Fünfte Szene

[86] Die Vorigen. Maria, von einer Schar jugendlich amorettenhaft gekleideter Engel, die ihr vorauseilen und ihr Blumen streuen, sowie von erwachsenen Engels-Knaben, die Lilienstengel tragen, gefolgt und begleitet, kommt in hochmütig-stolzer Haltung, eine kleine Krone auf dem Haupte, in einem blauen, sternbesäten Kleid, welches vorne das weiß-seidene Untergewand erblicken läßt, durch die Haupt-Türe herein, macht in Front von Gott Vater, von dessen Thrones-Stufen sich der Cherubim inzwischen zurückgezogen, eine steife, hofmäßige Verbeugung und begibt sich dann auf einen zweiten, in der Zwischenzeit von dienstbaren Engeln, etwas entfernt von Gott Vater, ebenfalls an der Wand zurechtgerichteten Thron, der, mit hoher Rücklehne, im Stile sich der Zeit der Minnesänger anpaßt. Sie verweilt dort während des Folgenden, von ihrem Engels-Chor umgeben, ausschließlich mit Herrichtung ihrer Toilette, Benutzung eines kleinen Spiegels sowie Selbst-Besprengung mit wohlriechenden Wässern, beschäftigt. – Ein weiches Geflüster schalkhafter, augenschmeißender Amoretten macht sich um ihn vernehmbar. – Währenddem unterhalten sich auf der

entgegengesetzten Seite, links im Vordergrund, die drei aus der ersten Szene bekannten Engel.


ERSTER ENGEL. Der Mann kommt.

ZWEITER ENGEL in die Hände patschend. Der Mann, der Mann kommt.

DRITTER ENGEL aufhorchend ernsthaft. Der Mann? Wer ist der Mann? –

ZWEITER ENGEL. Ach, der Mann – Du kleines Äffchen – das ist der Mann!

ERSTER ENGEL belehrend. Das ist der schönste, der zarteste, der zuckrigste Mann; der einzige Mann im Himmel; das ist der Mann.

DRITTER ENGEL neugierig. Ist er jung?

ERSTER ENGEL. Wie eine Palme.

DRITTER ENGEL nach einigem Besinnen. Ist er jünger wie der alte Mann dort?[86]

ERSTER UND ZWEITER ENGEL sich gegenseitig ins Wort fallend. Hunderttausendmal jünger!

DRITTER ENGEL nach weiterem Besinnen. Ist er jünger wie die schöne Frau dort?

ERSTER UND ZWEITER ENGEL wie oben. Tausendmal, tausendmal jünger!

DRITTER ENGEL wieder besinnend. Ist er jünger wie der garstige alte Mann drunten auf der Erde?

ERSTER UND ZWEITER ENGEL wie oben. Unendlich oftmal viel jünger!

DRITTER ENGEL sich erwärmend. Ist er schön?

ZWEITER ENGEL. Weiß wie Elfenbein!

DRITTER ENGEL. Ist er schlank?

ERSTER ENGEL. Wie eine Tanne!

DRITTER ENGEL. Was hat er für Augen?

ZWEITER ENGEL. Wie eine Gazelle!

DRITTER ENGEL. Wie spricht er?

ERSTER ENGEL besinnend. Wie eine Äolsharfe – Aber traurig, traurig!

DRITTER ENGEL teilnahmsvoll. Warum ist er traurig, der Mann?

ZWEITER ENGEL. Er ist ja verwundet!


Dritter Engel stumm-verwundert fragend.


ERSTER ENGEL. Sie haben ihn ja in die Hände gestochen!

ZWEITER ENGEL. Und durch die Füße!

ERSTER ENGEL. Und in die Seite hinein!

ZWEITER ENGEL. Und von der Stirn unter den Haaren herab fließen Blutstropfen!

DRITTER ENGEL der mit wachsender Bewunderung zugehört. Aber er lebt?

ERSTER UND ZWEITER ENGEL. Er lebt!


Man hört draußen das Sich-Nahen eines Zuges. Eine Schar junger, mädchenhafter Engel stürzt voraus.


ERSTER UND ZWEITER ENGEL. Der Mann kommt!

