Zehnter Abschnitt

[258] Des Majors Wunde schien im Anfange nicht gefährlich, aber nach einigen Tagen verschlimmerten sich die Umstände sehr. Die Entzündung und das Wundfieber wurden heftiger, daher der Arzt erklärte, daß sehr wenige Hoffnung zur Wiedergenesung sei. Die Freunde des Majors waren äußerst niedergeschlagen; der gute Franz aber, der über dreißig Jahre in des Majors Diensten gestanden hatte, weinte unablässig, so daß ihn der Kranke selbst tröstete, der allein des Wundarztes Nachricht mit Gleichmut anhörte. Die geschwinde Abnahme seiner Kräfte ließ nur allzusehr befürchten, daß der Wundarzt richtig geurteilt habe.

Eines Tages ward der Kranke besonders schwach. Gegen Mittag aber fiel er in einen sanften Schlummer, worin er einige Stunden verblieb, und schien darauf äußerlich ein wenig erquickt. Franz, sehr traurig über dessen mißlichen Zustand, ergriff die Gelegenheit, da der Major heiteres Gemüts und er mit ihm allein war, nach vorgängiger Entschuldigung eine Frage zu tun, die ihm schon lange auf dem Herzen gelegen hatte, nämlich:

Ob der Herr Major nicht das Sakrament nehmen wolle.

»Lieber Franz, du meinst es recht gut«, sagte der Kranke, »aber wozu? Ich habe das Abendmahl immer nur genommen, wenn entweder das Regiment kommunizierte oder wenn ich besondere Ursache fand, mich zu sammeln und ernsthaft über mich nachzudenken; aber glaube mir, Franz, ein Krankenlager von drei Wochen gibt an sich selbst Gelegenheit genug zum ernsthaften Nachdenken.«

»Aber, lieber Herr Major, ein Mensch muß doch so schwer sterben, wenn er nicht gebeichtet hat.«[258]

»Höre nur, mit der Beichte habe ich niemals etwas zu tun gehabt. Anstatt der Beichte sagte ich allemal laut und ernstlich: Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz und gib mir einen neuen gewissen Geist, verwirf mich nicht von deinem Angesichte, und sei mir gnädig! Damit war mein Feldprediger zufrieden, und ich denke, Gott wird auch damit zufrieden sein, wenn ich's jetzt sage. Aber höre, Franz, ich will jetzt tun, was ich sonst bei der Beichte tat, ich will dich wegen alles dessen um Vergebung bitten, was ich dir kann zuwidergetan haben; vergib es mir.«

Hier reichte er Franzen die Hand.

Franz küßte und benetzte sie mit seinen Tränen und sagte schluchzend: »Ach, Herr Major, ich kann Ihnen nichts vergeben, Sie sind immer mein guter Herr gewesen und haben an mir mehr Liebe bewiesen, als ich verdiente. Vergeben Sie mir nur, wenn ich zu vorschnell gewesen bin. Ich dachte doch, man könne nicht ruhig sterben, wenn man nicht von einem geistlichen Herrn ordentlich vorbereitet würde. Als Sie daher schliefen, lief ich geschwind zu einem Prediger, der nicht weit von hier wohnt, aber er war nicht zu Hause.«

»Du hast's recht gut gemeint, Franz; da er aber nicht zu Hause war, ist's nun auch ebenso gut. Ich habe mit diesen Herren nicht gern etwas zu tun, wenn ich sie nicht vorher genau kenne. Ich lag, du weißt es, hart verwundet auf dem Schlachtfelde bei Torgau an zwölf Stunden, ehe du mich unter den Toten und Blessierten herausfandest. Damals konnte mir kein Feldprediger zusprechen, und ich war zum Tode ebenso bereit wie jetzt.«

Indem er dieses sagte, trat Sebaldus herein, um ihn zu besuchen.

»Sie kommen, mein lieber Freund«, sagte der Kranke, »gerade zur rechten Zeit. Ich werde von diesem Lager[259] nicht wieder aufkommen, ich weiß es und bin gefaßt zu sterben. Nun meint mein guter Franz« (er drückte demselben die Hand), »es sei nötig, daß ich von einem Geistlichen zum Tode bereitet würde. Dies wünschte ich von niemand lieber als von Ihnen, mein Freund. Tun Sie, als ob Sie mein Beichtvater wären. Fragen Sie mich, lehren Sie mich, beten Sie mit mir.«

Sebaldus sagte sehr gerührt: »Der Zuspruch auf dem Totenbette ist allezeit eine sehr schwere und zuweilen eine vergebliche Sache. Es kann daselbst kaum noch eine Veränderung der Gesinnung vorgehen, wenn sie nicht vorher im ganzen Leben vorbereitet ward. Glaubens lehren zu beweisen, ist die Zeit zu kurz und der Geist nicht heiter genug, Pflichten einzuschärfen ist zu spät. Die Schwachen aufrichten kann ein menschenfreundlicher Prediger noch am leichtesten«

Major: Herr, ich bin nicht schwach! Schonen Sie meiner gar nicht, sondern gehen Sie mit mir um, wie ein Pfarrherr am Totenbette tun soll, recht wie es vorgeschrieben ist.

