§ 38

[203] Und sonach ist die Welt das Resultat des Dämons der Einzelnen. Und da wir die Menschheit nach ihren starken Exemplaren beurteilen müssen, nicht nach ihren schwachen, so müssen wir im Dämon das Urprinzip des Handelns bei allen Menschen suchen, mag es bei den Meisten bis zur Unkentlichkeit abgeschwächt erscheinen. Und sein Handeln ist seinem aus unbekanten Welten ihn treibenden Dämon gemäss. Wer nur im Bereich der Erscheinungen stekt und keine Spur einer inneren Stimme kent, bleibt bedeutungslos wie der Grashalm auf einsamer Felsspize, der auf die Explosion im Berg selbst wartet, die ihn mit in die Tiefe führt. – Und nur dann darfst Du am Schluss Deines Lebens Deine Mission erfült sehen, wenn Du Dir sagen kanst, Du hast Deinen Dämon in der Welt zum Ausdruk gebracht. Das ist Dein kategorischer Imperativ. Handle, wie Dir Dein Dämon vorschreibt. Schrekst Du vor den Konsequenzen in der Welt der Erscheinungen zurük, dann ist sie stärker wie Du. Sezt Du Dich durch, dann bist Du Obsiegender. Du gehst vielleicht zu Grund. Aber zu Grunde zu gehn in der Welt der Erscheinungen, ist ja das Loos von uns Allen.

Fußnoten

1 Hauptmann, Carl, Beiträge zu einen dynamischen Theorie der Lebewesen. Jena. 1894.


2 »Unbewusste Vorstellungen«! – Auf diesem Zwitterbegriff hat sich in unseren Tagen eine Filosofie breit machen wollen (»Philosophie des Unbewussten«), die mittelst des Studiums von Rükenmarks-Ganglien und Gehirn-Anatomie eine für das Denken gültige Anschauung zu gewinnen hofte; ein Versuch, den der konsequente Büchner mit Recht durch die dumbe Frage zurückwies: woher denn ihr Verfasser das Unbewusste wüsste? und die in der Geschichte der deutschen Filosofie wohl bald denjenigen Plaz einnehmen wird, der ihr gebührt: die tiefste Stelle.


3 Bei der Niederschrift der vorliegenden Arbeit stosse ich zufällig auf ein älteres Schriftchen über indische Religion, und lese dort folgende Säze über Brahmaïsms: »Man kann vom Brahma nicht sagen, was es ist. »Das Auge, die Sprache, der Verstand kann es nicht erreichen. Wir erkennen es nicht, wir sind nicht im Stande, jemanden über dasselbe zu belehren. Es ist verschieden von allem Bekannten und auch von allem Unbekannten« (Kêna- oder Talava-Kâra- Upanischad I. 3.). Das Brahma ist Geist nur in dem niedrigsten (äussersten) Sinne des Wortes, nur insofern es nicht Stoff, sondern wesentlich Kraft ist, – es ist aber nimmermehr Geist als selbst-bewusstes, denkendes, wollendes Wesen, ist nicht Persönlichkeit; alle an solche geistige Prädikate anklingenden Bezeichnungen des Urwesens sind dem ganzen Zusammenhang des indischen Bewusstseins gemäss nur als bildlicher Ausdruck zu fassen, sind eine die Natureinheit verbergende Maske. – Die Welt ist eine Emanation aus dem Brahma. Ihre Elemente gehen hervor aus der Unwissenheit oder Täuschung. – Die Vedanta-Philosophie stellt im Vedânta-Sâra das Dilemma: Entweder existiert das Brahma und die Welt existiert nicht; oder die Welt existirt und das Brahma existiert nicht. Nun aber existirt das Brahma; also existirt die Welt in Wahrheit nicht. Das Unreale (der Welt) wird dem Realen (des Brahma) beigefügt durch Dafürhalten. Dies kommt von der Unwissenheit oder Täuschung. Durch diese Unwissenheit ist die Welt gebildet worden. – Der Philosoph, der ... seine Gedanken von der Aussenwelt ablenkt ... erkennt, dass alle Zweiheit Täuschung ist, dass alle Objekte in der Welt Brahma sind, dass er selbst Brahma ist. Subjekt und Objekt und die Beziehung zwischen denselben verschwindet.« (Wurm, P., Geschichte der indischen Religion im Umriss dargestellt. Basel 1874, pag. 78. 80. 84–85. 118–119).


