V.

[267] Obgleich gerade Gustav es gewesen war, der dem Aufseheragenten das Geschäft in Halbenau gelegt hatte, ließ ihm doch der Gedanke an den Mann und was er gesagt hatte, keine Ruhe. Er hatte neulich die ganze Sache als Schwindel und Menschenfang bezeichnet, aber im stillen gedachte er jetzt mit heimlich zehrender Sehnsucht der goldenen Berge, die jener in Aussicht gestellt hatte. Wenn nun doch etwas an der Sache war! – Gänzlich aus der Luft gegriffen konnte das alles unmöglich sein. Gustav entsann sich der gedruckten Formulare, die der Mann vorgezeigt hatte; sogar Stempel von Behörden waren darauf zu sehen gewesen.

Der junge Mann befand sich in eigentümlicher Lage. Seine Seelenstimmung war geteilt. Die Anerbietungen des Agenten lockten; auf der anderen Seite scheute er sich, wieder in den Bannkreis des Mannes zu geraten, den er soeben mit Erfolg bekämpft hatte. Und schließlich schämte er sich auch vor den Dorfgenossen, die sein Auftreten im Kretscham mit erlebt und Beifall geklatscht hatten.

Er hielt sich dem Werber vorläufig ferne, aber in[267] den Blättern verfolgte er die weiteren Schritte des Mannes mit Spannung.

In allen Ortschaften ringsum rührte Zittwitz die Werbetrommel und, wie es den Anschein hatte, mit großem Erfolge. Seine Kontrakte bedeckten sich allmählich mit Hunderten von Unterschriften.

Es lag etwas Ansteckendes in dieser Bewegung. Man wollte sich einmal verändern, wollte sein Glück in der Ferne versuchen. Der Agent schilderte die Verhältnisse da draußen im Westen in verlockenden Farben. Und wenn der Mann vielleicht auch Schönfärberei trieb seines Geschäftes wegen, schließlich schlimmer als daheim konnte es dort wohl auch nicht sein. Und der Gedanke, zu wandern, ein Stück Welt zu sehen, packte die Gemüter mächtig. Die Fremde lockte mit ihren unklaren, dem Auge im bläulichen Dunst der Ferne verschwimmenden Dingen. Das Frühjahr stand vor der Tür; da sind die Hoffnungen leicht erregbar in der Menschenbrust. Da wachsen und quellen heimliche Wünsche, ein unverständlicher Drang treibt, ein süßes und beunruhigendes Gefühl quält den jungen Menschen und reizt ihn zu Neuem, Unentdecktem. Der tief in die Menschennatur gesenkte Trieb, sich zu verändern, der Wandertrieb, regte sich.

Wie die Zugvögel kamen sie zusammen. Einer sagte es dem anderen; überall in den Schenkstuben, des Sonntags vor der Kirche, bei gemeinsamer Arbeit, wo immer Menschen zusammenkamen, wurde das Für und Wider eifrig besprochen. Die Hoffnungsfreudigen steckten die Verzagten an; wer bereits unterschrieben hatte, suchte Gefährten zu werben. Wie der Schneeball im Rollen wuchs die Bewegung.

Schon reute es manchen jungen Mann und manches[268] Mädchen in Halbenau, daß sie neulich die Anträge des Aufseheragenten abgelehnt hatten. Heimlich gingen sie dorthin, wo er neuerdings sein Quartier aufgeschlagen hatte, um sich seine Worte doch noch einmal mit anzuhören.

Eines Abends befand sich denn auch Gustav Büttner auf dem Wege nach dem benachbarten Wörmsbach, wo, wie er aus den Zeitungen ersehen hatte, Zittwitz heute sprechen wollte. Gustav hatte daheim keinem Menschen etwas gesagt von seinem Vorhaben. Niemand in Halbenau sollte etwas davon wissen, er wollte sich gänzlich im Hintergrunde halten; wenn irgend möglich wollte er vermeiden, von dem Agenten selbst gesehen zu werden.

Im Gasthof zu Wörmsbach bot sich dem Eintretenden ein ganz anderes Bild dar als neulich in Halbenau. Der Aufseheragent saß auf einem erhöhten Podium, neben ihm ein junger Mann, welcher schrieb. Seinen Vortrag schien Zittwitz bereits gehalten zu haben. Hin und wieder richtete er noch ein Wort der Erläuterung an die Menge oder beantwortete Fragen einzelner, die an ihn herantraten. Er schien von Männern aus der Versammlung unterstützt zu werden, die von Tisch zu Tisch und von Gruppe zu Gruppe mit Zetteln gingen und den Leuten zusetzten, sie sollten unterschreiben. Besonders rührig darin zeigte sich ein gewisser Wenzelsgust, der für gewöhnlich als arbeitsscheues Individuum bekannt war. Dieser Mensch lief hier mit wichtiger Miene geschäftig umher und redete den Leuten zu, sie dürften sich eine solche Gelegenheit zur Arbeit um keinen Preis entgehen lassen.

Hin und wieder trat ein Bursche oder ein Mädchen an das Podium und sprach mit dem Agenten. Waren[269] sie handelseinig geworden, dann ließ sich der Schreiber die Personalien angeben, füllte ein Formular aus, und der Neugeworbene setzte seinen Namen unter den Kontrakt. Von Zeit zu Zeit verlas der Agent dann mit lauter Stimme die Namen und knüpfte daran Worte der Ermunterung an die, welche noch zauderten.

Doch spielte sich nicht alles so ruhig und geschäftsmäßig ab. Starke Gefühle, Leidenschaften und Triebe arbeiteten versteckt unter anscheinender Ruhe und Stumpfheit in dieser Menge.

