Dritter Abschnitt

[197] Sie waren unter dergleichen Gesprächen durch Spandau gegangen und kamen unvermerkt bei Charlottenburg an. Sebaldus erblickte mit Vergnügen jenseit der Spree, im königlichen Garten, die lange Allee dichtbelaubter Kastanienbäume, worunter einige einzelne Spaziergänger auf und ab wandelten. Er blieb auf der Brücke stehen, um noch einmal darnach zurückzuschauen. Das Schloß hingegen ließ er liegen, ohne daß ihm auch nur eingefallen wäre, zu fragen, was für ein großes Gebäude dies sei. So sehr ward er von den Schönheiten der Natur gerührt, und so wenig aufmerksam war er auf alle Pracht der Kunst.

Je weiter sie in den berlinischen Tiergarten kamen, desto mehr ward Sebaldus entzückt. Es war in der Nacht ein starker Regen gefallen, welcher den Sand, womit die Natur in diesen Gegenden so freigebig gewesen ist, zum Stehen gebracht und den Staub von den Baumblättern abgewaschen hatte, den tausend Frauenzimmerschleppen nebst einer verhältnismäßigen Anzahl von Wagenrädern und Pferdefüßen bei trockenem Wetter im Tiergarten zu erregen pflegen. Den Vormittag hatte sich das Wetter aufgeklärt, und der Bäume mannigfaltiges Grün ward durch den heitern Sonnenschein und durch die völlig reine Luft noch mehr erhoben.

Die Wanderer sahen die glückliche Mischung dunkler Fichten mit schlanken Ulmen, hellgrünen, weißrindigen Birken und freundlichen Akazien, denen hundertjährige majestätische Eichen zum Hintergrunde dienen. Melancholische Gänge von dichtem Lärchenholze und von düstern Eiben führen auf grüne Säle, mit Statuen geziert und mit Hecken von jungen Eichen und von immergrünem Nadelholze umkränzt. Sie traten in Gänge, beschattet[197] von Linden und breitbelaubten Platanusbäumen, hinter welchen dichte Gebüsche von Erlen und Espen die feuchten Gründe anfüllen; neben ihnen der dichtere Wald, wo einsam der sokratische Ahorn wächst und die Pappel und der Masholder, wo die weit sich ausbreitende Buche ihre gestreckten Äste wiegt und der Tannenfichten schlanke und gerade Stämme ihre erhabene Krone einzeln himmelan strecken. Der frische Geruch des Nadelholzes, vom Regen ausgelockt, und balsamische Lindenblüte erquickten die Wanderer; die Aussicht begrenzte der benachbarte Spreestrom und die aufgespannten Segel der auf ihm hinabgleitenden Schiffe.

So kamen sie endlich gegen drei Uhr auf den Platz bei den Zelten, den gewöhnlich sonntags nachmittags eine Menge Spaziergänger anfüllt. Zwar war noch nicht die modische sechste Stunde da, welche in dem Zirkel des Tiergartens die schöne Welt zusammenbringt, um zu sehen und gesehen zu werden. Die Exzellenzen und die gnädigen Damen hatten sich eben zur Tafel gesetzt. Die Kenner im Essen kaueten noch an den reichgewürzten Frikasseen, schmeckten die zusammenkonzentrierten Säfte der feinen Ragouts in Schüsseln, mit Asa foetida gerieben, und zogen im voraus das Fumet des raren Wildes in sich, das ihrer Zähne wartete. Die reichen Kapitalisten waren eben vom Burgunder und sechsundzwanziger Rheinweine gesättigt und begannen, den Peter Semeyns, Syrakuser, Rivesaltes und Capwein beim Desserte aus kleinen Gläsern zu schlürfen. Die schönen Damen bürgerliches Standes schickten sich an, zu Kaffeevisiten zu fahren, und ordneten die Geschichte des Tages, so wie sie zu erzählen wäre, in ihrem Kopfe zusammen; und die französische Kolonie war noch in der Vesperpredigt.[198]

Kurz, es war drei Uhr und also von der schönen Welt noch wenig zu sehen; hingegen wimmelte der Platz von den glücklichen Söhnen der Erde, welche alle Sorgen der Woche am Sonntage völlig vergessen und sich und ihr Leben bei einem Spaziergange und bei einem geringen Labetrunke herzlich genießen. Arbeiter auf Weberstühlen und in Schmiedeessen füllten die Zelte an und ließen ihren Groschen unter lautem Gelächter aufgehen oder steckten ernsthaftiglich über das gemeine Beste ihre Köpfe zusammen, weissagten neue Auflagen und fällten Urteile über Gerüchte von bevorstehenden Kriegen.

