Dreizehnter Abschnitt

[272] Sebaldus konnte wider sein Vermuten durch Hieronymus nichts vom Aufenthalte seiner Tochter erfahren, und dieser widerriet ihm auch, deshalb zur Frau von Hohenauf zu reisen, weil schon vorauszusehen war, alle Nachforschung würde vergeblich sein. Er tröstete sich[272] indes damit, daß er Gelegenheit hatte, seinen Kommentar der Apokalypse aufs neue zu übersehen und zu vermehren. Nachdem er länger als einen Monat damit zugebracht hatte, fing er an, der müßigen Lebensart überdrüssig zu werden, und wünschte sich wieder eine ordentliche Beschäftigung. In der fürstlichen Residenzstadt hatte er kein Amt zu hoffen. Zu Herrn F. zurückzukehren, trug er kein Belieben, und andere Aussichten konnte er in Berlin nicht wohl haben. Es fügte sich aber, daß ein gewisser Edelmann, der vormal am fürstlichen Hofe Kammerjunker49 gewesen war und nachher im Holsteinischen ansehnliche Güter erheiratet hatte, vom Hieronymus einen Aufseher seiner Bibliothek und seines Antiquitätenkabinetts verlangte. Sebaldus ließ sich leicht bereden, die Stelle anzunehmen. Hieronymus gab ihm einen Empfehlungsbrief an den Kammerjunker mit; und weil er eben an der magdeburgischen Grenze Rechnungen für verkauftes Getreide abzutun hatte, so setzte er sich mit demselben auf die Post, um ihn, so weit sein Weg ging, zu begleiten.

Nachdem sie einige Meilen gereiset waren, gesellte sich zu ihnen ein Mann zu Pferde, der wie ein Verwalter aussah und den Hieronymus als einen Bekannten begrüßte; und in der folgenden Station bestieg den Postwagen, nebst andern unbedeutenden Reisenden, ein Mann ernsthaften Ansehens, der ihnen nach der ersten Begrüßung selbst sagte, er sei ein Gelehrter und sein Hauptstudium die arabische Sprache. Er galt in der Tat, wie man nachher unterderhand erfahren hat, auf ein paar kleinen Universitäten für einen grundgelehrten Mann, der Hebräisch, Arabisch, Persisch, Syrisch, Samaritanisch, Phönizisch und Koptisch aus dem Grunde verstehe. Er hatte nicht allein, gleich andern Kennern der[273] höhern Exegese, das Hebräische durch das Arabische zu erklären gesucht, sondern war auch auf eine Höhe gestiegen, die noch kein anderer Exeget erreicht hatte, nämlich zu dem Versuche, das Arabische durch das Hebräische in helleres Licht zu setzen. Er war in Leipzig gewesen, wo freilich seine gerühmte arabische Kenntnis bei Reisken nicht großen Beifall gefunden haben soll, welcher glaubte, daß sie sich nicht weit über des Golius Lexikon erstrecke. Unser Mann hielt dies aber, wie billig, für Neid, und wandte sich nach Wittenberg. Er hatte eine Sammlung der vermittelst des Arabischen von ihm neuentdeckten Beweissprüche der Bibel bei sich, wodurch die vornehmsten Artikel der Dogmatik noch mehr befestigt würden; und er glaubte dadurch in dieser orthodoxen Stadt gewiß eine ansehnliche Belohnung oder Beförderung zu erhalten. Aber zu seinem Erstaunen hielten auch dortige Doktoren der Gottesgelahrtheit seine neuen Beweisstücke für ganz überflüssig, weil sie meinten, die Dogmatik sei durch die »Augspurgische Konfession« und durch das Konkordienbuch befestigt genug. Zum Glücke konnte ihm seine arabische Gelehrsamkeit so gut dienen als weiland dem Ritter Hudibras seine Logik:


... who would dispute,

Confute, change hands, and still confute.