Sebaldus: Ich würde mich wahrlich freuen, wenn ich zur Beruhigung eines Mannes, den ich so sehr wertschätze, etwas beitragen könnte. Da Ihr Gemüt gelassen ist, so ist es vielleicht am nützlichsten, wenn ich Sie an Wahrheiten erinnere, die allen Menschen ehrwürdig und wichtig sein müssen. Ich kann nicht wissen, ob Sie dieselben in gehöriger Verbindung gedacht haben; wäre dieses nicht, so würden vielleicht ihre Wirkungen vermehrt, wenn ich durch eine kurze Überlegung eine Lücke zwischen denselben ausfüllen könnte. Dieserhalb wünschte ich Ihre Gesinnung über gewisse Lehrpunkte zu wissen.

Major: Ganz recht, examinieren Sie mich nur, ich will auf alles antworten.[260]

Sebaldus: Sie glauben vermutlich, daß ein Gott ist, der Himmel und Erde geschaffen hat?

Major: Ja, freilich! Wer sollte nicht an Gott glauben?

Sebaldus: Sie glauben auch, daß Gott die Welt und alle Dinge darin mit einer weisen Vorsehung regieret?

Major: Freilich! Ohne Gott geschiehet nichts.

Sebaldus: Und daß nach diesem Leben noch ein künftiges zu gewarten ist?

Major: Nein, mit dem Tode ist alles aus.

Sebaldus: Ich habe zuweilen aus Ihren Reden geschlossen, daß Sie eine solche Meinung hegten, ohne daß es sich gefügt hätte, näher darüber zu sprechen. Wäre diese Meinung wahr, so blieben wir, wie Sie selbst nicht leugnen werden, in vielen Begegnissen des Lebens völlig trostlos. Gott hat aber, wie ich glaube, so wie er kein Übel ohne zu einem guten Zwecke zuläßt, als ein gütiger Vater für jedes Übel auch den Trost in die Natur gelegt. Dies veranlaßte mich schon vor langen Jahren, über die von Ihnen gehegte Meinung näher nachzudenken; ich weiß daher, daß in der Vernunft und in der Schrift viele Gründe zu finden sind, die sehr bald das Gegenteil wahrscheinlich und bei reiferm Nachdenken gewiß machen.

Major: Herr, ich habe immer gedacht, daß die Vernunft nicht einmal weiß, wenn ein Toter recht tot ist; wie sollte sie wissen, was nach dem Tode vorgeht? Wenigstens meine Vernunft reicht so weit nicht. Was die Bibel betrifft, so steht viel Gutes darin. Ich habe alles gelesen. Es läßt sich vieles hier in diesem Leben recht wohl nutzen. Aber von einem künftigen Leben so wie von so viel andern unbegreiflichen Dingen glaube ich nichts, wenn's auch in einem Buche steht.

Sebaldus: Wenn Sie also die Bibel gelesen haben, glauben Sie dann, daß darin der Willen Gottes enthalten ist, dem wir folgen sollen?

[261] Major: Gottes Willen ist, daß ein Mensch ein rechtschafftner Kerl sein und nicht unrecht tun soll. Das weiß jeder, und es steht auch in der Schrift. Das übrige mag für Euch Herren Geistlichen gut sein. Ein Soldat kann nicht so vielerlei Dinge in seinen Kopf kriegen, worüber Ihr Euch disputiert.

Sebaldus: Sie gestehen also, daß kein Mensch unrecht tun sollte. Gleichwohl tun die meisten, ja man kann wohl sagen alle Menschen mannigfaltig unrecht. Wie ist es nun, wenn wir mit unsern Sünden Bestrafung verdient hätten?

Major: So mögen wir sie leiden. Wer heißt uns sündigen?

Sebaldus: Diese Frage läßt sich vielleicht nicht so geradehin entscheiden. Denn wenn nun unsere Natur so unvollkommen ist, daß wir nicht ohne Sünde bleiben können? Wenn wir nun zu schwach sind, den Willen Gottes vollkommen zu befolgen?

Major: Ei, dann kann Gott auf uns nicht zürnen! Er hat uns selbst gemacht und wahrhaftig recht mit großer Klugheit gemacht, daß nichts an uns ohne Ursache ist. Wie könnte er also von uns etwas verlangen, was wir nicht leisten könnten? Sehen Sie hier meinen Hühnerhund, der ist ein Hühnerhund und weiter nichts: er wird vor einem Huhne stehn; aber wenn ich verlangen wollte, daß er eine Sau stellen sollte, so kann ich nicht sagen, der Hund sündigt, wenn er's nicht kann.

