Fünfter Abschnitt

[386] Der Geistliche, welcher den Sebaldus anreden wollte, war niemand anders als der rechtschaffene Prediger aus Alkmar. Er hatte wegen der Erbschaft eines Waisen eine[386] Reise nach Amsterdam tun müssen – und erblickte bei diesem zufälligen Spaziergange den Mann, dessen Elend er schon einmal gemildert hatte, in noch größerer Not.

Er war zu dessen abermaliger Errettung jetzt nicht minder tätig als vorher. Es währte nicht eine Stunde, so hatte er schon bei dem Hoofd-Offizier Anzeige getan und kam in Begleitung eines Gerichtsdieners in des Seelenverkäufers Haus, den Sebaldus zu fordern. Nur um wenig Minuten hätte er später kommen dürfen, so war seine menschenfreundliche Bemühung vergeblich. Denn da die Knechte wohl merkten, daß die beiden Geistlichen, aller ihrer Vorsicht ungeachtet, dem Zuge nicht ohne Ursach nachfolgten, so war der Seelenverkäufer eben im Begriffe zu tun, was sonst geschah, wenn er eine Entdeckung befürchtete: nämlich in das Haus eines seiner Mitgenossen den Gefangenen zu schicken, um ihn den Nachforschungen der Obrigkeit zu entziehen. Auch jetzt sollte er verleugnet werden, aber der Gerichtsdiener, der dieses Haus der Tyrannei schon kannte, ließ sich durch keine Einwendungen abweisen. Der Seelenverkäufer hatte daher kaum Zeit, in der größten Verwirrung in den Keller zu laufen, dem Sebaldus seinen Reisesack wiederzugeben und auf die kriechendste Weise denselben fast fußfällig zu bitten, ihn nicht unglücklich zu machen, als ihm schon der Gerichtsdiener mit dem Geistlichen folgte. Der rechtschaffne Prediger umarmte den Sebaldus, und da er aus andern Vorfällen die Gewohnheit eines solchen Hauses wohl kannte, so zahlte er sogleich dem Seelenverkäufer ohne Einwendung eine beträchtliche Summe, die für das Elend von sechs oder sieben Tagen gefordert ward. Aber sobald dieses geschehen, sagte er ihm auch ins Gesicht, daß er alles anwenden würde, seine gewissenlose[387] Behandlung unschuldiger Menschen zur Bestrafung ans Licht zu ziehen. Er ließ sich weder durch des Seelenverkäufers vielfältige Entschuldigungen noch selbst durch Sebaldus' Bitten zurückhalten. Er tat dem Hoofd-Offizier noch eine ausführlichere Anzeige, worauf dieser, seinem Amte gemäß, auf dem Stadthause vor den Schöppen den Seelenverkäufer anklagte. Sebaldus ward über alle Umstände der erlittenen grausamen Begegnung vernommen. Der Seelenverkäufer ward in Verhaft gezogen und nach völliger Untersuchung der Sache ins Raspelhaus gesetzt, obgleich der Prediger vor Endigung des Prozesses nach Alkmar zurückreisen mußte und Sebaldus, frei von aller Rachbegierde, deshalb weiter keinen Schritt tat.

Indes führte der Prediger den Sebaldus, sobald er ihn aus den Händen des Bösewichts erlöset hatte, in das Haus seines Freundes, mit dem er vorher spazierengegangen war. Dieser, ein mennonitischer Lehrer, ein Mann von Verstand und Redlichkeit, stand mit den Kollegianten in Bekanntschaft, unterrichtete den Sebaldus von der Verfassung dieser friedsamen Gesellschaft noch näher und ging nun selbst mit ihm und dem lutherischen Prediger in derselben gottesdienstliche Versammlung. Da stimmten sie alle, die Verschiedenheit ihres Lehrbegriffs und alle streitige Fragen vergessend, in gemeinsamer Andacht das Lob Gottes an und betrachteten gemeinsam erkannte Wahrheit zu ihrer Erbauung. Eine Art des Gottesdienstes, die Sebaldus' Wünsche ganz befriedigte.

Nach der Versammlung begleiteten sie ihn, um das Empfehlungsschreiben aus Rotterdam an den Kollegianten abzugeben, welcher krankheitshalber nicht zugegen gewesen war. Er nahm den Empfohlnen als ein Vater und als ein Freund in sein Haus auf, so daß derselbe bei[388] dieser liebreichen Begegnung in kurzem seine vorigen Widerwärtigkeiten vergaß.

Der Kollegiant war ein wohlhabender Mann, dabei aber auch von ausgebreiteter Gelehrsamkeit und von edlen Gesinnungen, der seine Muße zum Besten der Wahrheit und Tugend anwendete. Er hatte schon verschiedene schätzbare Werke auf seine Kosten drucken lassen und eben jetzt eine gelehrte Zeitschrift angefangen, in der Absicht, den Weg zu bahnen, daß gemeinnützige Religionsbegriffe von leeren Schulspitzfindigkeiten gesondert würden. Er schrieb sie in lateinischer Sprache, weil damals in Holland die Vorurteile für eine hergebrachte Orthodoxie noch so stark waren, daß sich niemand so wie jetzt69 getrauete, Meinungen, die nicht im Kompendium stehen, in der Landessprache vorzutragen. Denn die Gottesgelehrten in allen Ländern lassen immer noch eher geschehen, daß man in der gelehrten Sprache neue Meinungen und Zweifel für sie allein bekanntmache, um ihrer Streitkunst eine stattliche Übung zu verschaffen, als in der Muttersprache, um gemeinnützige Wahrheiten in die Gemüter aller Einwohner eines Landes zu verbreiten.

