23. Larissa an Junia Marcella.

[32] Nisibis, im Sept. 301.


Der Kelch des bittersten Leidens ist diesmal vorübergegangen. Nisibis ist erobert, Demetrius und Agathokles leben! Dieser ist gar nicht, mein Gemahl wohl bedeutend, aber nicht gefährlich verwundet, und in dem beglückten Gefühle, so großem Unglücke entgangen zu seyn, übersieht das getäuschte Herz die dunkeln Stellen, deren noch so viel übrig sind. Jetzt will ich sie alle vergessen, ich will nur Gott danken, der mir diese zwei theuersten Wesen erhielt, und mich vor Verzweiflung bewahrte. Auch hat es der Vorsicht, deren Fügungen in dem Gange meines Schicksals immer sichtbarer erscheinen, gefallen, ein neues schönes Band zwischen dem Freunde meiner Jugend und mir anzuknüpfen, ein Band, das viele Empfindungen, die ich bisher verdammen mußte, rechtfertigt, und mir erlaubt, dem Zuge meines Herzens ohne so große Aengstlichkeit zu folgen. Demetrius dankt der Treue, dem Muth, der Anhänglichkeit seines Legaten das Leben. O meine Junia! Welche Seligkeit liegt in diesem Gedanken? Nicht allein die Schönheit der Handlung selbst, sondern auch die Sicherheit, die sie meinem Geiste gewährt, die Freiheit, den mit reiner schwesterlicher Liebe lieben zu dürfen, der unsern gemeinschaftlichen Vater erhalten hat! Ich darf ihn jetzt nicht mehr so scheu betrachten, ich darf einen Theil meines Gefühls ihm ungehindert zeigen. Die reine Dankbarkeit, die unschuldige Neigung, die in meinem Herzen liegt, ist kein Verbrechen. O Junia! Ich bin befriedigt, ich verlange für meine Wünsche kein höheres Glück. Und[33] wenn es auch nicht lange währen sollte, denn schon sehe ich Wolken an unserm Horizont heraufsteigen, so war ich doch für kurze Zeit recht glücklich! Diese Zeit ist mein, diese Erinnerungen kann mir keine Zukunft rauben, und der helle Zwischenraum in meinem nächtlichen Leben soll mich stärken, künftige Widerwärtigkeiten mit freudigem Muthe zu ertragen.

Agathokles hatte zuerst auf seinem Posten, welcher der gefährlichste von allen war, die Mauer erstürmt. Wie es da erging, diese schrecklichen Auftritte, diese fürchterlichen Gestalten des Todes, die ich erzählen hörte, wirst du mir zu wiederholen erlassen. Genug, nach einem zweistündigen Gefechte drangen die Unsrigen, ihren muthigen Führer an der Spitze, in die Stadt ein. Nicht lange darnach erreichte Demetrius von der andern Seite denselben Zweck. Aber da man auf dieser schwächern Seite der Stadt den Sturm vermuthet hatte, fand er viel größern Widerstand, und das Gefecht wurde von beiden Seiten mit der heftigsten Erbitterung fortgesetzt. So gelangten sie bis auf den Marktplatz, die Besatzung wich nur Schritt vor Schritt, die Unserigen mußten jeden Fußbreit Boden theuer erkaufen. – Plötzlich stürzte, als Demetrius mit den Seinen schon auf dem Platze stand, aus einer Nebenstraße ein weit überlegener Haufe von feindlichen Soldaten hervor. Demetrius sah die Seinen um sich her fallen, er stritt fast allein gegen den wüthenden Schwarm. Einer von den Seinigen hatte die Besonnenheit, zu Agathokles zu eilen, und ihm die Gefahr seines Feldherrn zu melden. Dieser vergaß sogleich jede Rücksicht auf eigenen Ruhm, auf Behauptung seines errungenen Sieges, und schlug sich mit Wenigen, die ihm muthig folgten, bis[34] zu seinem Feldherrn durch. Er fing den tödtlichen Hieb, der das Leben meines Gatten hätte enden können, mit seinem Schwerte auf, er deckte ihn, als er verwundet niedergesunken war, mit seinem Schilde, und schützte sein Leben auf Gefahr des eigenen, bis eine Verstärkung der Unserigen ankam, und dem treuen Agathokles erlaubte, nun auch für die Pflege seines Geretteten zu sorgen. Mit kindlicher Sorgfalt wachte er über ihn, ließ ihn in ein nahes Haus bringen, und alle Anstalten zu seiner Erhaltung treffen. Sobald die Feinde die Stadt gänzlich geräumt hatten, sandte er zu mir. Mit der größten Schonung, in der ich sein Herz erkannte, wurde mir der Vorfall berichtet, und ich eilte zu Demetrius, den ich zwar verwundet und erschöpft, aber bei so heiterm Geist, so froh über den gelungenen Sieg, und so dankbar gegen seinen edlen Retter fand, daß die Pflicht, seiner zu pflegen, mir doppelt süß wird.

