II. Haussuchung

[23] »Auf des Lagers Kissen schlummert

Kalt die lieblichste der Leichen.«

F. Freiligrath.


In der Residenz, in der Stube Amaliens, der Gattin Gustav Thalheims, stand ein kleiner schwarzer Sarg.

Eine schöne blasse Kinderleiche lag darin im weißen Sterbekleidchen, einen Rosenkranz in den blonden Locken – die ganze kleine Gestalt zur Hälfte mit Blumen überdeckt.

Die kleine Anna war gestorben. Amalie kniete an dem Sarge ihres einzigen Kindes.

Der Schmerz einer Mutter ist riesengroß und meerestief, wie kaum ein zweiter in der Welt. Fast jede Mutter, die ein todtes Kind beweint, wird zu einer heiligen mater dolorosa, vor welcher selbst jeder Fremde in ehrfurchtsvoller Ferne stehen bleibt. Eine heilige Würde ist in dem Schmerz einer Mutter, welche an das Wehe denkt, unter[23] dem sie das Kind geboren, welches nun wie ein Theil von ihr selbst losgerissen worden und dem Grabe verfallen ist, während sie doch unter den Tausend Dolchstichen, unter welchen ihr blutendes Herz zuckt, noch beten kann: »Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen – sein Name werde gepriesen.«

In Amaliens Schmerze war das Gepräge dieser ehrwürdigen Heiligkeit verdunkelt. Erst jetzt, als ihr das anvertraute Kleinod für immer entrissen war, begann sie zu empfinden, welches Glück sie in demselben besessen, und es traf sie als ein entsetzlicher Vorwurf ihres eigenen Innern, daß sie das Kind nicht mit wahrer Mutterzärtlichkeit geliebt, weil es das Kind eines ungeliebten Vaters war. Und so war denn ihr Schmerz eine anklagende Verzweiflung, denn sie sagte sich selbst, daß ihr das Kind vielleicht nicht genommen worden wäre, wenn sie ihm eine bessere, zärtlichere Mutter gewesen; ja, sie machte sich selbst den Vorwurf, vielleicht auf eine leicht verletzte Gesundheitsregel nicht genug geachtet zu haben und dadurch selbst sogar vielleicht mit Theil an der schnellen und so unheilvollen Krankheit zu haben. So brachte ihr der Schmerz nicht den heiligen, stärkenden Thau frommer Ergebung und Erhebung, sondern nur verwundende Stacheln, welche sie sich selbst wie im grausenhaften Spiel wechselnd in ihr blutendes Innere stieß und herausriß.[24]

Als sie jetzt in dieser Stimmung an dem kleinen Sarge stand, in welchem in wenig Stunden ihr die schwarzen Träger auf immer ihr einziges Kind, ihr bestes Besitzthum forttragen würden, ging die Thüre auf und ein junger Mann in der grünen Uniform eines gemeinen Soldaten trat herein. Er war groß und schlank gewachsen, hatte lichtbraunes, lockiges Haupthaar und langen Schnurrbart – ein freundliches offenes Gesicht, das Munterkeit und Gutmüthigkeit zeigte. Erschrocken blieb er zwischen der Thüre stehen, als er sah, daß er in die Engelkammer eines verblichnen Kindes gekommen – dann ging er auf Amalien zu, nahm ihre abgezehrte Hand, schüttelte sie treuherzig und sagte, indem eine helle Thräne auf seinen Schnurrbart rollte:

»Das ist ein sehr trauriger Empfang, Frau Schwägerin! – Kennst Du mich denn noch?« fügte er nach einer Weile hinzu, wo sie wortlos dagestanden und ihm mechanisch ihre Hand überlassen hatte.