In Gustavs Nähe stand eine alte Frau und ein junges Mädchen. Wie aus ihren Worten zu merken, war die Greisin die Großmutter des kaum sechzehnjährigen bildhübschen Dinges. Die Alte hatte Tränen in den Augen und redete voll Eifer auf die Enkelin ein. Die blieb stumm und blickte mit einem gewissen verinnerlichten Trotz in ihren kindlichen Zügen nach dem Podium hinüber, wo eben neue Sachsengänger sich meldeten.

»Ne, Guste!« sagte die alte Frau mit zitternder Stimme, das Mädchen mit ihrer runzeligen Hand liebevoll tätschelnd, »de werft uns buch su was ne oantun wellen. Was sillte denn aus dan kleenen Kingern warn, dernoa! Gieh! Bleib ack bei uns, Guste! Weeß mer denne, wie's da draußen sen mag.«

Dann sah sich die Greisin hilfesuchend im Kreise um: »'s is ane Sinde und ane Schande, su a Madel mitnahmen!« Und sich dem Mädchen wieder zuwendend: »Gleb mirsch, Guste, dir wird's ei der Fremde bange wern nach der Heemde.«

In geschwätziger Greisenart erzählte sie jedem, der es hören wollte, von ihrer Not. Ihre Tochter, die Mutter des Mädchens, lag schon im siebenten Monat[270] ans Bett gefesselt. Der Schwiegersohn war als Steinmetzger im Gebirge, hatte einen Haufen kleiner Kinder. Und nun wollte die Guste auch noch fort, welche bisher die Stütze des ganzen Haushalts gewesen war. »Raden Sie er ack zu!« bat sie die Umstehenden. »Uf mich Altes tut se ne hieren. Se soit, se will sich a Sticke Geld verdiene mit a Riebenhacka. Ich ha' gesoit, iber se gesoit ha' ich: Guste, 's is duch ane Sinde un ane Schande, su a Madel, su a jung's Madel alleene ei de Fremde losa. Was sull denne aus uns warn hernach'n.«

Die Greisin blickte in hilfloser Verzweiflung von einem zum anderen. Während sie noch ihr Leid klagte, war die Enkelin unvermerkt von ihrer Seite gewichen. Bald darauf sah man ihr rotes Kopftuch in der Nähe des Podiums, und nach einiger Zeit verlas der Agent ihren Namen unter den Angeworbenen.

Gustav erlebte mit Staunen, wie flott hier das Geschäft des Werbers ging. Freilich in Wörmsbach lagen die Verhältnisse auch anders als in Halbenau. Wörmsbach und seine Bewohner genossen nicht gerade den besten Ruf in der Nachbarschaft. Hier hatte es ursprünglich viele wohlhabende und selbständige Bauern gegeben. Eine Zeitlang nahm der Ort einen Aufschwung, der die Nachbardörfer in Schatten stellte. Aber die junge Generation hatte angefangen, auf dem ererbten Wohlstande auszuruhen. Das Spiel, der ärgste Verderber des Bauern, war aufgekommen, und der Trunk hatte sich dazu gesellt. An Stelle des Reichtums trat die Überschuldung. Die Güter der Bankrottierer kamen unter den Hammer und wurden zerkleinert. In keinem Orte der ganzen Umgegend spielte die Güterschlächterei und der Bodenschacher eine solche Rolle wie in Wörmsbach.[271] Samuel Harrassowitz aus der Kreisstadt war hier kein Unbekannter.

An einem Tische für sich saß eine Anzahl Männer, die sich durch ihre Kleidung von den Dorfleuten abhoben. Der Gendarm mit einem geraden schwarzen Schnurrbart, neben ihm ein dicker Mann mit rotem Vollbart im braunen Lodenrock – in dem Gustav einen der Inspektoren der Herrschaft Saland wiedererkannte – dazu zwei Leute in Jägertracht, gräfliche Revierförster.

Gustav erfuhr von einem neben ihm stehenden jungen Manne, weshalb die Beamten hier seien. »Zum Uffpassen!« Neulich habe es bereits einen großen »Spektakel« gegeben, da seien ein paar Mägde und ein Holzarbeiter von der Herrschaft davongelaufen und hätten sich dem Agenten verdungen.

Die Augen des Berichterstatters leuchteten vor Schadenfreude, als er erzählte: »Da soll nu der Schandarm, und er sull helfen uffpassen. In hellen Haufen lösen se weg vun der Herrschaft und och von den Pauern. Is denen schun recht, sag 'ch, was zahlt 'r sicke Hungerlöhne, daß unserener ne laben kann dermitte und ne starben.«

Gustav sah sich den kleinen verwachsenen Burschen etwas näher an. Das war wohl ein »Sozialer« wie es hier auch schon welche gab. Er fragte jenen, wer er sei, und was er hier wolle. Er sei Ochsenknecht auf dem Rittergute, sagte der Kleine. »Ich ginge och glei. Ich ha' das Luderlaben satt. Glei macht 'ch mitte nach Sachsen. Wenn 'ch ack ne verheirat' wäre! Und Zittwitz spricht: Frau und Kinder dirfte ees ne mitnahmen, spricht er.«

Inzwischen schien sich die Zahl der Arbeitsuchenden erschöpft zu haben. Der Aufseheragent erhob sich und[272] fragte, ob sich weiter niemand melde, sonst werde er für heute abend die Liste schließen. Dann verließ er das Podium und mischte sich unter die Menge. Hier und da blieb er stehen an den Tischen, redete einzelne Leute an: Er habe gerade noch eine Stelle frei auf einem ausgezeichneten Gute, sie sollten sich nur dazu halten, jetzt noch vor Toresschluß ihr Glück zu machen. So schritt er von Tisch zu Tisch.

