Der erste Auftritt

[223] Amalie. Karl Southwell.


KARL. Lehren Sie mich Amalien vergessen, und ich will Lucien lieben.

AMALIE. Hören Sie die Tugend, und Sie werden beides tun können.

KARL. Es ist schwer, soviel Hoffnung aufzugeben. Ihr Herr Vater selbst erweckte sie in mir.

AMALIE. Ich habe Ihnen die Gründe gesaget, welche meinen Vater zu seinem Irrtum verleiteten. Seine Unwissenheit wegen Luciens Schicksale ließ ihm glauben, daß Luciens Liebe überwindlich, und meine Verbindung mit Ihnen möglich sei. Ich wiederhole ohne Errötung mein Geständnis gegen meinen Vater vor Ihnen selbst. Sie waren meinem Herzen nicht gleichgültig. Aber ich schwöre Ihnen, ich empfand von dem Augenblicke an, da ich Ihre und meine Pflichten kennenlernete, nichts als Freundschaft. Ich biete Ihnen heute diese Freundschaft noch einmal an. Wollen Sie diese?

KARL. Sagen Sie mehr, sagen Sie Liebe.

AMALIE. Nennen Sie mir dies Wort nicht mehr, wenn ich Sie nicht sogleich verlassen soll. Alle zärtliche Sorgfalt für die Ehre meiner Freundin wird mich sodann nicht abhalten, dem rechtschaffenen Manne zu entdecken, was er für einen Bösewicht zum Sohne hat. Er wird Sie sodann zwingen, dasjenige der Gerechtigkeit zu geben, was Sie doch mit einem gewissen Scheine von Tugend der Liebe leisten könnten.

KARL. Mein Herz würde diesen Zwang nicht nötig haben, wenn nicht Amalie seine Verführerin geworden wäre.

AMALIE. Ungerechter Southwell, wollen Sie mich zu einer Mitgenossin Ihrer Verbrechen machen? Doch es ist die Gewohnheit Ihres Geschlechts, dem unsrigen alle die Fehler, die das Ihrige selbst beging, aufzubürden.[223] Ich beschwöre Sie weder bei derjenigen Gerechtigkeit, die noch kein Verbrechen ungerochen gelassen hat, weder bei Ihrer Pflicht, noch bei dieser Tugend, die Sie vielleicht beide nicht genugsam kennen; ich beschwöre Sie bei Ihrer Glückseligkeit selbst, lieben Sie Lucien. Wie können Sie in dem Arme einer jeden andern Gemahlin eine einzige Zärtlichkeit empfinden, da Sie sich dabei an die Zärtlichkeiten der armen Lucie erinnern müssen? Wird ein einziger Ihrer Träume von den Schrecken des Bildes der Lucie frei sein? Fürchten Sie diese Ruhe, die auf eine kurze Zeit Ihre Sinne berauschen wird. Sie wird verschwinden wie ein Traum, und Schrecken werden Ihre Nächte und Verzweiflung Ihre Tage sein. Warum ist doch Ihr Auge so blöde, die Glückseligkeit nicht zu sehen, die Ihrer in Luciens Armen erwartet? Eine Gemahlin, die weiter keine Glückseligkeit als Sie verlangt, die alle Ihre Wünsche übertreffen wird, die Sie und Ihren Vater zugleich glücklich machen wird! Können Sie ein Mensch und gegen dies alles unempfindlich sein?

KARL. Ich unempfindlich? mein Herz, Lucie leidet mehr als das deinige!

AMALIE. Es ist ein Ruhm für Ihr Herz, daß es leidet. Ich habe niemals von dem Sohne des Sir Willhelm Southwells geglaubet, daß sein Herz unedel sein könnte. Eine gewisse Leichtsinnigkeit, Eigenliebe und Wankelmut (verzeihen Sie einer weiblichen Offenherzigkeit) wird er leicht in dem Umgange mit einer würdigen Gemahlin vergessen lernen, und sein Herz wird sodann mit dem edelsten Herzen um den Vorzug streiten können.

KARL. Wodurch wird sich Lucie von der Last ihrer Verbindlichkeiten befreien, die sie den Bemühungen ihrer Freundin schuldig ist?

AMALIE. Diese Bemühungen sind überflüßig belohnet, wenn Sie Lucien ihre alten Rechte wieder einräumen. Werde ich nicht sodann das Vergnügen empfinden, an Ihrer und meiner Freundin Glückseligkeit gearbeitet zu haben? Oh! kennten Sie die Wollust, diese erhabene Wollust, die ein Herz fühlt, das seine Pflichten sein Gesetz sein läßt, das durch diese Pflichten die Glückseligkeit seines Nächsten befördert sieht, Sie würden die Verzögerung verfluchen, die Ihnen diese Wollust geraubet hat.

KARL. Führen Sie mich, erhabene Amalie. Ich will versuchen, ob mein Herz noch unverderbt genug ist, diese Wollust empfinden zu lernen.

AMALIE. Betty von weitem. Nunmehr sind Sie mein Freund. Umarmen Sie Ihre Freundin. Alles, was Ihnen mein Herz einräumen kann, schenke ich Ihnen.


Quelle:
Die Anfänge des bürgerlichen Trauerspiels in den fünfziger Jahren. Leipzig 1934, S. 223-224.
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