Sebaldus, der die Arbeit liebte, erbot sich in kurzem selbst, seinem Wirte in dessen Beschäftigungen behilflich zu sein. Er tat dadurch zugleich seiner vorzüglichsten Neigung Genüge, Ideen, die ihm wichtig waren, zu entwickeln und auszubilden.

Der Kollegiant hingegen mußte einen Mann bald liebgewinnen, dessen Neigungen mit den seinigen so sehr übereinstimmten. Sie arbeiteten über verschiedene[389] Materien im Anfange gemeinschaftlich, bald aber blieb die Arbeit dem Sebaldus allein überlassen, da die Krankheit des Kollegianten schnell zunahm. Der rechtschaffene Mann ward immer schwächer und starb nach einigen Monaten. Vorher noch vermachte er seinem Freunde den Vorrat und das Verlagsrecht seiner sämtlichen Werke, besonders der gelehrten Zeitschrift, welche anfing Aufsehen zu machen und daher sehr viel gelesen ward.

Sebaldus beweinte von Herzen den Tod seines Freundes und Wohltäters. Ob er gleich dessen Umgang sehr vermißte, so war doch nun sein Zustand ganz seinen Wünschen gemäß. Er hatte durch den Verkauf der ihm vermachten Werke und durch die Fortsetzung der periodischen Schrift ein zwar sehr mäßiges, aber für ihn hinlängliches Auskommen, war unabhängig, konnte seine Lieblingsneigung, die Spekulation, befriedigen, konnte in Frieden seiner Überzeugung gemäß Gott dienen und war noch nicht wegen Religionsmeinungen angefeindet worden.

So wünschenswert nun diese Lage war, so schien es doch Sebaldus' Schicksal zu sein, daß er, wenn er am meisten Nutzen zu schaffen glaubte, durch einen gering scheinenden Zufall selbst Gelegenheit geben mußte, seinen Zustand zu verschlimmern.

Er hatte schon beim Leben seines Wohltäters sich in der holländischen Sprache festzusetzen gesucht. Nachher trieb ihn die Einsamkeit langer Winterabende auf die Lesung engländischer Bücher, die er schon in seiner Jugend geliebt hatte. Er fand unter andern ein Buch70,[390] dessen Inhalt ihm größtenteils so wohl gefiel, daß er auf den Gedanken kam, es zu übersetzen, weil er meinte, daß es auch den Holländern nützlich sein könnte.

Er beschäftigte sich einige Monate lang mit dieser Arbeit; und da er meist damit fertig war, ging er zu Mynheer van der Kuit, dem Buchhändler, der bisher den Verkauf der sämtlichen Werke des verstorbenen Kollegianten und auch des gelehrten Tagebuchs besorgt hatte, um ihm diese Übersetzung zum Verlage anzubieten.

Van der Kuit unterließ nicht, die gewöhnlichen Schwierigkeiten zu machen: daß er mit Verlag überhäuft, daß der Handel gefallen sei, daß Druck und Papier immer teurer werde, daß man vorher etwas von dem Werke sehen, daß man es allenfalls gelehrten Leuten zur Prüfung übergeben und besonders daß man, der Kunstrichter wegen, erforschen müsse, ob nicht wider die Reinigkeit der holländischen Sprache gefehlet sei.

Auf diese Erklärung zog Sebaldus einige Hefte seiner Übersetzung aus der Tasche. Indem dieses geschah, trat Domine de Hysel, ein gelehrter reformierter Prediger, herein, welchen Sebaldus kannte, weil er ihn oft im Buchladen gesehen hatte. Sebaldus erbot sich also, beiden etwas von seiner Arbeit vorzulesen. Sie traten[391] sämtlich in die Schreibstube des Buchhändlers, und der Übersetzer las wie folget:

69

In den »Vaterlandsen Letter-Oeffeningen«, einer gelehrten Zeitschrift, die in den siebenziger Jahren in Holland herauskam. Die vornehmsten Verfasser derselben waren Kollegianten.

70

»Remarks on men, manners, and things«, by the Author of »The Life of John Buncle«, London, Großoktav. Doktor Amory soll ein Buch unter diesem Titel geschrieben haben, welches aber, wenn es existiert, so rar geworden ist, daß es sich selbst in großen engländischen Buchhandlungen und Bibliotheken nicht findet. Der Verfasser dieser Geschichte bekennet jetzt, daß die Stellen, welche unten als aus diesem Buche übersetzt angeführt werden, von ihm selbst sind; ausgenommen das 22. Kapitel des I. Buchs Mose, welches von dem berühmten Franklin ist, der es dem Perser Saadi soll nacherzählt haben. (Man s. die »Berlinische Monatsschrift«, 1783, Oktober, S. 307) [Anmerkung der vierten Auflage.]

Quelle:
Friedrich Nicolai: Leben und Meinungen des Herrn Sebaldus Nothanker, Berlin 1960, S. 386-392.
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