»Ja, Bernhard,« sagte sie. »Es ist gut, daß Du mich nicht vergessen hast und mit zu mir kommst, es ist gut – Du darfst doch wohl meiner Anna das letzte Geleit mit geben?«

»Ja, ich will's – sieht wie ein Engel aus, das arme Kind, sieht wahrlich dem Vater ähnlich.« Der Eingetretene, der dies sprach, war Bernhard Thalheim,[25] der jüngste der drei Brüder. Er war unter die Soldaten gegangen, weil er kaum wußte, was er sonst hätte ergreifen sollen. Er sah den Brüdern ähnlich, aber seine Gesichtszüge hatten nicht den schwärmerischen, ernsten Ausdruck jener Beiden, er sah freundlicher, wenn man so sagen kann, einfach-gutmüthiger, aber auch ungleich unbedeutender aus, als sie. Er hatte ein vortreffliches Herz, aber seine geistigen Fähigkeiten, wenn er sie gleich den Brüdern besaß, hatten doch nur eine höchst untergeordnete Ausbildung erlangt – er schien aber damit glücklicher zu sein als Jene, denn, wie gesagt, sein ganzes Ansehen zeigte von einem heitern, lebensfröhlichen Charakter.

»Weiß es der Bruder schon?« fragte er jetzt leise mit betrübtem Tone.

Amalie schüttelte das Haupt und sah starr vor sich nieder.

»Es wird ihn sehr erschüttern!« seufzte Bernhard. –

»Schreib Du es ihm – ich kann es nicht!« ächzte sie.

»Ein trauriges Geschäft – aber wenn du willst – nun da will ich es Dir schon zu Liebe thun, glaub' es wohl, daß es Dir schwer wird zu schreiben.«

»Es ist, als habe Dich mir der Himmel zur Hülfe, zur Erleichterung hergeschickt – daß Du gerade jetzt kommen mußtest. –«

»Ja, unser ganzes Bataillon ist hierher versetzt worden[26] – ich bleibe nun hier – es ist doch Schade, daß Gustav nicht mehr da ist.«

Sie hörte nicht weiter auf ihn, denn sie lauschte auf ein Geräusch von Tritten, die unten im Hausflur klangen – dann die Treppe heraufkamen – nun immer näher und näher – die Thüre ging auf – – sie stellte sich vor den Sarg, legte sich mit dem halben Leib darauf, schlang ihre Arme darum und rief außer sich: »Sie dürfen nicht, sie dürfen nicht!«

Die schwarz gekleideten Träger waren eingetreten – die Leichenfrau war ihnen gefolgt – sie ergriff den schwarzen Sargdeckel mit den versilberten Zierrathen. –

Ein junges Mädchen mit blondem Haar trat ein und zog Amalien sanft von dem Kinde auf – helle Thränen fielen dabei aus den Augen des Mädchens. »Kommen Sie mit herauf, arme Frau,« bat es, »hier können Sie doch nicht bleiben.«

»Ich kann nicht fort!« sagte sie mit herzzerreißendem Schrei und sank an dem Sarge ohnmächtig zusammen. Das Mädchen kniete neben sie und legte das bleiche Haupt der unglücklichen Mutter auf ihren Schoos, indem sie leise sagte:

»Es ist am Besten, wenn sie bewußtlos ist – nun eilt, daß Ihr die Leiche hinausbringt, ehe sie wieder zu sich kommt.«[27]

Die Träger befolgten den Rath, Bernhard selbst drückte den Sargdeckel darauf; weil die Leute ihn hastig und geräuschvoll aufhoben, nahm er ihn ihnen ab, damit es ohne Lärm geschehe; das Mädchen dankte ihm dafür mit einem innigen Blick. Wie aber die Träger den Sarg zur Thüre hinaustrugen, stießen sie damit wider die Pfoste – es klang hohl und dumpf – dieser Ton brachte Amalie wieder zu sich, sie verstand ihn – schrie auf, wollte nachspringen, aber die Thüre war in's Schloß geworfen; das Mädchen zog Amalie mit sich auf das Sopha, wohin Amalie, ohne ohnmächtig zu sein, aber wie vor Verzweiflung erstarrt sich ziehen ließ und regungslos sitzen blieb.

