Der erste Auftritt

[192] Sir Willhelm und Sir Robert.


WILLHELM. Nein, Robert, tadle diese Betrübnis nicht. Und wenn sie noch größer sein könnte, was für ein armseliges Opfer wäre sie immer noch für die Verbrechen, mit welchen ich in meinen jüngeren Jahren Gott und die Welt beleidiget habe?

ROBERT. Dieser Eifer, mit welchem dein Herz wieder zu der Tugend zurückgekehret ist, hat dich bereits mit Gott und dem tugendhaften Teile der Welt wegen dieser Beleidigungen ausgesöhnet. Deine guten Handlungen haben nunmehr deine bösen ungeschehen gemachet.

WILLHELM. Was sind diese guten Handlungen? Können sie einem elenden Greise das traurige Andenken rauben, daß er in seiner Jugend ein Bösewicht war? Wer weiß, von wie vielen künftigen Lastern ich noch die elende Ursache bin? Wer weiß, wieviel Personen ich, auch ohne daß ich sie kenne, bereits zu Verbrechern gemachet habe oder noch machen werde? Kann ich bei allen diesen Vorstellungen eine Freude zu empfinden fähig sein?

ROBERT. Sieh auf angenehmere Szenen deines Lebens: Auf die Unglücklichen, denen du in deinen weisern Jahren die Zähre des Elends abgetrocknet hast: Auf deinen Sohn, welcher der Welt einen vernünftigen Mann verspricht: Auf Lucien –

WILLHELM. Nenne mir diesen Namen nicht. Er ist ein Dolch in meiner Seele.

ROBERT. Wie? der Name derjenigen, die alle deine Liebe besitzt? die dir ebensoviel Liebe wieder zurückgibt?

WILLHELM. Sprich vielmehr, die mich hassen, die mich verabscheuen müßte, wenn ich mich nicht bemühete, das Laster, mit welchem ich sie beleidiget habe, vor der ganzen Welt und ihren eigenen Augen, außer vor den deinigen, zu verbergen.

ROBERT. Und selbst dies, daß du es verbirgst, kann dich beruhigen.

WILLHELM. Mich beruhigen? Kennst du mein Herz nicht? Wieviel Freuden, unaussprechliche Freuden, raubt mir die Verbergung dieses Geheimnisses auf der einen Seite! und mit wieviel neuen Martern quält sie mich von der andern! Kein Augenblick, seitdem ich sie aus der Aufsicht der unglücklichen[192] Frau Norris in mein Haus genommen habe, ist verschwunden, da ich nicht, so oft ich sie sehe, erzittere. Welche Stiche fühlt mein Herz, wenn sie mit allen ihren einnehmenden Liebkosungen mir für die Proben der Liebe und Freundlichkeit schmeichelt, die sie meiner Güte und Menschenliebe zuschreibt, und die sie – ach Freund! wem? – dem Laster zu danken hat. Alle Lobsprüche, mit denen mich die Unwissenheit meiner Freunde und Bekannten erhebet, verwandeln sich in meiner Seele in ebensoviel Spöttereien. Sie sind mir ein neuer Beweis von der Blindheit und Torheit, mit der die Welt nur gar zu oft Leute erhebet, die sie nicht kennet, mit der sie Handlungen als Tugenden preist, die bei allem ihrem äußerlichen Glanze Laster sind. Warum erheben sie doch meine Menschenliebe, mit welcher ich mich eines unglücklichen Mädchens annehme, das von ihren Eltern weggesetzet, dem Verderben und dem Mitleid andrer war überlassen worden? Wüßten sie, daß alle diese Gütigkeiten nicht das Werk der Menschenliebe, sondern das Werk der Pflicht sind, und zwar einer Pflicht, die aus dem niedrigsten Laster entspringt, sie würden mich ebendeswegen verachten, warum sie mich loben. Ich vergieße heimlich Tränen über ihren lärmenden Beifall, wenn sie vielleicht glauben, daß ich darüber entzückt bin. Freund, Freund, welcher Unterschied zwischen einem Manne, den die Welt lobet und dem sein Herz saget, daß er dies Lob verdienet, und dem, der es fühlt, daß sie ihn nur bloß deswegen lobet, weil sie seine Schande nicht weiß.

ROBERT. Dein allzu zärtliches Herz überläßt sich einem Kummer, den es entbehren könnte. Erinnre dich an Luciens Tugend. Sie allein könnte dir die Empfindung aller deiner Schmerzen rauben, wenn sie auch alle gegründet wären.

WILLHELM. Was ist menschliche Tugend, Robert! Wir, die wir oft nicht wissen, daß unsre eigne bereits in Gefahr ist, zu scheitern, können wir wissen, wie lange fremde noch blühen wird? Ich will Lucien nicht durch diese Rede beleidigen. Bisher habe ich ihr Herz noch jederzeit edel gefunden. Aber, Freund! was für eine quälende Entdeckung für mich habe ich gemachet! Ihr Auge verrät seit einiger Zeit einen heimlichen Gram. Konnte mir, der ich sie mehr als mich selbst liebe, dieser Gram unbemerket bleiben? Selbst dieser ihr so natürliche Stolz, dieser einzige Fehler, den ich an ihr zu verbessern suche, scheint bisweilen gänzlich aus ihren Mienen verbannet zu sein. Sie hat gewisse Ahndungen in mir rege gemachet, die meine ganze Seele erschüttern. Ich, der ich die Liebe aus der unglücklichen Erfahrung kenne, weiß[193] alle die verborgenen Krümmen, durch welche sie sich in das Herz einschleicht und zuerst wieder ausbricht. Gott! ich zittere für die Tugend der Lucie, wenn sie liebet. Wen könnte sie sonst lieben, als meinen Sohn?

ROBERT. Deinen Sohn, Willhelm, wie erschreckest du mich?

WILLHELM. Was können diese öftern Seufzer in seiner Gegenwart, diese Augen, die oft schmachtend auf die seinigen geheftet sind, dieser Ton der Zärtlichkeit, der die gemeinsten Reden an ihn begleitet, diese Schamröte, mit der sie ihn anblickt, und die ihr ein heimlicher Zeuge ihrer Verbrechen wird; was können diese weiter zu bedeuten haben?

ROBERT. Wie beantwortet sie Sir Karl?

WILLHELM. Mit Kaltsinnigkeit. Dies ist noch der einzige Trost, den mein Herz dabei empfindet. Aber ach! wie kurz kann er vielleicht dauern. Wie leicht kann Karl wankend werden, zumal wenn Amaliens Sprödigkeit noch länger währet. Dieser heutige Tag soll mich lehren, ob ich noch unglücklicher werden kann, als ich schon bin. Ich will ihr die unter uns verabredete Verbindung meines Sohnes mit deiner Amalie entdecken. Die Miene, mit der sie diese Nachricht aufnehmen wird, soll mir ihre ganze Seele aufklären. Ich habe ihr gesaget, daß ich sie hier erwarte, und ich wundere mich, daß sie nicht schon hier ist. Gott! schütze Luciens Tugend wider ihr eigenes Herz und laß mich dereinst, wenn ich sterbe, sie noch tugendhaft in meine Arme schließen! Sie kömmt, Robert. Ach! sie wischt eine Träne, eine vielleicht strafbare Träne von ihren Wangen. Laß mich allein mit ihr, lieber Freund.

ROBERT. Der Himmel segne deine und Luciens Tugend und lasse deinen Argwohn vergeblich sein! Geht ab.


Quelle:
Die Anfänge des bürgerlichen Trauerspiels in den fünfziger Jahren. Leipzig 1934, S. 192-194.
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