55. Junia Marcella an Theophania.

[6] Apamäa, im November 302.


O meine Theophania! meine theure unvergeßliche Freundin! Du hast Recht, wenn du im Anfange deines Briefes sagst, daß seltsame Empfindungen und tausenderlei Gedanken meine Seele durchkreuzen werden, wenn ich deinen Brief eröffnet haben würde. Schrecken, Freude, und dann Zweifel waren die ersten Regungen meines Herzens, als ich die Schriftzüge der geliebten Freundin erblickte, die ich längst unter dem Hügel von Trachene begraben glaubte. Aber als der Inhalt der ersten Zeilen jede Ungewißheit zerstreut hatte – da, meine Geliebte, war inniger heißer Dank und ein kindliches Gebet zu dem gütigen Vater, der die Herzen der Menschen wie Wasserbäche lenkt, und ohne dessen Willen kein Haar von unserm Haupte fällt, mein dringendstes Gefühl. Dann las ich weiter, und mein Herz begleitete dein Schicksal mit sympathetischen Gefühlen bis gegen das Ende. Ja, meine Geliebte! wunderbar und unbegreiflich sind die Fügungen Gottes, der dich mitten unter Barbaren erhielt, und dir ihre Gemüther geneigt machte, daß sie nicht allein deines Lebens und deiner Ehre schonten, sondern dich auch in Frieden ziehen ließen, als die Rettung erschien. Wie sehr hätte ich gewünscht, diese reine Freude mit unserm ehrwürdigen Vater Theophron zu theilen! Aber sein verklärter Geist schwebt bereits in höhern Räumen, und er sah wohl längst mit hellem Blicke das Schicksal seiner Schülerinnen sich hienieden aus verschlungenen Knoten schön und friedlich auflösen, als du noch in der Hütte deines edelmüthigen Gebieters düster sinnend deiner Zukunft entgegen sahst. Er starb den vergangenen[7] Frühling, mit der neugebornen Natur wurde auch er neugeboren, und erwachte aus dem düstern Erdenwinter in Edens Frühlingshainen. So hatte ich, wie das immer beim Verluste geliebter Menschen geht, nur mich zu beklagen. Unsre Trauer um Entschlafne ist immer nur Trauer über uns selbst. Ihnen ist ja besser geworden, als es uns ist.

So war es auch, als ich dich zehn Monate für todt hielt. Ach, ich konnte dein Loos nicht beweinen! Wie wenig Freuden hattest du genossen! Aber ich beweinte mich selbst, ich betrauerte das Schicksal deines Freundes, und hier komme ich auf jenen Punkt deines Briefs, mit dem ich unmöglich zufrieden seyn, oder dir beistimmen kann. Agathokles – laß mich immerhin diesen Namen nennen, den du so geflissentlich in deinem Briefe zu vermeiden scheinst – ist, so wie ich es war, von deinem Tode vollkommen überzeugt. Die Gründe dieser Ueberzeugung und überhaupt die Wirkung, die diese Catastrophe auf ihn gemacht hat, kannst du am besten aus dem Briefe unseres Freundes Apelles kennen lernen, den ich dir hiermit in einer getreuen Abschrift beilege. Er ist aus Trachene, dem Schauplatz jener unglücklichen Begebenheiten, geschrieben. Wenn du ihn gelesen hast, wirst du selbst bekennen müssen, daß Agathokles keine Ahnung deines Lebens haben konnte. Die weibliche, von Wunden entstellte Leiche in prächtigen Kleidern, die man in deinen Zimmern gefunden, für dich gehalten, und begraben hatte, und die wahrscheinlich jene Melyte war, deren Eitelkeit sie zu diesem Schritte verleitet hatte, mußte ihm und Apelles jeden Zweifel, jede noch so schwache Hoffnung benehmen, besonders da die Todten schon begraben, und[8] keine Spur deiner Rettung zu finden war. Es ist also sehr natürlich, daß Agathokles keine weiteren Nachforschungen anstellte, und keinen Gedanken mehr nährte, die, die er unter dem Hügel von Trachene begraben hielt, an den Ufern des Borysthenes zu suchen. So viel zur Beantwortung deiner ersten ungerechten Klagen über diese vermeintliche Gleichgültigkeit. Daß es eine kleine Falschheit war, mit der du Heliodor nach Synthium locktest, fühlst du selbst, und ich sage dir nichts darüber; aber wie magst du so erfinderisch seyn, dich selbst zu quälen, und aus einem freundschaftlichen Scherze, aus dem zufälligen Zusammentreffen einiger Umstände dir ein ganzes Gewebe von Untreue, Verrath und gewissem Unglücke zu bilden? Ich weiß von sehr guter Hand, daß nicht Calpurnia, sondern Sulpicia in Synthium wohnt, daß Agathokles ihr diese Villa aus Freundschaft eingeräumt, und ihre Freundin sie dort besucht hat, wie sie an jedem andern Ort gethan haben würde. So bedeutete ihre Anwesenheit gar nichts in Rücksicht auf den Besitzer der Villa; denn ihr Besuch galt nicht ihm, sondern Sulpicien, und es wäre dir leicht gewesen, durch einige geschickte Fragen die Wahrheit herauszubringen, wenn dein empörtes Herz dir Unbefangenheit genug hierzu gelassen hätte.