DRITTER ENGEL leise repetierend. Der Mann kommt. Sie Treten etwas zurück, um Platz zu machen.

DIE VORAUSEILENDEN ENGEL zwitschernd, kichernd. Der Mann! Der Mann!


Christus, mit gestreckten, nach vorn übereinandergeschlagenen Armen (Ecce-homo-Stellung), kommt im weißen Talar mit übergeschlagenem Purpur-Mantel, als König der Juden, gesenkten Kopfes und mit tief-trauriger Miene[87] skandierten Schrittes herein, umgeben von meist älteren Engeln, die Kreuz- und Marterwerkzeuge tragen; in seinem Gefolge Apostel, Märtyrer, Maria Magdalena, Klageweiber. Er ist sehr jugendlich, blaß mit dunklen Haaren, leichtem Flaumbart, eine hoch aufgeschossene, ätherische Erscheinung; auch das Gefolge hat den Charakter tiefster Niedergeschlagenheit und Hinfälligkeit. Die jüngeren Engel drängen sich mit feurigen Blicken um ihn, suchen seinen Gewandsaum zu berühren. Er begibt sich, gleichgültig von Gott Vater beobachtet und gänzlich unbeachtet von Maria, selbst in seiner Passivität von niemandem Notiz nehmend, zu einem für ihn inzwischen aufgeschlagenen, etwas abseits von den andern stehenden Thron, der die primitive Gestalt eines jüdischen Lehrstuhls hat. Dort läßt er

sich, seine Ecce-homo-Stellung beibehaltend, in großer Apathie nieder, während sich sein Gefolge um ihn gruppiert.

Nachdem alles sich versammelt und die Engels-Gruppen in der Front von den drei Thronen, wo sie den ganzen Vordergrund einnehmen, sich kniend niedergelassen.


GOTT VATER feierlich mit tiefem Pathos. Sind Wir alle versammelt? –


Im nächsten Augenblick fährt ein feuriger Streifen pfeifend wie eine Rakete oben am Gewölbe quer durch den Saal, in der Ferne klirrend verhallend: der Heilige Geist. – Alles blickt mit feierlicher Geste, die Engel die Hände auseinanderspreitend, nach oben; nur Maria schaut, den Kopf nachlässig auf die linke Thronlehne gestützt, gleichgültig vor sich hin; während Christus, die Arme über der Brust kreuzend, das Haupt noch tiefer senkt und so längere Zeit in tiefer Zerknirschung verweilt.


GOTT VATER nach einer Pause, während der alle in die frühere Stellung zurückkehren. Wir haben Euch hieher berufen, um Euren Rat in einer schweren, entsetzlichen Sache zu vernehmen. – Die Menschen haben sich, meine Gebote mißachtend, in götzendienerischer, selbst-zerstörender Weise den schrecklichsten Ausschweifungen, den fürchterlichsten Greueln hingegeben. In einer Stadt – in Asien – in – in – wo war es nur gleich? ...

CHERUBIM in nächster Nähe von Gott Vater mit emporgefalteten Händen. In Neapel, heiligster Vater. –[88]

GOTT VATER sich erinnernd. In Neapel haben sie unter gänzlicher Verschiebung der die Scham garantierenden Kleider sich wie Tiere, mit rücksichtsloser Verachtung der für die fleischlichen Instinkte gesetzten Schranken und Vorbehalte, vermischt, und so den göttlichen Zorn ...

MARIA einfallend, leichthin. Ach ja, ich hab' davon gehört.

GOTT VATER erstaunt aufhorchend. Wie? Was ist das?

MARIA wie oben. Ja, ich kenne die Affäre. Der Bote war zuerst bei mir ... Hält sich plötzlich den Mund zu, als wolle sie's zurücknehmen.


Gott Vater blaß vor Zorn, will auffahren, sucht den Boten unter den Versammelten, blickt dann wieder schnaubend zu Maria hinüber.

Cherubim mit stummer Gebärde, bittet den Alten, sich zu bemeistern und hält unverwandt in seinem Bitten an.


GOTT VATER schluckt es hinunter, bitter. ... Dann seid Ihr alle orientiert. Kämpft noch längere Zeit mit seiner Erregung. – – Die schrecklichste Strafe haben Wir bei Uns beschlossen ...

