fülle des Herzens die weisesten Lehren und beschenkte sie mit einer ansehnlichen Summe. Mariane empfand, was sie an dieser edlen Dame verlor, küßte ihr weinend die Hände, umarmte ihren Freund Hieronymus, und so stieg sie mit schwerem Herzen in den Wagen und kam in kleinen Tagesreisen in der Wohnung des Verwalters an.

54

Siehe »Wilhelmine«, S. 100.

Quelle:
Friedrich Nicolai: Leben und Meinungen des Herrn Sebaldus Nothanker, Berlin 1960, S. 311-317.
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