Er zog also mit Hilfe der arabischen Sprache eine große Menge Erklärungen aus der Schrift, wodurch die vornehmsten Artikel der Dogmatik zweifelhaft gemacht wurden, und war jetzt eben im Begriffe, mit diesem Schatze neuer Entdeckungen ins Brandenburgische zu reisen, wo sie, wie er gewiß glaubte, Ware für den Platz sein müßten.

Dieser Mann wandte sich sogleich an Sebaldus als an einen Gelehrten und suchte ihm einen hohen Begriff von[274] seinen Entdeckungen beizubringen. Er bewies ihm weitläuftig, die hebräische Sprache sei gänzlich ausgestorben, und ohne die arabischen Wurzeln sei an keine Palingenesie derselben zu gedenken. Er legte ihm daher verschiedene ganz nagelneue Erklärungen vor: zum Beispiel, daß im I. Buch Mose, XLIX, Vers 10, wo man einige Jahrhunderte lang den Messias zu finden geglaubt habe, von einer Überschwemmung die Rede sei; daß Buch der Richter, VII, Vers 13, wo Luther von gerösteten Gerstenbroten redet, von einem aus der Scheide gezogenen Schwerte verstanden werden müsse und dergleichen schöne Sächelchen mehr. Sebaldus, der kein Freund vom Exegesieren, am allerwenigsten von einer so ausschweifenden Exegese war, schwieg ganz still, bis ihn der Fremde zu wiederholten Malen fragte, was ihm von dieser Erklärungsart dünke und ob sie nicht völlig neu und sehr sinnreich sei.

Sebaldus sagte ganz kalt: »Neu und sinnreich mag sie sein; aber ich sehe auch wohl, daß man mit einer solchen Erklärungsart leicht Schwarz in Weiß verwandeln und einen Autor sagen lassen kann, was man will.«

Der Fremde, der laute Bewunderung erwartet hatte, fing nochmals an, mit sehr beredten Gründen darzutun, daß die Bedeutungen der hebräischen Wörter verlorengegangen wären und daß man in den Wurzeln der verwandten Sprachen, besonders der arabischen, diese Bedeutungen wieder auffinden müsse.

Sebaldus versetzte: »Es scheint mir ganz unmöglich, die genauen Bedeutungen der deutschen Wörter, wenn sie ganz verlorengegangen wären, nach ein paar tausend Jahren in den Wurzeln der dänischen, schwedischen und engelländischen wiederzufinden. Wer die deutsche Sprache nur in den Wurzeln kennte und zum Beispiel im Dänischen die Wurzelwörter Tisch, Topf und Nacht gefunden[275] hätte und nun daraus schließen wollte, Nachttisch und Nachttopf müßten Sachen von einerlei Art sein und beide nur in der Nacht gebraucht werden, dem würde es gerade so gehen wie unsern heutigen arabischen Philologen. Ich habe kürzlich eine Schrift des berühmten Reiske50 gelesen, der die Unmöglichkeit zeigt, die arabische Sprache jetzt schon auf die hebräische anzuwenden. Er versichert, daß noch nicht der tausendste Teil der nützlichen arabischen Manuskripte bekannt ist und gebraucht werden kann; daß die meisten Theologen, die das Hebräische aus dem Arabischen meistern wollen, aus des Golius Lexikon nur eine sehr dürftige Kenntnis erschnappt haben oder aufs höchste ein paar Suren aus dem Alkoran lesen können; daß wir selbst vom Alkoran nicht einmal so viel wissen, um zu entscheiden, ob der von Maraccius oder von Hinkelmann eingeführte Text nach der Lesart der Schule zu al Kufah oder al Basrah sei, welches, wie er sagt, ein so großer Unterschied ist als zwischen Lutheranern oder Katholiken. Er sagt ausdrücklich,[276] daß man noch einhundert Jahre hindurch gute arabische Bücher drucken und sich bis dahin die Lust, darüber zu philosophieren, ganz vergehen lassen sollte. Er vergleicht, sehr treffend, die Theologen, die jetzt schon das Hebräische aus dem Arabischen erläutern wollen, mit den alten Philosophen, welche die Wirkungen der Dinge in der Natur a priori demonstrieren wollten, ehe sie noch die Natur durchstudieret hatten, und dadurch die lächerlichsten Grillen in die Physik brachten. Habe ich unrecht«, fuhr Sebaldus fort, »wenn ich Reisken, dem größten Kenner der arabischen Sprache, hierin glaube?«