Die beiden Frauen waren allein.

Eine Stunde mogte vergangen sein, wo sie so stumm und unbeweglich nebeneinander gesessen hatten.

Amalie hatte ihr Logis, das sie früher mit ihrem Gatten bewohnt, mit einem kleineren in der Vorstadt vertauscht. Das Mädchen, welches bei ihr saß, war die Tochter des Hauswirthes, eines Korbmachers und hieß Auguste. Sie hatte ihrer einsamen Hausgenossin getreulich beigestanden bei der Pflege des kranken Kindes – sie hatte auch in den herbsten Stunden des Leides die Unglückliche nicht verlassen. Sie fühlte wohl, daß sie keinen Trost für sie hatte, aber sie wollte sie ihrer Verzweiflung nicht allein überlassen. So saß sie auch jetzt still weinend[28] neben ihr und hatte ihre Arme um die im Schmerz wie Erstarrte geschlungen.

Ein starkes Pochen an der Thüre schreckte sie auf von den marternden Gedanken, welche sie sich so lange überlassen hatten.

»Es wird mein Schwager sein,« sagte Amalie tonlos. »Er wird wieder zurückkommen – es wird nun Alles vorbei sein! –«

Auguste stand auf und öffnete die Thüre; befremdet trat sie einen Schritt zurück – ein fremder, langer, dürrer Mann stand draußen – hinter ihm ein Polizeidiener.

»Zu wem wollen die Herrn?« fragte Auguste schüchtern, bestürzt.

»Wohnt hier nicht die Frau des Doctor Thalheim?« fragte der Lange.

»Dort ist sie –« sagte Auguste.

Amalie blieb ruhig sitzen: »Ich habe Alles angezeigt, alle Gebühren entrichtet.«

»Sie haben schon Alles angezeigt, Frau Doctorin?« sagte der Lange verwundert, aber vor Freuden schmunzelnd. »Desto besser, dann werden Sie sich die Behörden zu großem Danke verpflichtet haben.« Plötzlich mäßigte er sich jedoch in seiner Freude und sagte: »Allein, wenn ist dies gewesen – man würde mich sogleich davon unterrichtet haben.«[29]

»Vor drei Tagen, in derselben Stunde, wo sie gestorben war, wie es das harte Gesetz will.«

Der Lange und der Polizeidiener sahen einander unbeschreiblich albern an und schienen sich schweigend zu befragen. Endlich sagte der Lange zu Amalien: »Aber wovon sprechen Sie denn eigentlich?«

»Mein Gott! Sie fragen noch – wovon – ach, wovon!« und sie schrie laut auf und verfiel in Zuckungen.

Auguste eilte zu ihr und sagte zu den Männern: »Aus Barmherzigkeit, schonen Sie die Unglückliche – sie spricht von ihrem einzigen Kinde, das man so eben begraben hat.«

Die Beiden sahen sich einander verdutzt und albern an, wie vorher.

»Das ist ein sehr übler Zufall,« sagte der Lange verdrießlich.

»Was wollen Sie noch – ist nicht Alles in Ordnung?« fragte Amalie, sich wieder aufrichtend, nach einer Pause, während welcher die Beiden mit ihren Blicken ringsum das Zimmer gemustert hatten.

»Wir sind nicht deshalb gekommen,« sagte der Lange. »Wir sind gekommen, einige Fragen an Sie zu richten, welche sie uns gefälligst beantworten werden.«

Amalie schwieg.