Als er Gustavs ansichtig wurde, stutzte er. Einen Augenblick schien er zu überlegen, wo er dieses Gesicht wohl schon gesehen hätte. Er warf dem jungen Manne einen mißtrauischen Blick aus seinen dunklen Augen zu. Dann aber, als habe er sich eines anderen besonnen, hellten sich seine Züge plötzlich auf. Wohlwollend reichte er dem erstaunten Gustav die Hand und meinte in vertraulichem Tone, wie zu einem alten Bekannten: »Recht so, daß Sie auch hier sind! Haben sich's also doch überlegt! Kommen Sie nur mit mir nach vorn, mein Bester! Von Ihrer Art kann ich gerade noch einen gebrauchen.«

Gustav erwiderte dem Agenten, daß er sich irre, wenn er ihn für einen Arbeitsuchenden halte.

»Wer spricht denn von Arbeit! Leute Ihres Schlages stellt man doch nicht zum Rübenhacken an. Für Sie habe ich ganz was anderes in petto. Sie sind Unteroffizier gewesen nicht wahr?«

Gustav bejahte verdutzt. Woher wußte der Mensch das bereits?

»Ihnen würde ich einen meiner Kontrakte verkaufen, verstehen Sie!« sagte der Agent, näher an den jungen Mann herantretend mit gesenkter Stimme, andeutend, daß die anderen das nicht mit anzuhören brauchten. »Das heißt soviel: Ich übergebe Ihnen einen Auftrag,[273] den ich von einem kleineren Gute erhalten habe, in eigene Entreprise, verstehen Sie wohl! Sie besorgen sich die Leute selbst und gehen dann als Vorarbeiter oder Aufseher mit ihnen hinaus.«

Gustav schüttelte den Kopf. Er verstand durchaus nicht, was jener meinte.

»Die ganze Sache bedeutet nämlich für Sie ein glänzendes Geschäft, mein Lieber! Sie verdienen pro Kopf drei bis vier Mark Provision, je nachdem! Außerdem bekommen Sie Ihren Vorarbeiterlohn und im Herbst eine schöne Gratifikation, wenn die Arbeit zur Zufriedenheit ausgeführt ist. Ich dächte, so etwas sollte man nicht ohne weiteres von der Hand weisen. Also wie steht's, sind wir einig?«

Der Händler hielt die Hand ausgestreckt. Gustav sah ihn nur verwundert an. Da kam alles so Hals über Kopf! –

»Hier! lesen Sie sich mal das Ding hier durch! Das ist ein Vorarbeiterkontrakt. Die Wirtschaft, für die Sie Leute zu engagieren haben würden, ist ein Vorwerk. Vier bis fünf Männer und eine Mandel Mädchen etwa würden genügen. Lesen Sie sich das mal durch! Ich komme nachher wieder zu Ihnen. Dann wollen wir weiter sprechen. Wir werden schon handelseinig werden. – Sie sind ja ein heller Kopf!! Das habe ich neulich in Halbenau gemerkt.« Damit klopfte er Gustav auf die Schulter, blickte ihn verschmitzt lächelnd von der Seite an, als wolle er sagen »wir verstehen uns!« und ging dann zu anderen.

Gustav blickte in das Papier, welches er ihm gelassen hatte. Darin stand, daß der Vorarbeiter N.N. sich verpflichte, mit einer Anzahl kräftiger Männer und Mädchen auf das Gut X. zu kommen, um dort gewisse[274] Arbeiten auszuführen. Es folgten die einzelnen Arbeiten und die Lohnbedingungen. Gustav las die lange Reihe von Paragraphen nicht durch. Sollte er sich mit dieser Sache auch nur von ferne einlassen? Er und Leute anwerben im Auftrage eines Fremden, für ein Gut, das er gar nicht einmal kannte, ja noch schlimmer, für Verhältnisse, die ihm gänzlich neu waren.

Und wenn der Gewinn noch so hoch sein mochte, der dabei heraussprang, mit solchen unsicheren Dingen wollte er sich nicht bemengen. Es war etwas in ihm, eine warnende Stimme – mit Worten hätte er dem gar nicht Ausdruck geben können – ihm war es, als müsse dem Handel etwas Unrechtes zugrunde liegen, und als begehe er eine Leichtfertigkeit, wenn er sich dazu hergebe.

Als der Agent zu ihm zurückkam, gab Gustav ihm den Kontrakt zurück, sagte, er habe sich überzeugt, daß das nichts für ihn sei, und wollte gehen.

Zittwitz faßte den jungen Mann am Ärmel, um sein Forteilen zu verhindern. »Sie haben die Sache noch nicht richtig verstanden; daran liegt's, mein Guter! Setzen wir uns dorthin, ich werde Ihnen die Geschichte mal beim Glase Bier haarklein auseinandersetzen. Und wenn Sie dann nicht mit beiden Händen zugreifen, dann soll Sie und mich der Teufel frikassieren!« Er führte Gustav in eine ruhige Ecke. Dort setzte er sich und bestellte zwei Glas Bier.

»Also, was wollen Sie! Was gefällt Ihnen nicht an dem Kontrakt?« fragte der Agent in seiner eindringlichen Weise. Er hatte sich dicht vor Gustav hingesetzt, dessen Aufmerksamkeit gewissermaßen durch seine Körpernähe erzwingend. »Was haben Sie auszusetzen? Welche Punkte wünschen Sie anders?«[275]

Gustav, welcher sich schämte, einzugestehen, daß er den Kontrakt gar nicht durchgelesen hatte, gab als Entschuldigung an, daß er heiraten wolle.