Sebaldus: Sie schließen wohl allzu rasch. Wenn wir Ihre Einwendung gründlich untersuchen wollten, würden wir langsamer zu Werke gehen müssen, dazu fehlt uns jetzt aber die Zeit. Lassen Sie uns auf das künftige Leben zurückkommen. Überlegen Sie wohl, daß, wenn es wegfällt, auch alle Belohnungen und Bestrafungen wegfallen, welche Tugend und Laster, wie es offenbar ist, in[262] diesem Leben nicht in angemessenem Maße erhalten. Und damit würden also auch sehr kräftige Bewegungsgründe zur Tugend wegfallen.

Major: Warum das? Ein ehrlicher Kerl muß recht tun, weil es recht ist, und nicht, weil er dafür belohnt sein will. Werde ich belohnt, so ist's gut; werde ich es nicht, so muß ich doch rechtschaffen handeln. Ich habe im letztern Kriege oft mein Leben gewagt, ob ich gleich immer Major geblieben bin. Oder glauben Sie, Herr, daß ich nur deswegen den Schurken da oben zur Rede gestellt habe, damit ich dadurch in jenem Leben könnte Oberstleutnant werden?

Sebaldus: Belohnungen sollen aber doch Folgen guter Taten sein. Auch in diesem Leben verlangt ein Soldat für seine Tapferkeit vom Könige Belohnung und ist unzufrieden, wenn er sie nicht bekommt.

Major: Ei, ist's nicht Belohnung genug, wenn ich weiß, daß ich recht tue? Und dann, Herr, ist's mit Gott eine ganz andere Sache als mit dem Könige. Der Herr ist ein Mensch wie ich und kann nicht alles wissen, sonst wäre ich auch wohl weiter. Aber Gott weiß alles, und da hat's gute Wege, der wird mir schon zukommen lassen, was mir gehört.

Sebaldus: Setzen Sie nun aber einmal auf einen Augenblick voraus, daß ein künftiges Leben wäre, welches doch, wie Sie gestehen werden, an sich nicht unmöglich ist; setzen Sie voraus, daß alle unsere Handlungen, gute und böse, auch in jenem Leben Folgen haben und daß diese Folgen, wenn uns gleich die Art noch unbegreiflich ist, überschwenglich groß sein können. Wird nun derjenige nicht sicherer gehen, der seine Handlungen nach einer strengen Richtschnur so einrichtete, wie er sie auch in jenem Leben zu verantworten gedenkt, als derjenige, der in der Meinung, es sei nach dem Tode[263] alles aus, alles tat, was ihm beliebte, und in dieser Sorglosigkeit vieles beging, das er nicht rechtfertigen und dessen Folgen er in jenem Leben nicht ändern kann? Und überlegen Sie, welcher unter beiden in dieser Welt ein besserer Bürger und ein rechtschaffnerer, tugendhafterer Mensch sein werde.

Der Major sah seinen Freund starr an und schwieg Sebaldus auch.

Endlich brach der Kranke aus:

»Herr, daran habe ich noch in meinem Leben nicht gedacht. Ein Soldat hat auch nicht Zeit, so weit hinzudenken. Aber ich besinne mich jetzt eben. Wenn auch ein künftiges Leben und ein Jüngster Tag ist, so glaube ich, ich werde dann ein Herz fassen und weder vor Gott noch vor dem Teufel erschrecken. Laß ihn kommen, den Teufel, wenn er mich anklagen will, er muß mich doch vor Gott anklagen; und der weiß, daß ich nie wissentlich etwas Böses getan habe. Oh, du mein allmächtiger Schöpfer, würde ich sagen« (er richtete sich ein wenig auf und faltete seine Hände), »du weißt, daß ich nie den hilflosen Unglücklichen gedrückt, daß ich nie Witwen und Waisen betrübt, daß ich nie wissentlich, diese Hände zum Bösen gebraucht habe. Zwar« (hier schwieg er ein wenig still und schlug seine Augen nieder), »ich hätte noch mehr Gutes tun können! Aber« (hier hob er seine Augen abermals empor), »allgütiges Wesen, ich werfe mich in deine Hände. Du hast mich zum Menschen machen wollen, also sollte ich wohl nicht ganz vollkommen sein. Ich verlange auch nicht, wenn ein Himmel ist, im Himmel obenan zu stehen.«

Hier sank er, von der Anstrengung entkräftet, sanft zurück, die Luft fehlte ihm, er erholte sich und sprach noch mit stammelnder Stimme, indem er dem Sebaldus die Hand drückte:[264] »Ach, mein Freund, wenn Gott ein Regiment von Seligen hat, so wäre es schon genug, wenn unsereiner darin nur ein Gemeiner werden könnte.«

Er wollte noch etwas sagen, aber der Stickfluß nahm überhand: er fing an zu röcheln, und nach einigen fruchtlosen Versuchen, ihm zu helfen, verschied er; und Sebaldus drückte ihm weinend die Augen zu.

Quelle:
Friedrich Nicolai: Leben und Meinungen des Herrn Sebaldus Nothanker, Berlin 1960, S. 258-265.
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