»Zuerst,« fuhr Jener fort: »Ihr Mann hat einen Bruder, welcher Franz heißt?«

»Ja!«[30]

»Er ist Arbeiter in der Fabrik des Herrn Felchner bei Hohenthal?«

»Ja!«

»Er ist diesen Morgen bei Ihnen angekommen?«

»Nein!«

»Nein? – Leugnen Sie nicht – es wird Ihnen Nichts helfen, die Polizei täuscht man nicht so leicht.«

»Ich habe keinen Grund Etwas zu leugnen, das meinen Mann und seine Brüder betrifft,« sagte Amalie beleidigt. »Er hat zwei Brüder, sein jüngster Bruder Bernhard ist gestern Abend mit dem Militär hier angekommen, bei dem er steht, und vorhin bei mir gewesen – – jetzt hilft er mein Kind begraben – –« und bei den letzten Worten ward ihre Stimme wieder undeutlich und sie versank wieder in ihren Schmerz.

Die Beiden machten wieder ihre betroffenen und verdutzten Gesichter.

Auguste zeigte als nächsten Beweis auf Bernhards Soldatenmantel, welchen derselbe zurückgelassen hatte.

»Sie kennen aber Ihren Schwager, den Fabrikarbeiter Franz Thalheim?«

»Er ist nur ein Mal vor drei Jahren ein paar Tage hier gewesen.«

»Das ist wunderlich.«

»Gar nicht – denn die armen Fabrikarbeiter haben[31] kein Geld, das sie verreisen könnten, um ihre Angehörigen zu besuchen. –«

Der Lange flüsterte dem Polizeidiener zu: »Das ist eine bedenkliche Aeußerung, sie ist also auch schon angesteckt, wir müssen vorsichtig sein – wer weiß, gelangen wir hier nicht zu überraschenden Resultaten – –« dann fuhr er laut fort, gegen Amalien gewendet: »Sie stehen im Briefwechsel mit diesem Schwager?«

»Nein.«

»Aber die Brüder pflegten einander zu schreiben?«

»Das ist natürlich.«

»Ihr Mann schreibt Ihnen oft?«

»Das ist ebenfalls natürlich – aber mein Herr, ich sehe nicht ein, warum sie mich hier wie eine Delinquentin verhören, und zwar über Familienangelegenheiten, über welche man durchaus Niemand Rechenschaft schuldig ist –« sagte Amalie schnell und ziemlich heftig.

»Wer mir das Recht giebt? –« sagte der Lange. »Die Polizei –« und er wies auf den Polizeidiener.

»Frau Doctorin,« sagte dieser, »Sie werden sich in die Fragen und Anordnungen des Herrn Polizeicommissairs fügen.«

Dieser trat jetzt zu dem Pulte, an welchem der Schlüssel steckte und öffnete es. –[32]

»Mein Herr! Was fällt Ihnen ein?« rief Amalie außer sich und sprang auf.

»Keine Widersetzlichkeit!« mahnte der Polizeidiener und hielt sie am Arme.

»Fremde Männer kommen in mein Haus und forschen nach meinen Familienangelegenheiten – bei einer armen hilflosen Frau, deren Mann abwesend ist und sie beschützen könnte – deren einziges Kind man begrub,« jammerte sie. Auguste weinte und sagte beruhigend:

»Sie haben ja kein Unrecht zu verbergen, lassen Sie ihnen immer ihren Willen – Ihr Widerstand wäre doch fruchtlos.«

Der Polizeicommissair hatte jetzt ein Fach mit Briefen herausgezogen und sah sie flüchtig durch, die meisten schob er unbefriedigt auf die Seite. »Es ist Keiner von Franz Thalheim darunter –« sagte er heimlich zu dem Polizeidiener. »Das ist nur ein verdächtiger Umstand mehr, der Doctor wird diese Briefe als zu gefährlich verbrannt oder mitgenommen haben. –« Jetzt zog er ein kleineres Fach mit Briefen heraus, es enthielt nur diejeninigen, welche Thalheim an seine Gattin geschrieben hatte, seitdem er von ihr getrennt war.