»Das paßt ja ausgezeichnet!« rief der Agent, »dann bringen wir die junge Frau mit!« und als errate er Gustavs nähere Verhältnisse: »und auch die Kinder, wenn schon Familie da ist. Das läßt sich alles einrichten, beim Aufseher heißt das! Bei dem gewöhnlichen Arbeiter, versteht sich, wird dergleichen nicht geduldet. – Sehen Sie, mein Lieber, Sie haben ja keine Ahnung, wie schön und angenehm Sie dort alles vorfinden. Ein Haus ganz für sich, für Sie und die Arbeiter. Sie führen die Oberaufsicht. Kein Mensch hat Ihnen da was 'reinzureden in Ihren Kram. Natürlich auf Ordnung müssen Sie halten. Nun, das sind Sie ja vom Militär her gewöhnt. Ihre Frau versorgt den Herd, während die Mädel auf Arbeit gehen. Ist das nicht ein herrliches Leben? Kann man sich was Selbständigeres, Freieres denken für einen unternehmenden, strebsamen, jungen Mann wie Sie, – he!«

Dabei klopfte er Gustav freundschaftlich auf die Schenkel. Der wandte ein, daß er die Arbeiten vielleicht gar nicht verstehe, zu denen er die Leute anstellen solle.

»Verstehen Sie das Mähen?«

»Ja!«

»Verstehen Sie das Binden?«

»Ja!«

»Und das Setzen?«

Abermals »ja!«

»Nun, und das bißchen Rüben verhacken, verziehen und roden ist ja ein Kinderspiel. Außerdem ist dort natürlich auch ein Inspektor, der Sie in dem Notwendigsten[276] unterweisen wird. Ihre Pflicht ist vor allem das Zusammenhalten und Beaufsichtigen der Leute, verstehen Sie! Sie sind gewissermaßen der Korporalschaftsführer.«

Die Worte des Agenten verfehlten nicht, einen gewissen Eindruck auf Gustav hervorzubringen. Was der da sagte, berührte sich mit seinen eigenen geheimsten Wünschen. Schon wußte er nicht mehr, was für Einwände er jenem noch entgegensetzen sollte.

»Die Sache ist Ihnen noch fremd, mein Lieber!« fuhr der Agent fort. »Ich will Ihnen mal was im Vertrauen sagen: Diese Art des Arbeitskontraktes und der Arbeiteranwerbung überhaupt, das ist die moderne Wirtschaftsweise. So wird's in Amerika gemacht auf den Plantagen und Farmen. Und in Zukunft wird's bei uns überall so werden. Das ist die moderne rationelle Wirtschaftsweise.« – Der Mann schien besonders stolz auf diesen Ausdruck zu sein, denn er wiederholte ihn noch einige Male. – »Das ist überhaupt das einzige Nationelle so! Beide Teile kommen dabei auf ihre Rechnung. Der Arbeitgeber macht sich seinen Anschlag, bestellt sich dann, was er braucht an Arbeitskräften; der Agent besorgt ihm die Leute, so viel wie er braucht, auf den Kopf. Und der Arbeiter – nun, der fährt auch nicht schlechter dabei. Der bekommt seine Leistungen auf Heller und Pfennig in bar ausbezahlt. Beide Teile wissen ganz genau, was sie voneinander zu fordern haben; dafür ist der Kontrakt da. Der eine gibt das Geld, der andere seine Kräfte. Das Geschäft ist klipp und klar wie ein Rechenexempel. Alles wird auf Geld zurückgeführt, gerade wie in Amerika! Ist das nicht viel praktischer und rationeller so? Früher da bekam das Gesinde Geld überhaupt nicht zu sehen. Da gab's[277] freie Wohnung und Verpflegung und höchstens noch Deputat. Das waren die sogenannten patriarchalischen Zustände. Unter uns gesagt, die reine Sklaverei! Jetzt gibt's das nicht mehr. Jetzt wird alles nach amerikanischem Muster gemacht. Das nennt man das moderne Wirtschaftssystem, verstehen Sie! Aber alles das sage ich Ihnen nur ganz im Vertrauen.« –

Dem jungen Mann brummte der Kopf von dem, was er gehört hatte. Ihm wurde bange zumute diesem Menschen gegenüber mit seiner aufdringlichen Beredsamkeit.

Zittwitz hatte sich, nachdem er diesen Trumpf ausgespielt, erhoben. Er habe noch mit jemandem zu sprechen, sagte er, wolle aber bald zurückkommen.

Gustav wartete nur, bis er den Agenten in eifrigem Gespräch mit ein paar jungen Leuten am anderen Ende des Saales vertieft sah, dann entfernte er sich so schnell wie möglich. Den Kontrakt des Agenten hatte er aber doch zu sich gesteckt.


* * *


Inzwischen waren aus den zwei bis drei Tagen, die Häschke hatte auf dem Bauerngute bleiben wollen, um seine Sachen instandzusetzen und seine Füße auszuheilen, volle vierzehn Tage geworden. Der Wanderbursche hatte es ausgezeichnet verstanden, sich bei den Bauersleuten wohlgelitten zu machen. Selbst die Gunst des alten Bauern hatte er sich zu erobern gewußt, indem er sich unentbehrlich machte. »Wozu bin ich denn Flammer von Religion?« sagte er, womit er meinte, daß er sich auf Schmiedearbeit verstehe, und er müsse doch abarbeiten, daß er hier »treife wohne«. –

Und so machte er sich über die Ackergerätschaften,[278] die Pflüge, Eggen und die Handwerkszeuge, sah nach den Schrauben, hämmerte, nietete und schärfte. Kurz, er brachte alles in Schuß für die nahe Frühjahrsbestellung.