Der Zirkel, der nach drei Stunden der Schauplatz der Schönen vornehmen Standes sein sollte, war jetzt im Besitze des gemeinen Mannes, im besten Anputze und voll fröhlichen Mutes. Da war mancher gesunder Jüngling im neugewendeten Rocke und mit goldner Troddel am Hute köstlich geputzt, neben ihm in silberbebrämter Mütze seine rotbäckige Liebste, die zur Feier dieses ihm längst versprochenen Spazierganges ihre sämtlichen sechs Röcke übereinandergezogen und die neuen kalmankenen Schuhe nicht vergessen hatte. Hinter ihnen, das Bild der ehelichen Verträglichkeit, ein ehrlicher Handwerksmann, der seinen jüngsten Knaben im langen Rocke auf dem Arme trug, indes die Mutter ihres Mannes Stock in der rechten Hand führte, zur Linken ihre fünfzehnjährige Tochter in der Schönheit der Jugend, mit niedergeschlagenen Augen, unter der emporstehenden Haube sanft hervorblickend. Die große Allee von der Stadt her war bedeckt von Spaziergängern zu Fuße und zu Pferde, und einige Wagen brachten bis ans Tor wohlbeleibte Tanten und bürgerlich erzogene Nichten, die nur die Reize eines angenehmen Spazierganges suchten und auf wohlfrisierte Köpfe und Aufsätze nach der neusten Mode achtzuhaben nicht waren gewöhnt worden.[199]

Sebaldus' Stirn erheiterte sich bei dem Anblicke so vieler vergnügten Leute. Des Pietisten Stirn aber runzelte sich vor geistlichem Verdrusse. »Siehe da«, rief er aus, »siehe da, die Kinder Belials, wie sie den Lüsten des Fleisches nachziehen! Wie sie den Weg der Sünden gehen, reiten und fahren! Immer gerade in den höllischen Schwefelpfuhl hinein!«

»Behüte Gott!« sagte Sebaldus. »Ich finde nichts Sündliches darin, daß diese Leute den herrlichen Tag genießen, den uns Gott gibt; soweit ich sehen kann, ist ihr Vergnügen sehr unschuldig.«

»Oh, wie sündlich«, sagte der Pietist mit entflammten Augen, »das ist eben des Teufels Lockspeise, wenn er uns mit dem weltlichen Vergnügen ankörnen kann. Ein recht echtes Gnadenkind soll kein anderes Vergnügen haben, als sein eignes Elend zu kennen und zu fühlen, was es heißt, ein armer Sünder zu sein.«

Sebaldus, dem diese gesalbten Weidsprüche nicht gefielen, antwortete nichts, würde auch nicht zum Worte gekommen sein; denn der Pietist, den die Herzlichkeit zum Heilande ergriffen hatte, begann, die Vorübergehenden zu ermahnen, ihnen die Abscheulichkeit des Spaziergehens an einem schönen Sonntage vorzustellen und dafür das Seitenhöhlchen anzupreisen, worin sie recht selige Spaziergänge halten könnten.

Einige gingen vorbei, beinahe ohne ihn zu hören, andere gafften ihn an, ohne zu wissen, was sie aus ihm machen sollten, andere schüttelten den Kopf. Endlich versammelte sich doch allerhand Pöbel, welcher schrie und lärmte und vom Tollhause zu reden anfing, ja einige hoben Erdklöße auf und warfen sie über ihn weg.

Sebaldus fürchtete jetzt, der Auftritt möchte ernsthafter werden, und suchte seinen Reisegefährten von seinem Vornehmen abzuhalten, diesen aber hatte der[200] geringe Anschein, eine Art von Märtyrer zu werden, den Kopf angeflammt; er erhob seine Stimme noch mehr, um den Vorübergehenden ein Wort ans Herz zu legen.

Endlich geriet er an einen Menschen, der nach seinem braunen Rocke und rund um den Kopf herum abgeschnittenen Haaren nichts anders als ein Schlächter oder Gerber sein konnte. »Mein Freund«, redete er ihn an, »Er gehet, um sich die Zeit zu vertreiben. Oh, wenn Er wüßte, wie wohl dem ist,


Der da seine Stunden

In den Wunden

Des geschlacht'ten Lamms verbringt.«


»Herr«, sagte der Kerl mit starren Augen, »was kann mir das helfen? Ich bin vorigen Sonntag im ›Lamme‹ gewesen, aber das Bier war sauer.« Und damit ging er fort. Der umstehende Pöbel schlug ein Gelächter auf und verließ unsre Reisenden. Der Pietist verstummte.