4 Max Müller erklärt dieses Verhältnis von Massen-Religion zu der esoterischen Erkenntnis des Einzelnen in Indien in einem Artikel der Nineteenth Century 1893 folgendermassen: »Die Lehren des Brahmanismus waren Jedermann zugänglich, freilig erst nach gebührender, so langwieriger und mühseliger Verbreitung, dass verhältnismässig Wenige das lezte Wort ergründeten. Der Brahmane musste sein Haus verlassen und sich in die Stille des Waldes in völlige Abgeschiedenheit zurükziehen. Das höchste Ziel dieses beschaulichen Einsiedlerlebens war die Erkentnis der eigenen Seele, des eigenen Selbst, Atman, im Gegensaz zum blossen Ego (Ich); eine schwierige Aufgabe; denn schon damals wurde die Existenz der Seele geläugnet. Manche hielten Leib und Seele für Eins, manche die Seele für den Lebenshanch und andere glaubten, die Seele sei einfach das Ego, der Geist mit all seinen Wahrnehmungen und Fähigkeiten. Der Einsiedler im Walde musste erkennen lernen, dass die Seele ihrer eigentlichen Natur gemäss nicht mit Auge, noch Ohr, noch überhaupt auf irgend eine Weise äusserlich wahrnehmbar ist gleich der körperlichen Welt, die ringsum besteht und vergeht. Denn sobald sie äusserlich wahrnehmbar ist, erscheint sie als etwas Objektives, von dem wahrnehmbaren Subjekt gänzlich verschiedenes. Sie wäre nicht länger die Seele. Das unsichtbare und äusserlich unwahrnehmbare Etwas, das vorher Seele hiess, wurde nun Atman, Selbst, genannt. Nichts weiter wusste man von diesem Selbst zu künden, als: »Es existirt, begreift, denkt.« Hatte man aber erst einmal entdekt, dass die einzigen Eigenschaften, die man dem Atman, dem Selbst, in uns zuschreiben konte, indentisch waren mit denen, die Brahma angehörten, dem unsichtbaren Wesen, das in der Natur und den sogenanten Naturgöttern stekt, so war nur noch ein kurzer Schritt zur Entdekung der ursprünglichen Identität des Atman und des Brahma, der Einheit zwischen Gott und Menschen, der tatsächlichen Identität göttlicher und menschlischer Natur. Diese Identität in völliger Reinheit wiederherzustellen und endlich die Uebel der Unwissenheit, die sie bisher verhült hatten, zu verscheuchen, war fortan der höchste Lebenszwek des Waldsiedlers. Die Lehren, welche die Ergebnisse dieser in Waldeinsamkeit gepflogenen filosofischen Betrachtungen enthielten, hiessen Upanischads oder Rahasya (Geheimlehren). Sie wurden von den jungen Leuten und Ehemännern verborgen gehalten. Diese durften nicht zu frühe hören, dass die Götter, die sie verehrten, nur verschiedene Namen für das in der Natur verborgene Unbekante waren, und alle Weisheit in dem einen Wort Brahma gipfelt. Opfer und alle vorher anbefohlenen gottesdienstlichen Handlungen erschienen nun nicht nur überflüssig, sondern, falls der Gedanke an eine Belohnung in einem anderen Leben ihnen zu Grunde lag, geradezu verwerflich. Während zuerst der Veda (die kanonischen Bücher Indiens) in seiner Gesamtheit als der untrügliche Ausfluss einer höheren Inspirazion galt, wurde jetzt der Karmakanda, der liturgische Teil, beiseite gelegt, und nur der Inanakanda, der filosofische Teil, der sich mit der Beziehung der Einzelseele zu Brahma befasste, beibehalten. Er allein, und namentlich die Upanischads, eröffneten den Weg zum Heil, das durch Erkentnis, durch blossen Glauben, nicht durch Werke zu erlangen war.« –


5 Und wenn Spinoza immer wieder versichert, »deus«, die panteïstische Substanz, dürfe nicht persönlich genommen werden, sondern sei – Natur: eine Natur, die hier denkt, dort ausgedehnt ist, können wir uns vorstellen; aber eine, die dies gleichzeitig, unter einem Gesichtspunkt, tut, können wir uns nicht vorstellen, da wir hier von der eigenen, empirischen Intelligenz abstrahiren, die dies nicht kann. Und Spinoza's gelegentlicher Saz: dass Einzelnes nur aus Einzelnem folgt, ein Körperliches nur durch ein Körperliches, ein Denkvorgang nur durch einen Denkvorgang bedingt werden könne (Ethica II. pr. 9. dem.), zeigt, dass er sich selbst Leib und Seele als Dualismus zurecht gelegt hatte. Seine Lösung war daher eine rein begriffliche, rein nach einem logischen Saz durchgeführte, was uns verständlich wird, wenn wir erfahren, dass er Filosofie nur vom matematischen Gesichtspunkte aus kante. Für ihn war Substanz ein Quadrat, in das man Ausdehnung und Denken als zwei kleinere Quadrate einzeichnete. Damit war die Einheit von Ausdehnung und Denken äusserlich gezeigt, aber nicht begreifbar gemacht.


Quelle:
Oskar Panizza: Die kriminelle Psychose, genannt Psichopatia criminalis. München 1978.
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