Die Herzen der Frauen gewann Häschke durch seine gute Laune und seine schnodderigen Witze. Im Büttnerschen Hause war die Fröhlichkeit lange Zeit ein unbekannter Gast gewesen. Jetzt wurde sogar gesungen – allerdings nur, wenn der Bauer außer Hörweite war. Es stellte sich heraus, daß Häschke sangeskundig war, und Ernestine hatte eine hübsche Stimme. Da sangen sie manchmal zweistimmig allerhand neue und lustige Lieder, die der Wandersmann von der Walze mitgebracht hatte. Am schönsten aber war es, wenn er von seinen Reiseerlebnissen erzählte. Vielleicht nahm er es mit der Wahrheit nicht immer genau. Er wußte von wunderlichen Fahrten, Glücksfällen und Abenteuern zu berichten. Jedenfalls verstand er, spannend zu erzählen und seine Lügen geschickt auszuschmücken. Die Frauen glaubten ihm aufs Wort; mit offenem Munde und leuchtenden Augen hörte ihm Ernestine zu, wenn er von den Wundern der Fremde berichtete. Häschkekarl hatte wohl schwerlich etwas vom »Mohren von Venedig« vernommen. Aber auch er wußte, daß man das Wohlgefallen der Frau durch Erwecken ihrer Teilnahme an Gefahren und außerordentlichen Erlebnissen am sichersten erregt.

Erstaunlich schnell hatte Häschke es auch verstanden, sich aus einem zerlumpten Bummler in einen schmucken und leidlich anständig aussehenden Menschen zu verwandeln. Viel trug er zu dieser Mauserung bei, daß er sich seinen struppigen Vagabundenbart hatte abnehmen lassen. Faden, Nadel und Schere borgte er[279] sich, und für ihn fand sich auch unter den Vorräten der Frauen dieses und jenes Stück Zeug. Karl Büttner mußte eine »Staude« hergeben, wie Häschke das dem Leibe zunächst gelegene Kleidungsstück benannte, der Schuster mußte ihm die »Trittchen« neu besetzen; den »Wallmusch«, die »Kreuzspanne« und die »Weitchen« flickte er selbst mit den Tuchresten, welche er von den Frauen erhalten hatte. Der Erfolg war, daß er mit einer etwas scheckigen, aber nach seiner eigenen Auffassung »duften Kluft« umherging.

Als der Büttnerbauer zum ersten Male mit der Egge aufs Feld hinausfuhr, ging Häschke mit. An einzelnen Stellen war der Frost noch im Boden und erschwerte die Arbeit. Der zugereiste Handwerksbursche wußte sich auch hier nützlich zu machen. »Nehmt mich als Knecht an, Vater Büttner!« meinte Häschke in dem vertrauten Tone, dessen er sich seinem Wirt gegenüber zu bedienen pflegte. Und der alte Bauer sagte nicht »nein!«

Gustav kam in dieser Zeit nicht mehr auf den väterlichen Hof. Er ging dem Alten aus dem Wege. Neuerdings brauchten Vater und Sohn nur drei Worte zu wechseln, und der Streit war fertig. Gustav meinte, das könne er sich ersparen; ändern würde er ja zu Haus doch nichts mehr an dem Gange der Dinge.

Er hatte ganz genug mit seinen eigenen Angelegenheiten zu schaffen. Die Trauung war nunmehr festgesetzt auf den nächsten Sonntag. Das Paar selbst wollte von jeder Feierlichkeit, mit Ausnahme der kirchlichen, absehen. Aber Paulinens Mutter blieb darauf bestehen, daß man den Hochzeitsgästen etwas vorsetzen müsse. Frau Katschner verstand, von ihrer Dienstzeit in der herrschaftlichen Küche her, einiges vom feineren,[280] Braten und Kochen. Sie wollte sich die Gelegenheit, ihre Künste einmal im hellsten Lichte zu zeigen, nicht entgehen lassen. Nach der Trauung in der Kirche sollte es also einen Schmaus bei ihr im Hause geben.

Am Morgen, nachdem Gustav in Wörmsbach gewesen war, kam Ernestine zu ihm. Sie wolle mit nach Sachsen auf Rübenarbeit gehen, erklärte sie dem Bruder ohne viele Umschweife.

Gustav lachte die kleine Schwester aus, sie sei wohl närrisch geworden, meinte er; der Vater werde sie jetzt gerade fortlassen, wo er alle Hände nötig brauche.

Das Mädchen erklärte dagegen mit einer Redefertigkeit, die man ihrer Jugend schwerlich zugetraut hätte: Die Eltern hätten kein Recht, sie zurückzuhalten, wenn sie gehen wolle. Hier halte sie es nicht mehr aus! Sie wolle sich selbst etwas verdienen. Sich nur immer für andere abquälen, ohne je einen Pfennig Verdienst zu besehen, habe sie satt. Sie sei nun erwachsen und wolle sich nicht länger als Schulkind behandeln lassen. Kurz, sie werde mit den anderen fort auf Sommerarbeit gehen.

Gustav sah sich das kleine schmächtige Persönchen mit Staunen an. Man hatte sich in der Büttnerschen Familie daran gewöhnt, Ernestine immer noch als ein halbes Kind anzusehen, weil sie eben ein Nesthäkchen war. Aber heute merkte er, daß sie den Kinderschuhen in der Tat entwachsen sei.

Er hielt es trotzdem für seine Pflicht, ihr abzureden. Sie könne doch gar nicht wissen, wie es da draußen sei und was ihrer dort warte, sagte er. Aber da lachte das Mädchen den großen Bruder einfach aus. Das dürfe er doch zu allerletzt sagen, meinte sie mit altklugschnippischer Miene. Er habe sich ja selber dem Agenten[281] verpflichtet, und er wolle ihm ja sogar Arbeiter verschaffen.

Der Bruder faßte das Mädchen am Arme. Woher sie das habe, wollte er wissen. Einige Freundinnen von ihr waren am Abend zuvor in Wörmsbach gewesen, die hatten die Nachricht mitgebracht: Büttnergustav habe sich dem Agenten Zittwitz verpflichtet und wolle mit Arbeitern nach Sachsen gehen.