Amalie trat wieder hinzu und sagte: »Mein Herr, was zwischen Gatten verhandelt wird, gehört doch mindestens nicht vor die Augen der Polizei –«[33]

»Fürchten Sie Nichts!« sagte der Commissair mit widerlichem Lächeln. »Die Augen der Polizei vergessen sogleich wieder, wenn sie auch Etwas erfahren sollten, das nicht vor ihr Forum gehört – nur was vor diesem Forum bedenklich und gefährlich erscheint, bewahrt ihr Gedächtniß treu – und darin läßt sie sich nicht täuschen und irren.«

Während er dies mit Nachdruck sagte, hatte er wieder einen Brief entfaltet und indem er ihn überflog, nahmen seine Augen einen ganz eigenen Ausdruck an, halb wie vor Schreck, halb wie vor Freude. Es war der erste Brief, welchen Thalheim an seine Gattin geschrieben, er datirte von dem Gute des Rittmeisters Waldow und die Stelle, welche solch' eigenthümliches Leben in das Gesicht des Polizeicommissairs brachte, lautete:

»Ich bin bei Franz gewesen – ich habe die Noth und das Elend gesehen, welches dort unter den Fabrikarbeitern herrscht – ach, Amalie, dieser Armuth gegenüber haben wir in beneidenswerthem Reichthum geschwelgt! – Ich habe Franz das Versprechen gegeben, daß, wenn mir in meinem neuen Wirkungskreise Zeit bleibt, mich mit literarischen Arbeiten zu beschäftigen, ich auch über die Noth der Fabrikarbeiter schreiben werde. Vielleicht wird mir auf meiner Reise Gelegenheit, darüber noch anderweite Notizen zu sammeln. Franz selbst schreibt in seinen Mußestunden, aber diese einfachen Stimmen mitten heraus aus dem[34] Volke werden wohl von alle Denen gehört, für welche sie laut werden, welche das geschilderte Elend theilen, aber nicht von Denen, welche es verbreiten, und Denen, welche die Macht und Pflicht haben es aufzuheben und zu lindern. Darum fiel er mir weinend um den Hals, als wir von einander Abschied nahmen und sagte: Leb' wohl Du – nun doppelt mein Bruder, wenn Du derselben Sache dienen willst, welcher ich mich geweiht habe!«

Diesen Brief wollte der unberufene Leser erst in seine Brieftasche schieben – er besann sich aber anders und notirte nur die angezogene Stelle stenographisch. In den andern Briefen fand er nichts Beachtenswerthes, außer daß er sich den jedesmaligen Ort anmerkte, von welchem aus sie geschrieben waren. Jetzt griff er nach einem kleinen hölzernen Kästchen, zwischen dessen Schluß unterhalb des Deckels ein Stückchen beschriebenes Papier hervorschimmerte. »Hier sind auch Briefe darin –« sagte er. »Das Kästchen ist verschlossen – es thut mir leid – aber ich muß um den Schlüssel bitten.«

»Das ist unmöglich,« rief Amalie. »Ich kann es beschwören, daß es der Polizei ganz gleich sein kann, den Inhalt dieses Kästchens zu erfahren – und wenn Sie gekommen sind, um nach Papieren von Franz, von meinem Gatten in meinen Sachen herum zu spüren, so wiederhole[35] ich nochmals – ich will es beschwören – von ihrer Hand finden Sie kein Wort in diesem Kästchen.«

»Dieser Eifer macht die Sache nur um so verdächtiger – ich muß durchaus Sie bitten, zu öffnen.«

»Um keinen Preis –« sagte sie außer sich, aber fest.

»Es thut mir leid,« bemerkte darauf der Polizeicommissair mit feinem Lächeln, »aber es muß sein, –« und ehe Amalie es nur bemerken, noch weniger verhindern konnte, hatte er ein kleines Instrumentchen aus seiner Westentasche geholt und mittelst desselben das Schloß des Kästchens geöffnet.

»Aus Barmherzigkeit,« rief Amalie, als sie es sah und fiel auf ihre Kniee.