Den Tag, nachdem ich in Nisibis angekommen war, erhielt ich einen Brief von dir, den die Veränderungen unsers Aufenthalts, oder andere Zufälle verspätet haben. Er ist mehrere Wochen alt. Du schreibst mir darin mit aller Liebe einer Freundin, mit aller Strenge einer tugendhaften Christin über mein Verhältniß zu Agathokles. Du räthst mir nicht blos, du befiehlst mir die Gefahr zu fliehen, in der ich sicher untergehen würde. Du findest die einzige Möglichkeit der Rettung in schneller gänzlicher Trennung, und verlangst, daß ich meine Sicherheit, sogar mit dem Scheine des Ungehorsams gegen Demetrius, mit der Gefahr, seinen Zorn, den Vorwurf pflichtwidriger Kälte auf mich zu laden, erkaufen sollte. Ach Junia! Was du forderst! Es mag möglich seyn, daß dies[35] Mittel mich früher hätte retten können! Es mag möglich seyn, so strengen Forderungen der Pflicht zu gehorchen. Ich glaube auch, daß in deiner Brust die Kraft dazu läge! Aber ich? Zürne nicht, Junia! Ich kann, ich darf, ich brauche dies einzige grausame Mittel nicht anzuwenden. Demetrius ist schwer krank, nicht sowohl durch die Art seiner Verwundung, als durch ein heftiges Fieber, das sich zu seiner Erschöpfung gesellte. Jetzt ist der Wille des Himmels deutlich ausgesprochen. Ich soll und werde den kranken Gemahl nicht verlassen. Aber ich bedarf es auch nicht; denn mein Verhältniß zu Agathokles ist verändert, und der strenge Zwang aufgehoben, in dem, wie du selbst einsiehest, ein großer Theil unserer Gefahr, unserer gespannten Verhältnisse lag, seit ein neues schönes Band sich zwischen uns angeknüpft hat, und pflichtmäßige Dankbarkeit meine Gefühle veredelt und heiligt.

Demetrius behandelt ihn, seit dem letzten Vorfalle, mit väterlicher Zärtlichkeit. Agathokles ist fast immer um ihn, er wünscht es, er verlangt es sogar deutlich, wir theilen uns in seine Pflege und Unterhaltung, und mein Gemahl scheint die Hülfleistungen seines treuen Legaten beinahe mit mehr Freude zu erkennen, als die meinigen. Ach Junia! Das sind dann selige Stunden! Wenn Demetrius schlummert, dann wallet ein leises herzliches Gespräch zwischen uns, von alten guten Zeiten; die Geister unserer kindlichen Freuden umschweben uns rein und unschuldig, vielleicht der Geist seiner vortrefflichen Mutter, der er und ich so viel zu danken haben, von der der edle Sohn nie ohne Rührung spricht. Ihre heilige Gegenwart weiht unsere Empfindungen, verbannt alles Leidenschaftliche daraus, und läßt uns nur[36] die Süßigkeit einer freien schuldlosen Neigung genießen. Wacht Demetrius, so erheitert ihn entweder abwechselndes Vorlesen, oder ein anziehendes Gespräch, dessen Gegenstand oft die Lehren unserer heiligen Religion sind. Du weißt, welch ein eifriger Christ Demetrius ist, und wie manchen Verdruß ihm dieser Eifer schon zugezogen hat. Seit dem letzten Vorfall ist das Bestreben, seinen Freund von einer Lehre zu überzeugen, die ihm allein in dieser und jener Welt dauerhaftes Glück sichern kann, eben so natürlich als sichtlich. Und Agathokles! O meine Freundin! Wie glücklich macht mich oft diese Bemerkung! Agathokles scheint von der Erhabenheit unserer Lehrsätze weit mehr durchdrungen, als sich mir zu hoffen erlaubt hatte.