Gustav war im höchsten Grade aufgebracht. Er schimpfte auf den Agenten und verschwor sich, die ganze Sache sei dummes Gerede. Ernestine schrie er an, sie solle sich auf der Stelle packen, er werde den Teufel tun! Überhaupt wolle er mit der ganzen Geschichte nichts zu schaffen haben.

Ernestine schien gerade keine allzu große Angst vor dem Zorne des Bruders zu haben. Sie war von zu Hause her gegen das Wüten der Männer abgebrüht. Sie ließ ihn austoben. Dann meinte sie mit ruhiger Miene, sie wisse auch noch im Dorfe eine Anzahl an derer Mädchen, die gern mitgehen würden, besonders wenn sie wüßten, daß sie unter Gustavs Aufsicht kämen. Der Bruder erwiderte ihr, es falle ihm gar nicht ein, mit einer Herde Gänse ins Land zu ziehen; da möchten sie sich einen anderen dazu aussuchen.

Aber die kleine Ernestine ließ sich nicht so leicht werfen. Ein Plan, der sich einmal in diesem Köpfchen festgesetzt hatte, wurde auch zu Ende geführt. Der Bruder möge ihr nur den Kontrakt geben, den er von dem Agenten bekommen habe, das übrige solle er ihre Sache sein lassen. Sie werde schon für die Unterschriften sorgen.

Gustav hatte sich die Sache in der vorigen Nacht hin und her überlegt. Pauline hörte sein Seufzen und[282] unruhiges Wälzen neben sich. Der Agent hatte ihn mit seinem Vorschlage einen wahren Feuerbrand in die Seele geworfen. Vielleicht war hier eine Gelegenheit, sein Glück zu machen! Und auf der anderen Seite: war nicht die Verantwortung eine allzu große? Würde er sich der Aufgabe gewachsen zeigen? – Das waren Fragen, die er allein nur entscheiden durfte; er konnte Pauline keine Erklärung geben.

Als seine junge Schwester jetzt vor ihn trat mit ihrer unbefangenen Sicherheit, da kam es ihm vor, als sei das der Anstoß, auf den er nur gewartet habe, um sich über seine eigene Verzagtheit hinwegzusetzen. Es war vielleicht das beste so! Er übergab dem Mädchen den Kontrakt des Agenten. Mochte die Sache nun gehen, wie sie gehen wollte! –

Schon am Tage darauf erschien Ernestine wieder vor dem Bruder. Sie hatte nicht weniger als elf Mädchen gewonnen. Und wenn man ihr ein paar Tage Zeit lasse, meinte sie, mache sie sich anheischig, noch ein halbes Dutzend anzuwerben.

Gustav wußte anfangs nicht recht, ob er sich über diesen Erfolg freuen solle. Jedenfalls stand jetzt fest, daß er das begonnene Unternehmen weiterführen mußte. Er befand sich, ohne sich des Sprunges recht versehen zu haben, auf einmal jenseits des Grabens.

Die Mädchen waren ihm also sicher. Es galt nun, die Männer, welche der Kontrakt verlangte, zu schaffen. Es sollten, den Vorarbeiter eingeschlossen, ihrer vier bis fünf sein. Gustav sann hin und her. Er überschlug alles, was er von jungen Leuten im Dorfe kannte. Kaum einer war da, dem er Lust und Befähigung für seine Zwecke zutraute.

Aber es war merkwürdig! Als ob sich so etwas[283] durch die Luft wie ein Ansteckungsstoff mitteilen könne! Kaum zeigte sich Gustav heute auf der Gasse, da redeten ihn die Leute auch schon auf sein Unternehmen an. Das Gerücht hatte sich bereits vergrößert. Er suche dreißig Mädchen – einer sprach sogar von fünfzig – mit denen er nach Sachsen gehen wolle.

Auch einzelne spöttische Mienen bekam er zu sehen. Es war noch in zu frischem Gedächtnis, wie er neulich dem Agenten entgegengetreten war. Und nun war er zu einem Helfer eben dieses Mannes geworden! Das mußte man mit in den Kauf nehmen! Aber es wurmte ihn im geheimen, daß mancher ihn nun für wankelmütig oder doppelzüngig halten mochte.

Nun boten sich ihm auch ganz ohne sein Dazutun, zwei junge Leute an. Der eine war auf einem der benachbarten Rittergüter Stallbursche gewesen und jetzt ohne Stellung, der andere wies sich als gewesener Schmiedegeselle aus, ebenfalls arbeitslos. Bei dem Stallburschen war Gustav zweifelhaft, ob er ihn mieten solle. Der junge, kaum siebzehnjährige Mensch mit seinen langen, knabenhaft mageren Gliedmaßen sah nicht gerade wie ein strammer Feldarbeiter aus. Aber er bat so inständig, angenommen zu werden, versprach, sein Möglichstes an Fleiß zu leisten, daß Gustav ihm schließlich den Willen tat. Der Schmiedegeselle machte den Eindruck eines kräftigen, handfesten Burschen.

Zu Gustavs nicht geringer Überraschung trat auch Häschke an ihn heran und wollte angeworben sein. Seit jenem Abende, wo er den ehemaligen Kameraden auf den Bauernhof gebracht, hatte Gustav nicht mehr viel von ihm gesehen. Er hatte sich schon gewundert, daß dieser Sausewind so viel Seßhaftigkeit an den Tag legte; denn über zwei Wochen war er jetzt schon in[284] Halbenau. Und als er Häschkes Fleiß und Betriebsamkeit von den Seinen rühmen hörte, wollte er seinen Ohren kaum trauen. Was war denn auf einmal in diesen Menschen gefahren, daß er so gänzlich umgetauscht erschien!

Als Häschke jetzt mit diesem Ansinnen kam, lachte ihn Gustav anfangs aus. Das war wohl gar ein schlechter Witz dieses Tausendsasas! Aber Häschke drang allen Ernstes darauf, angeworben zu werden. Gustav hielt ihm vor, daß Feldarbeit gar nicht sein Beruf sei. Häschke erwiderte, er verändere seine »Religion« gar gerne einmal, und er wollte mit Gustav »mang die Zuckerrüben« gehen.