MARIA dazwischenfahrend. Das Gesindel wird nie besser.

CHRISTUS blickt matt auf, mit schwindsüchtiger Stimme und gläsernem Aug', nachlallend. Nein, – das – Gesindel wird nie besser.

DIE ENGEL unter sich, sich anstoßend. Der Mann! Der Mann! –

MARIA MAGDALENA bitter. Was haben sie denn getan?

MARIA kurz. Ich sag' Dir's nachher! Koschonerien, wie gewöhnlich.

GOTT VATER erbost. Wir wollen sie verderben!

CHRISTUS wie oben. Ja, ja, – wir wollen sie verderben!

CHORUS DER APOSTEL, MÄRTYRER, ENGEL bedauernd. Ah! – Ah! –

CHRISTUS nicht orientiert. Hä?

MARIA kurz, imperatorisch. Nein, nein! Das geht nicht! Wir müssen sie doch haben.

CHRISTUS nachsprechend. Ja, – ja, – wir müssen sie haben.

GOTT VATER sich in der Minorität fühlend, zornig. Müssen Wir sie haben? – Ich will sie ausrotten, diese Scheusale. – Will – will – will wieder eine schöne Erde haben mit Tieren im Walde ...

MARIA spöttisch. Wenn wir Tiere haben, müssen wir Menschen auch haben.[89]

MARIA MAGDALENA teilnahmsvoll. Die Sünde dient zur Läuterung.

GOTT VATER. Sie fressen die Sünde wie süßen Kuchen, bis sie platzen, bis sie faulen.

MARIA trocken. Die Begattung müssen wir ihnen schließlich lassen. – Ein Stückchen Wollust muß man ihnen gönnen – sonst hängen sie sich am nächsten Baum auf. Der Alte schaut immer zorniger, sprühender herüber. Bei der Nacht! Bei der Nacht! – Im Frühjahr! – Zu gewissen Zeiten! – Wenn der Mond scheint! – Mit Maß und Ziel!

GOTT VATER immer zorniger. Ich will sie erschlagen wie zwei geile Hunde – in ihrem schönsten Rausch! ... Große Bewegung in der Versammlung. Die jüngeren Engel blicken sich staunend an.

MARIA trocken. Wer macht dann die Menschen?


Während die Apostel sich eifrig unterhalten und eine peinliche Empfindung durch den ganzen Saal geht, starrt der Alte mit glühendem Kopfe schwer keuchend vor sich hin; er wird immer dunkler im Gesicht, kollert und rasselt; ein Erstickungsanfall scheint im Anzuge zu sein; er fuchtelt mit den Armen herum; wirft Decken und Krücken von sich; stöhnt und brüllt; man eilt ihm zu Hilfe; bringt Spuckschale, Flaschen und ätherische Flüssigkeit;

Maria ist besorgt aufgesprungen; Christus, vor Schwäche sitzen bleibend, blickt mit lechzenden, glasigen Augen herüber; große Verwirrung. Der Alte weist aber alle Hilfe und Unterstützung mit wilder Gebärde von sich, nimmt alle Kraft zusammen und brüllt mit furchtbarer Anstrengung.


GOTT VATER. Ich will sie zerschmeißen – zertreten – im Mörser meines Zornes – zerschmettern.


Ist im Begriffe, sich zu erheben und zu einem allmächtigen, unwiderruflichen, mit der Tat identischen Schlag auszuholen.


CHERUBIM stürzt in diesem Moment hervor, wirft sich vor dem Alten hin, mit flehender Stimme. Heiligster, göttlichster Vater, morgen ist Ostern! – Drunten essen sie das Passah-Mahl!

CHOR DER APOSTEL, MÄRTYRER, ÄLTEREN ENGEL einfallend. Sie essen das Passah-Mahl.

GOTT VATER der innegehalten. Was essen sie? –

CHERUBIM und die Andern. Sie essen das Passah- Mahl![90]

GOTT VATER blickt verwundert um sich. Das Passah-Mahl essen sie?

CHOR DER APOSTEL. Sie essen das Osterlamm!

CHERUBIM. Sie essen das Abendmahl?