»Ei«, rief der Fremde ziemlich entrüstet, »Reiske kann hiervon nicht urteilen; der Mann versteht zwar etwas Arabisch, aber von dem Hebräischen und andern orientalischen Sprachen weiß er so viel als nichts. Und Sie,[277] mein guter Herr, der Sie in allen diesen gelehrten Sachen ganz und gar unwissend, Sie sollten davon auch ganz und gar nicht urteilen, sondern Ehrfurcht für die Bemühungen gelehrter Männer haben, die durch ihre arabische Philologie der Bibel ein neues Licht anzünden.«

»Ebendeswegen bekümmere ich mich nebst andern Ungelehrten darum«, sagte Sebaldus, »weil es über unsere Haut hergeht. Von der einen Seite wird uns zugerufen, daß wir ohne den geschriebenen Willen Gottes nicht selig werden können; und von der andern Seite kommen gelehrte Leute, erklären uns mit Hilfe von einigen Wurzeln und Konjekturen hinein und hinaus, was ihnen beliebt. Und das sollen wir mit Ehrfurcht glauben, weil wir nicht den Golius nachgeschlagen haben oder nicht den arabischen Alkoran exponieren können? Nein! Das Wohl des menschlichen Geschlechts kann unmöglich auf solchen Wortklaubereien beruhen! Hat man einen seltsamern Zirkel gesehen als den, worin man uns herumführen will? Der Willen Gottes im Alten Testamente ist hebräisch geschrieben. Zu den Zeiten der Apostel und der ersten Christen wußte man nichts davon, daß die Bedeutung der hebräischen Wörter verlorengegangen wäre. In den folgenden Jahrhunderten auch nicht; aber wohl vergaß man den hebräischen Text beinahe ganz und gar und hielt sich an die Vulgata. Als man die hebräische Sprache wieder hervorsuchen wollte, mußte sie Reuchlin von den Juden lernen, ohne zu wissen, daß diese ihr Hebräisch selbst nicht verständen, welches sie sich auch nicht träumen ließen. Auf diese Kenntnis der hebräischen Sprache wurden sowohl Luthers deutsche Übersetzung als auch alle unsere symbolischen Bücher gebaut; wir stritten beinahe zwei Jahrhunderte lang mit bitterm Eifer über darauf gegründete Lehrsätze; und endlich, nach zweihundert Jahren, erfahren wir, daß die Bedeutung[278] der meisten Wörter der hebräischen Sprache verlorengegangen ist und daß wir sie im Arabischen aufsuchen müssen. Nun haben wir wieder zweihundert Jahre zu streiten. Alsdann kömmt vielleicht jemand, der uns berichtet, daß sich die Bedeutung der arabischen Wörter auch verändert hat51, so wie es in allen Sprachen in der Welt gegangen ist, und daß wir diese Bedeutung jetzt in der persischen Sprache52 oder wer weiß wo aufsuchen[279] müssen.« Hier ward Sebaldus durch ein heftiges Geschrei unterbrochen, welches sich auf der Landstraße einige hundert Schritte von dem Postwagen erhob. Der Postillon trieb die Pferde an, um zu sehen, was es bedeute. Was dieses nun für ein Geschrei gewesen, wollen wir künftig berichten und indes zur Geschichte Marianens und Säuglings zurückkehren.[280]

49

Siehe »Wilhelmine«, S. 99.