Gustav wollte den ehemaligen Kameraden nicht abweisen. Schließlich war Häschke ein fixer Kerl und offener Kopf. Er hatte schon mancherlei gesehen von der Welt und mochte sich in schwierigen Verhältnissen wertvoll erweisen.

Gustav begab sich mit dem Kontrakte, unter dem nun schon eine ganz stattliche Anzahl von Unterschriften prangte, zu dem Agenten, der jetzt, nachdem er die Dörfer der Umgegend zur Genüge bereist, sein Hauptquartier wieder in der Kreisstadt aufgeschlagen hatte.

Als er das Bureau betrat, empfing ihn Zittwitz mit dem Ausrufe: »Sehen Sie, ich habe es Ihnen ja gesagt, daß wir handelseinig werden würden. Nun zeigen Sie mal her!« Damit ließ er sich den Kontrakt reichen.

Der Agent nickte zufrieden. Daß ein paar Mädchen mehr darauf standen, als verlangt – durch Ernestinens eifriges Werben – war ihm nicht unlieb; denn, meinte der erfahrene Mann: ein oder das andere Frauenzimmer bleibe im letzten Augenblicke doch noch weg,[285] oder laufe auch während des Sommers aus der Arbeit. Da sei es vorsichtiger gehandelt, wenn man von Anfang an ein paar mehr mitbringe, als unbedingt verlangt seien.

»Jetzt wollen wir mal die Reiseroute feststellen!« sagte Zittwitz und nahm das Kursbuch zur Hand. »Sie reisen am Montag früh. Die Gutsverwaltung hat schon geschrieben, daß sie sehnlichst auf die Leute warte. Natürlich mit dem ersten Zuge! Da können Sie abends bereits in Welzleben sein. Ich werde Sie anmelden, dann finden Sie jedenfalls Geschirr vom Vorwerke auf dem Bahnhof. Sorgen Sie dafür, daß die Mädel nicht zu viel Gepäck mitschleppen. Die möchten womöglich am liebsten das ganze Bett, Töpfe, Stühle, was weiß ich alles, mitnehmen. Eine Lade und ein Federbett, das ist das Äußerste, was gestattet wird. Überhaupt, den Frauenzimmern halten Sie den Daumen aufs Auge, den Rat gebe ich Ihnen. Ich bin früher selbst als Vorarbeiter gegangen. Da muß man ein eisernes Regiment führen, am besten mit dem Stocke, sonst hat man verspielt mit der Gesellschaft. Lumpenpack ist es ja doch meistens, was so von zu Hause wegläuft!«

Was der Mann heute sagte, klang ganz anders, als was Gustav bisher aus diesem Munde vernommen hatte. Überhaupt schien er an Freundlichkeit und Entgegenkommen bedeutend nachgelassen zu haben, seit er den Kontrakt mit den Unterschriften in Händen hielt.

Gustav hatte kaum Zeit, über die Wandlung in dem Wesen des Agenten nachzudenken, ihm ging im Kopfe herum, was jener über den Termin der Abreise gesagt. So kurz hatte er sich die Frist nicht gedacht. Auf den Sonntag war seine Hochzeit angesetzt, am Tage darauf schon sollte es also fortgehen! Das schien[286] sehr kurz anberaumt, aber es war vielleicht das beste so. Ein rascher Abschied hatte auch sein Gutes. Wozu das lange Hängen und Haften an den alten Verhältnissen, die doch einmal aufgegeben werden mußten! –

Der Agent zeigte ihm die Reiselinie auf der Karte. Gustav bat um Angabe der Zugverbindungen, die er sich aufschreiben wollte.

»Und nun wollen wir mal das Reisegeld berechnen. Hin- und Rückfahrt haben Sie nämlich frei mit Ihren Leuten, natürlich vierter Klasse! Das ist ein weiteres gutes Geschäft, das Sie machen.« Gustav dachte bei sich, daß das eigentlich selbstverständlich sei; sagte aber nichts. – Der Agent berechnete die Billettpreise und händigte Gustav das Geld gegen Quittung aus.

»Nun wären wir eigentlich fertig!« sagte der Mann. »Halt! noch eins! Was haben Sie sich denn an Bindegeld von den Leuten geben lassen?«

Gustav erwiderte mit einigem Befremden, daß er sich nichts habe geben lassen; die Leute, die er angeworben hätte, besäßen ja nichts oder so gut wie nichts.

Es sei üblich, meinte Zittwitz mit überlegenem Lächeln, sich für das Anwerben ein Handgeld geben zu lassen. Umsonst sei auf der Welt nichts, und für seine Bemühungen wolle man doch auch einen Lohn haben. Dann sagte er – und beobachtete dabei Gustavs Mienenspiel scharf – das Kaufgeld für den Kontrakt wolle er ihm bis zum nächsten Monate stunden, wo er es ihm von seinem Vorarbeitergehalte abzahlen möge.

Gustav sah den Agenten verdutzt an ob dieser Rede. Der erwiderte den Blick des jungen Mannes mit Kälte. Er verstehe wohl nicht recht, meinte Gustav; von irgendeiner[287] Bezahlung, die er zu leisten habe, sei doch vorher nicht die Rede gewesen.