Neulich, als Demetrius, der seinen Zustand als Weiser und Christ mit Ernst bedenkt, und keinen Täuschungen Raum gibt, das heilige Abendmahl zu genießen wünschte: hieß er uns alle gegenwärtig seyn, und auch Agathokles durfte nicht fehlen. Obgleich es ihm nun unmöglich war, den Theil daran zu nehmen, der Christen erlaubt ist: so sah ich ihn doch von dem erhabenen Zwecke und der ganzen Ansicht dieser Einrichtung, von unsern Gebräuchen, von unserer stillen Andacht gerührt. Ex sank mit uns zugleich auf die Kniee, und brachte, wie er mir hernach gestand, dem unbekannten Gotte den Tribut der Ehrfurcht und Liebe. Ich sah ihn an. So edel, so unaussprechlich liebenswürdig, als in dieser feierlichen Stunde, hatte er mir noch nie geschienen. Ich fühlte mich unwiderstehlich zu ihm hingezogen. O ich hätte ihm, wenn es die Umstände gefordert hätten, in Gegenwart aller Zeugen eine Liebe gestehen können, die so rein, so[37] fromm war! Als ich ihm sagte, daß ich für ihn, für sein Glück gebetet hätte, daß ich täglich für ihn betete: da sah ich Thränen aus seinen Augen dringen. Er ergriff meine Hand in einer heftigen Bewegung; er wollte sprechen – aber er vermochte es nicht. Er riß sich los, und eilte hinaus. Hatte er mich verstanden? Fühlte er, was ich sagen wollte?

Laß mich nun, Junia! meine Hoffnungen, meine Aussichten, alle meine Freude und Beruhigung in deine theilnehmende Brust gießen, und zürne mir nicht zu strenge! Ach, ich war lange genug unglücklich. Mißgönne mir den Sonnenstrahl nicht, an dem mein verdüstertes Wesen sich zutrauensvoll entfaltet, und zu bessern Tagen auflebt!