Die Enthusiasten pflegen in der Hitze ihres Eifers gewöhnlicherweise einen Kotregen und allenfalls auch einige Faustschläge nicht zu achten, wenn es ihnen nur gelingt, Aufmerksamkeit zu erregen. Werden sie aber trocknerweise ausgelacht und niemand bleibt bei ihnen stehen, so kühlet sich der Eifer ab, und sie begnügen sich allenfalls, zwischen den Zähnen murmelnd, die dem Worte ungehorsamen Weltkinder dem Teufel zu übergeben.

So war es auch hier. Der Pietist schwieg mürrisch still, und Sebaldus, da sie indes ins Tor traten und Unter den Linden fortgingen, genoß die Schönheit dieser Allee, sog den Blütenduft ein und freute sich über die fröhlichen Gesichter, die ihm allenthalben entgegenkamen.

Sie gingen einige Straßen stillschweigend fort und bei einer Kirche vorbei, worin sie noch predigen hörten.[201]

»Siehe da«, rief der Pietist aus, »wie leer der Weg zum Gotteshause ist, und wie angefüllt war der Weg zu den Häusern des Teufels! Oh, wie ist doch alle Gottesfurcht, alle Liebe zum Heilande in dieser großen Stadt ganz ausgetilget! Wie wandelt doch jedermann im Pfade der Ruchlosigkeit, läuft dem Teufel gerade in den Rachen und stürzt sich in das ewige Verderben!«

Sebaldus schaute ungeduldig einigemal rechts und links um sich.

»O Stadt«, fuhr der Pietist fort, »die du bist wie Sodom und Gomorrha, wie bald wird Gott seinen feurigen Schwefelregen über dich ergießen! Und dies wäre schon lange geschehen, wenn nicht wenige Gerechte noch in dir wären, um derentwillen dich der Herr schonet! Ja, mein Freund!« (Hier fing er an zu weinen.) »Es gibt hier einige erwählte Seelen, die bis über den Kopf in den Wunden des Lammes sitzen, die zu einem Pünktlein, zu einem Stäublein, zu einem Nichts geworden sind und sich nur in das blutige Lamm verliebt haben, diese halten noch die verworfene Stadt, daß sie nicht fällt.«

Indem er dieses sagte, blieb er plötzlich an einer Ecke stehen, zog des Sebaldus alten Überrock aus und gab ihn zurück. Sebaldus bat ihn, denselben so lange zu behalten, als er ihn brauchte. »Nein«, sagte er, »ich trete nunmehr bei einem lieben Bruder ab. Wie wird dem sein, wenn er an meiner Nacktheit siehet, was ich um des Heilandes willen gelitten habe! Er wird dann tun, soviel ihn der Heiland heißt.« Hier drückte er dem Sebaldus die Hand, wünschte ihm den Segen des Herrn, verließ ihn, klopfte an ein vierzig Schritte davon entferntes großes, wohlgebautes Haus und ging, nachdem es geöffnet worden, hinein.

Sebaldus stand noch an der Ecke mit dem Überrocke auf dem Arme, und nachdem er denselben angezogen[202] hatte, befand er sich an einem sehr heißen Nachmittage nichts besser. Er ging voller Gedanken die Straße wieder herunter, die er gekommen war, und da er an die Kirche kam, so trat er hinein, weil er nichts Bessers zu tun wußte.

Er fand die Kirche wider Vermuten so gestopft voll, daß es ihm einige Mühe kostete, sich bis dahin durchzudrängen, wo er den Prediger deutlich verstehen konnte. Dies war ein junger Kandidat voll zierlichen Anstandes, der eine erbauliche Rede von der wahren christlichen Liebe beinahe zu Ende gebracht hatte und jetzt eben bei der Nutzanwendung war. Das Herz des guten Sebaldus erweiterte sich wieder, da er die vielen schönen Lehren des Predigers und die Aufmerksamkeit der zahlreichen Zuhörer betrachtete; und die finstere Vorstellung von Berlin, welche seines Reisegefährten Bericht bei ihm verursacht hatte, fing an, in seinem Geiste sich etwas aufzuheitern.

Quelle:
Friedrich Nicolai: Leben und Meinungen des Herrn Sebaldus Nothanker, Berlin 1960, S. 197-203.
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