GOTT VATER sich besinnend. Das Abendmahl?

CHERUBIM. Sie essen das Fleisch und Blut Christi!

GOTT VATER etwas wärmer. Mein Sohn, sie essen Dich!

CHRISTUS mit matter Stimme. Ja, sie essen mich.

MARIA mit gemachter Zärtlichkeit. Mein lieber Sohn, den ich in meinem Leibe getragen habe!

CHRISTUS kindlich. Den Du in Deinem Leibe getragen hast.

GOTT VATER mechanisch. Den sie in ihrem Leibe getragen hat.

DIE JÜNGEREN ENGEL unter sich flüsternd. Der Mann! – Der Mann!–

MARIA wie oben. Dich essen sie!

CHRISTUS wie oben. Mich essen sie.

GOTT VATER wie oben. Ihn essen sie.

CHRISTUS auffahrend. Ja, und trotzdem werden Wir da heroben immer elender und schwächer! – Es ist entsetzlich! Hüstelt. Mich essen sie, und werden wieder gesund und sündenfrei. Und Wir gehen immer mehr zu Grund. Erst fressen sie sich drunten mit Sünden voll, bis zum Platzen, und dann genießen sie mich, und gedeihen, und werden sündenfrei, und dick und fett; und Wir werden mager und elend. Ah! diese vermaledeite Rolle! Ich möchte einmal den Spieß umkehren und mich satt essen, und sie darben lassen!


Bricht in einen schwindsüchtigen Husten aus.


MARIA aufspringend und zu ihm hineilend, besorgt. Mein Gott, mein Sohn, vergiß nicht, Du bist unverletzlich, göttlich, unaufzehrbar, in alle Ewigkeit derselbe! Legt sein Haupt an ihre Brust und liebkost ihn.

CHRISTUS schluchzt heftig an der Brust Marias.

DIE JÜNGEREN ENGEL unter sich flüsternd. Der Mann! Der Mann!

GOTT VATER nach einer Pause, viel ruhiger geworden, zu Cherubim. Wer feiert denn da drunten jetzt alles Passah-Mahl?

CHERUBIM einfallend. Die Christen, heiliger Vater. Deine Gläubigen, göttlicher Meister; Deine Kinder, die auf Dich hoffen; die Frommen, die Katholischen, die alleinseligmachende Kirche, Deine Priester, die Bischöfe, der Papst!

GOTT VATER gernglaubend, freundlich. So! – Das wollen Wir doch einmal ansehen![91]

MARIA glücklich, daß ein Ausweg gefunden. Ja, das wollen wir uns einmal ansehen! Zu Christus. Komm, mein Sohn, wir wollen uns das einmal ansehen, das wird Dich zerstreuen!


Große Erleichterung in der ganzen Versammlung; die kompakten Gruppen lösen sich auf; jüngere Engel verlassen den Saal; dienstbare Geister machen sich an den Thronen zu schaffen, um alles wieder in prächtige, geschmückte Ordnung zu

bringen; alles medizinische Gerät wird entfernt; dafür werden eigentümliche große Dreifüße während des Folgenden hereingebracht; die Gruppen der Apostel, Märtyrer, Engel, Barmherzigen Schwestern entfernen sich in feierlicher Ordnung; so daß zuletzt nur die drei Gottheiten, der Cherubim und einige ältere Engel zurückbleiben.


GOTT VATER der bequem auf seinem Thron in halbliegender Stellung gebettet ist, in tief-sonorem, feierlichem Ton. Bringt Uns die Räucherbecken und Kohlenpfannen und erzeuget in Uns Allwissenheit und Allgegenwärtigkeit! –


Die Dreifüße werden in die Mitte des Saales gestellt, mit einer braunen Droge, gemischt mit Sandelholz, beschickt, und dann angezündet; die Türen werden geschlossen; die dienstbaren Engel entfemen sich, als letzter der Cherubim. Man sieht die drei Gottheiten, während sich die Dampfwolken verbreiten, langsam zurücksinken und die Augen schließen. Währenddem fällt der Vorhang.[92]


Quelle:
Oskar Panizza: Das Liebeskonzil und andere Schriften. Neuwied und Berlin 1964, S. 86-93.
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