Nichts ist Zufall in der Welt, meine Geliebte! Alles ist Fügung und Anordnung einer weisen Vorsicht, die der belebten und unbelebten Natur ihre ewig unverbrüchlichen Gesetze mitgetheilt hat, von denen abzuweichen eben so unmöglich ist, als den gestrigen Tag zurückzurufen. Alles Zufällige, alles Ungefähr hört auf, und daß uns etwas so erscheint, ist nur Schuld unserer beschränkten mangelhaften Ansicht, welche nicht mehr als einen kleinen Theil des großen Ganzen zu übersehen im Stande ist. Da wir aber vom Schöpfer mit Vernunft und Gewissen begabt, und verpflichtet sind, unter Leitung der erstern auf Antrieb des letztern zu handeln, zu wählen, zu verwerfen; so hört unsere Zurechnung, und unser freier Wille nicht zugleich auf. Nun aber, weil es unmöglich ist, etwas zugleich zu thun und zu lassen, weil unter tausend möglichen Fallen nur Einer in die Wirklichkeit eintreten, und in die Kette der Begebenheiten[38] eingreifend, selbst zur Ursache unabsehlicher Folgen werden kann: so ist unsere Entschließung und ihre Wirkungen vorausgesehen von dem Auge, dem Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart Ein Tag ist, und wir handeln nach dem großen Plan, wie zwanglos, wie vernunftmäßig oder sinnlich, wie tugendhaft oder leidenschaftlich unsere Entschließung gewesen seyn mag, und alles leitet zu einem schönen Ziel, das weit hinter diesem nächtlichen Erdenleben in lichter Ferne zuweilen dem redlichen Forscher, oder dem kindlichen Sinne erscheint. Wenn du mir nun das zugibst, und ich sehe nicht wohl, wie du als Christin und selbstdenkendes Wesen es bestreiten kannst, so darf ich mich ja wohl dem süßen Gedanken überlassen, daß die Begebenheiten der letzten Tage eben so von Gott geordnet, und eben so, wie alles Uebrige in der Welt, Leitung zu einem hohen edeln Zwecke seyen. Warum, meine Liebe! mußte Agathokles gerade zu dem Feldherrn kommen, in dessen Frau er seine Jugendgeliebte findet? Warum zu einer Familie, die aus lauter Bekennern des Christenthums besteht? Warum mußte bei'm Sturm auf Nisibis unter so augenscheinlichen Gefahren sein Leben verschont bleiben, und er Gelegenheit finden, sich seinem Vorgesetzten so hoch zu verpflichten, ihn zu seinem Freunde zu machen? Warum kam dein Brief, der mich in Edessa vielleicht zur Trennung von ihm vermocht hätte, erst jetzt, wo es viel zu spät war? Wie wäre es, Junia! wenn alle diese scheinbaren Zufälligkeiten sich zu dem Zwecke vereinigten, Agathokles in den Schooß unserer heiligen Kirche zu führen, und ihm den einzigen Vorzug zu ertheilen, der ihm noch fehlt, um ganz vollkommen zu seyn? Agathokles ein Christ! Junia! Diese[39] strenge Tugend, dieser erhabene Sinn, durch den Geist des Christenthums erhöht, veredelt, verfeinert! O wie gern will ich dann meine Leiden getragen, und durch acht freudenlose Jahre diesen Augenblick höchster Seligkeit erkauft haben!

Dein Brief hat mir die Ankunft meines geehrten Lehrers Apelles hoffen lassen. Noch ist sie nicht erfolgt, aber ich begreife wohl, daß die Störungen, die der Krieg in diesen Gegenden verursacht, und die öftere Veränderung unsers Standorts seine Reise verzögert haben mögen. Wie sehr wünschte ich ihn zu sehen! Ich würde mir sehr viel von der Gewalt seiner Ueberzeugung, und seiner feurigen Beredtsamkeit für Agathokles Sinnesänderung versprechen. Ach, es ist schon ein so schöner Anfang gemacht! Gelingt es Apelles, das Ganze zu vollenden, so wäre das eine neue Wohlthat, die ich deiner Liebe und Theophrons väterlicher Sorge um mich zu danken hätte. Sage ihm, dem ehrwürdigen Lehrer und Tröster meiner Jugend, daß ich ihm mit kindlicher, und dir mit schwesterlicher Zärtlichkeit dafür danke. Mein Gemüth ist jetzt viel stiller und ruhiger, ein heiterer Friede wohnt in mir, wie er einst die Jahre meiner Kindheit beseligte, und zum erstenmal nach mehr als acht Jahren blicke ich mit Ruhe auf die Gegenwart, und ohne Furcht in die Zukunft. Vielleicht hat die gütige Vorsicht mir in spätern Jahren Ersatz für die verlorene Jugend bestimmt. Was sie auch senden mag, wie viel, wie wenig es sey, ich will es kindlich hinnehmen, und dem, was sie verweigert – Junia! es ist etwas Großes! es hätte mich zum glücklichsten Weibe auf Erden gemacht! – mit stiller Unterwerfung entsagen.

Quelle:
Caroline Pichler: Agathokles. Erstes bis Sechstes Bändchen, Schriften, Band 32, Stuttgart 1828, S. 32-40.
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