»Weil das ganz selbstverständlich ist, mein Lieber!« rief Zittwitz mit einer ungeduldigen Bewegung. »Denken Sie denn, ich schinde mich für nichts und wieder nichts ab! fahre auf den Dörfern herum! lasse mich von den Leuten ärgern und stecke alle mögliche dummen Redensarten ein.« Dabei warf er Gustav einen feindlichen, nicht mißzuverstehenden Seitenblick zu. Er hatte den Vorfall im Kretscham von Salbenau also doch nicht vergessen, viel weniger vergeben. – »Nein, mein Lieber! Ich verlange meine Provision. Das ist Geschäftsusance; so nennt man das. Daran ist gebunden, wer mit uns handeln will. Da muß man sich eben vorher erkundigen. Ins Maul schmieren können wir's nicht jedem einzeln. Da hätte man viel zu tun! – Oder dachten Sie vielleicht, daß ich Ihnen so einen Kontrakt, wie den hier, umsonst ablassen würde? – Schenken, vielleicht aus Freundschaft? – he! Dann sind Sie sehr naiv, mein Bester! Heutzutage ist alles Geldgeschäft. Pro Kopf des Arbeiters – ob Mädel oder Kerl ist eins – bekomme ich von Ihnen fünf Mark. Das ist die Taxe. Davon zahlen Sie mir die Hälfte zu Johanni, die andere zum Schluß der Arbeitsperiode. Sie werden schon wissen, wie Sie den Leuten gegenüber auf Ihre Kosten kommen.«

Gustav begriff nun endlich, daß er übers Ohr gehauen sei. Im ersten Augenblicke überkam ihn das Gelüste, diesem Spitzbuben die ganze Geschichte vor die Füße zu werfen. Zittwitz hatte sich auf seinem Stuhle umgedreht und war in irgendwelche Schriftlichkeiten vertieft. Gustav sah nur seinen breiten Rücken. Wenn der Mann ihm nur wenigstens offen als Feind entgegengetreten[288] wäre! Aber dieser kalten Geringschätzung, diesem überlegenen Hohn gegenüber fühlte er sich gänzlich ohnmächtig.

Der junge Mann würgte und schluckte an seinem Ärger. Dann bat er um Gehör. »Ach Gott, Sie sind noch hier!« sagte der andere und wandte sich um mit gut geheucheltem Staunen. »Also, was wollen Sie noch? Aber bitte, schnell! ich habe nicht viel Zeit, wie Sie sehen.«

Gustav begann mit einer von Ärger und innerer Erregung rauhen Stimme in abgehackten Sätzen auseinanderzusetzen, er habe nichts davon gewußt, daß er den Kontrakt bezahlen müsse; man habe ihm die ganze Sache gegen seinen Willen aufgenötigt, und er wolle von dem Geschäfte absehen.

Der Agent unterbrach ihn. »Das dürfte Ihnen wohl übel bekommen, mein Lieber!« sagte er in trockenstem Tone. »Hier steht Ihre Unterschrift. An die halte ich mich. Wer etwas unterschreibt, was er nicht kennt, ist ein Narr! Außerdem haben Sie eine ganze Anzahl Leute zum Unterschreiben veranlaßt; an die sind Sie ebenfalls gebunden. Man wird sich an Sie halten von beiden Seiten. Es gibt in unserem Gesetz ein Wörtchen, das heißt ›Kontraktbruch‹; das wird bekanntlich streng geahndet.«

Gustav war nicht imstande, diese Behauptung zu widerlegen. Er fühlte, ohne es beweisen zu können, daß er im Recht und jener im Unrecht sei. Aber bei dem, was in letzter Zeit seinem eigenen Vater wider fahren, lag das Recht so deutlich auf Seite des Unterliegenden und das Unrecht auf Seite des Siegers – und trotzdem nahmen Samuel Harrassowitz und Ernst Kaschel das Gesetz für sich in Anspruch, während es[289] den Bauern im Stiche zu lassen schien – daß sich bei dem jungen Manne alle Begriffe von Gesetzlichkeit und Gerechtigkeit zu verwirren drohten. Das Recht war wohl nur denen etwas nütze, die es zu verdrehen verstanden!

Der Agent hatte sich wieder seiner Arbeit zugewandt. Er ließ Gustav in den bittersten Gedanken stehen und warten. Sollte er's darauf ankommen lassen, ob jener es wirklich so weit treiben wurde, ihn wegen! Kontraktbruchs zu belangen? Die Sorge, sich vor dem Gesetze schuldig zu machen, war es weniger, die ihn bedrückte, als das Gefühl der Verpflichtung denen gegenüber, die sich ihm verdungen hatten. Wie sollte er vor diesen bestehen? Was wäre das für eine Schande gewesen vor dem ganzen Dorfe, wenn er jetzt die Flinte ins Korn warf. Und zu alledem, war er denn dann nicht wieder brotlos, ohne Stellung und Beschäftigung. Traurig genug! Aber, es war so! es blieb ihm keine Wahl; er mußte sich den Bedingungen fügen, die ihm der Agent vorschrieb.

»Wie steht's, Büttner?« fragte Zittwitz, gelegentlich von seiner Korrespondenz aufblickend, nicht ohne Spott im Ton. »Sind Sie noch nicht im reinen mit sich? Die Sache wird durchs Überlegen nicht anders.«

Gustav drehte seine Mütze in der Hand und blickte vor sich zu Boden.

»Fünf Mark pro Kopf! Die Hälfte zu Johanni, die andere zu Martini. Billiger kann ich's nicht machen. Also, wie steht's? Soll ich den Kontrakt mitsamt den Unterschriften an einen anderen verkaufen? – he! Das kann ich nämlich auch, wenn mir's Spaß macht. Oder, wollen Sie Vernunft annehmen?«

Gustav nagte die Lippen gesenkten Blickes und[290] druckste noch ein wenig. Dann sagte er mit einer verlorenen Handbewegung, ohne aufzublicken: »Wenn's sein muß! Aber recht is es nich!«

Quelle:
Wilhelm von Polenz: Der Büttnerbauer. In: Gesammelte Werke von Wilhelm von Polenz, Band 1, Berlin 1[o.J.], S. 267-291.
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