Ich will hierdurch nicht sagen, daß du keinen Grund hättest, unruhig zu seyn; ich bin vielmehr nach allen Nachrichten, die ich aus Nikomedien erhalte, beinahe überzeugt, daß Calpurnia einen bedeutenden Eindruck auf ihn gemacht hat, daß jene Verhältnisse, die schon in Rom anfingen, hier fortgesetzt worden sind, und durch die Gewißheit, daß jedes frühere Band zerrissen sey, an Stärke[9] und Rechtmäßigkeit gewonnen haben. Sie hat ihm, als er mit der Siegesbotschaft ankam, ein sinnreiches Fest gegeben, an dessen Schlusse sie ihm einen Lorbeerkranz um's Haupt wand, und dessen Inhalt ihm ihre Empfindungen für ihn auf eine eben so feine als schmeichelhafte Weise zu erkennen gab. Das Alles ist wahr, und deine Besorgnisse nicht zu tadeln; aber ihn – ihn sollst und kannst du nicht so hart beschuldigen. Er ist ein Mann. Männer haben andre Gefühle, andre Pflichten als wir. Ihr Wirkungskreis ist der Staat, die Welt; der unsrige sind unsere Kinder, unser Haus; jenem gehören ihre besten Kräfte. Wir würden die Ordnung der Natur verkehren, wenn wir einen ausschließenden Anspruch an alle ihre Thätigkeit, alle ihre Empfindungen machen wollten. Wenn nun bei dem großen Treiben und Regen aller edleren Kräfte des Menschen, im Feld oder in wichtigen Staatsgeschäften, worin ihn Constantin braucht, bei der Gewißheit deines Todes, die ihn fast an den Rand des Grabes brachte, bei den unausgesetzten Bestrebungen der schönen und schlauen Calpurnia, einen Eindruck auf sein wundes Herz zu machen, wenn, sage ich, bei allen diesen Umständen dein Bild nach und nach in Schatten zurück weicht, kannst du ihn so hart anklagen, so unnachsichtlich tadeln? Kannst du dir ein großes Verdienst aus deiner festern Treue machen, du, die ihn am Leben weiß, und die durch keine Zerstreuung, keine Verführung von ihm abgelockt wird?

Aus allen diesen Gründen kann ich deinen Plan, dich ihm ganz zu entziehen, und die Rolle der Verstorbenen fortzuspielen, unmöglich billigen. Wie leicht kann ein Zufall dein Geheimniß enthüllen? Wie tief müßte es[10] deinen Freund, wenn seine Hand noch frei ist, schmerzen, diese Entdeckung nicht dir selbst verdankt zu haben? Und wenn es zu spät wäre – was würde deine und seine Lage seyn! Mich schaudert vor dem Gedanken. Das überlege wohl, meine Geliebte! ehe du auf dem begonnenen Wege weiter schreitest. Auf mich kannst du jedoch in jedem Fall sicher zählen, ich werde dein Geheimniß treu bewahren, obwohl ich nicht mit deiner Ansicht verstanden bin, und sehr wünsche, dich von der Unthunlichkeit und Gefahr dieser Grille – verzeih meiner Freimüthigkeit den Ausdruck – zu überzeugen. Theophania! Du gehst auf einem schlüpfrig steilen Wege. Er kann dich an den Rand des Abgrundes, er kann dich in den Abgrund selbst führen, und du stürzest nicht allein hinein, du reißest auch deinen Freund mit dir.

Wenn du denn aber wirklich für ihn unsichtbar bleiben willst, so entziehe dich mir nicht, jetzt, wo keine Pflicht dich mehr abhält, dem Rufe der Freundschaft zu folgen. Komm zu mir! In meinem Hause sollst du so einsam und verborgen leben, als in der Zelle eines Eremiten. Komm zu mir, und laß mich das Glück der Freundschaft genießen, das ich so lange entbehrt habe. Du weißt, wie ich dich liebe, und wie glücklich mich deine Zusage machen würde. Leb' wohl!

Quelle:
Caroline Pichler: Agathokles. Erstes bis Sechstes Bändchen, Schriften, Band 34, Stuttgart 1828, S. 6-11.
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