Jener bemerkte es nicht – sein Gesicht strahlte vor Freude und Staunen. »Jaromir von Szariny!« rief er leise für sich. »Das ist ja der anonyme Publizist – nun ist kein Zweifel mehr.« Er sah die Briefe alle eifrig durch, schien aber unzufrieden mit ihren Inhalt zu sein und daß er keine mit neuerem Datum fand – sie waren alle schon vor sieben Jahren geschrieben.

»Ich werde Nichts ausplaudern,« sagte er zu Amalien, welche Auguste wieder von der Erde aufgehoben hatte. – »Nur eine Frage: Sind Sie noch mit dem Grafen Szariny in Verbindung?«[36]

Sie wandte sich tief verletzt ab und antwortete nicht.

»Ich muß Sie um aufrichtige Antwort bitten – es ist die letzte Frage, welche ich an Sie zu richten habe – ich bedauere Ihnen lästig gewesen zu sein und wir werden uns dann sogleich entfernen – es wäre vielleicht meine Schuldigkeit gewesen, einige dieser Briefe mitzunehmen, allein aus schonenden Rücksichten gegen Sie habe ich es unterlassen – meine Schonung gegen Sie verdient wahrlich nicht diese Halsstarrigkeit von Ihrer Seite – antworten Sie; Niemand wird es erfahren. Sind Sie mit dem Grafen Szariny noch in Verbindung?«

»Nein – er war mein Verlobter, ehe ich in meinem jetzigen Gatten eine andere Wahl traf – – aber nun lassen Sie diese Qualen endigen, die Sie jetzt über mich brachten, während mein Kind begraben ward – als sei dies nicht schon entsetzlich genug – –« rief Amalie und verhüllte ihr Gesicht.

»Bedauere herzlich, Ihnen lästig geworden zu sein und daß wir an solchem Unglückstage kommen mußten,« sagte der Polizeicommissair mit schlecht erheuchelter Theilnahme und ging. Der Polizeidiener folgte ihm.

Amalie war schon zu sehr von dem Jammer der letzten Tage angegriffen, als daß sie sich eigentlich hätte klar darüber bewußt sein sollen, was jetzt vorgegangen war, als daß[37] sie fähig gewesen wäre, nur Etwas davon zu begreifen. Sie war nur froh, daß die fremden Männer sich wieder entfernt hatten, daß sie nun wieder ungestört ihrem Schmerz um ihr verlornes Kleinod, um ihr gestorbenes Kind nachhängen konnte.

Ihr Schwager Bernhard kam wieder zurück. Er ging schweigend auf sie zu und drückte ihr die Hand – sie seufzte tief und sagte dann: »Ich danke Dir – ist doch eine verwandte Seele dabei gewesen, ich hätt' es nicht vermogt.«

»Ich habe die erste Hand voll Erde auf den hinabgesenkten Sarg geworfen für Dich, dann eine für Gustav, dann für mich selbst –« sagte er und verschlang eine Thräne.

Nun war es wieder lange stumm in dem kleinen Zimmer zwischen den drei Menschen.

Nachher stand Auguste auf, trat zu Bernhard und erzählte ihm Alles, was während seiner Abwesenheit vorgekommen war und ihr so räthselhaft und unheimlich erschien.

Ihm war es so nicht minder – er verstand es gar nicht, fragte zu wiederholten Malen und ward doch nicht klüger. Endlich fuhr er heraus:

»Donnerwetter! Wär' ich da gewesen – ich hätte die Kerle die Treppe hinunter geworfen – trotz Polizei –[38] nicht einmal die Spürnasen vor solchem Elend ehrfurchtsvoll ein Weilchen zurückzuziehen!«

Dieser Vorfall hatte sich an dem Tage vorher ereignet, an welchem Franz Thalheim so unbesorgt war über die Ankunft des langen dürren Herrn Stiefel.[39]

Quelle:
Louise Otto: Schloß und Fabrik. Band 1–3, Band 2, Leipzig 1846, S. 23-40.
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