50

Dieses sehr gelehrten und sehr aufrichtigen Mannes Gedanken, wie man der arabischen Literatur aufhelfen könne und solle, stehen in den von ihm verfertigten Zusätzen zu den Abhandlungen der k. Akademie der schönen Wissenschaften zu Paris, die den elften Teil der deutschen Übersetzung (Leipzig 1751., Großoktav) ausmachen. Diese kleine Schrift verdiente, bekannter zu sein und von vielen gelesen zu werden, zumal zu jetziger Zeit, da wieder allenthalben stark aus der arabischen Gaukeltasche gespielt wird. (Anmerkung der ersten Auflage) – Jetzt sind auf den theologischen Jahrmärkten Deutschlands mit der arabischen Gaukeltasche keine Zuschauer zusammenzubringen. Dagegen wird jetzt gar behende gespielt, aus der Gaukeltasche der Religion innerhalb den Grenzen der bloßen Vernunft. Aus derselben hält man uns ein in der Philosophie postuliertes (d.h. auf deutsch, unbewiesen angenommenes) kategorisches Moralgesetz vor und heißt es uns hier als das Gebot Gottes betrachten, nachdem man uns vorher in der Kritik der praktischen Vernunft versichert hat: Gott sei nichts als eine Idee, welche der Mensch wegen des in ihm liegenden kategorischen Moralgesetzes notwendig annehmen müsse. Das Gebot einer Idee kann wohl nichts als ein Gaukelspiel sein. Als daher im Jahre 1797 Magister Niethammer in Jena auf das Fundament dieser Lehre Doktor der Theologie ward, versicherten die theologischen Philosophen auf eben dieser Universität: »Da Niethammer behauptet habe: Man könne von dem theologischen Standpunkte aus die christliche Religionslehre für Offenbarung ansehen, so sei dies mehr ein erschlichenes Kompliment des neuen Doktors der Theologie an eine christliche Universität als Überzeugungen«, und sie fügen hinzu: »Der Mensch schaffet die Gottheit und die Offenbarung aus sich selbst und für sich allein.« (Siehe die jenaische »Allgemeine Literaturzeitung«, 1797, Nr. 413, S. 805) [Anmerkung der vierten Auflage].

51

Wenn der Fremde wieder zum Worte gekommen wäre, so hätte er vermutlich standhaft behauptet, daß keine einzige Bedeutung eines einzigen arabischen Worts jemals sich verändert hätte. Dies versicherte wenigstens im Jahre 1771 Magister Schelling, welcher, sitzend in seiner Studierstube im herzoglichen Stifte zu Tübingen, unwidersprechlich überzeugt war, daß die arabische Sprache »noch jetzt eben dieselbe ist, die sie bald nach der Zeit ihrer Entstehung war«, und ein feines Kapitel »von der wunderbaren Erhaltung der Arabischen Sprache in ihrer ersten Reinigkeit von den allerältesten Zeiten bis auf den heutigen Tag« zu erzählen weiß, wie aus seiner »Abhandlung von der Arabischen Sprache« (Stuttgart 1771, Oktav), besonders S. 16 bis 21, des mehrern zu ersehen. Freilich der Reisende Niebuhr, welcher in Arabien gewesen ist, berichtet, die jetzige arabische Sprache sei von der alten wie das Italienische vom Lateinischen unterschieden; die jetzigen arabischen Gelehrten müßten die Sprache des Alkorans und anderer Schriften in ihren Schulen als eine tote Sprache lernen; die jetzige arabische Sprache sei so wie alle Sprachen des Erdbodens in viele Dialekte verteilt und dergleichen mehr. Aber was tut das zur Sache? Niebuhr ist ja ein ungelehrter Ingenieur und kein gelehrter Philologe!

52

Der gelehrte Engländer Sir William Jones hat in der Vorrede zu seiner persischen Grammatik schon einen Wink gegeben, den ein deutscher Professor der Philologie, der vor seinen Zuhörern mit neuen Entdeckungen glänzen will, bald wird mißbrauchen können

Quelle:
Friedrich Nicolai: Leben und Meinungen des Herrn Sebaldus Nothanker, Berlin 1960, S. 272-281.
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