Nr. 189. Die Lerbacher Zwerge.

[185] Es ist noch gar nicht lange her, daß die Zwerge durch das Bergdorf Lerbach »durchmarschierten«. Wohin sie zogen, wußte man mir nicht zu sagen. Aber sie verwechselten viele Kinder mit Wechselbälgen, und darum waren dort noch um 1820 viele verkrüppelte Menschen. Noch später aber scheint es geschehen zu sein, daß einzelne Zwerge sich dort aufhielten. Man hörete sie mit den Kindern reden, wenn diese allein in den Stuben waren. Einstmals ließ ein Kind den Zwerg in der Stube mit aus seinem Napfe essen, da hörete man draußen, wie der Zwerg mit sehr grober Stimme (auch der Teufel hat eine grobe Stimme) zu dem Kinde sagte: »Du moßt den Napp ok nich sau scheif holen.« Ein ander mal hörte man, wie eine alte Zwergin einen Zwerg aus der Stube hinwegrief, weil seine Schwester krank geworden sei. Einstmal merkte eine Mutter zeitig genug, daß ihr statt ihres Kindes ein fremdes untergeschoben war. Da ließ sie den Scharfrichter Goßmann kommen; dieser erkannte, daß es ein Wechselbalg war und riet ihr, sich damit vor ihre Hausthür zu stellen und es mit einer Gerte unbarmherzig zu schlagen. Das that die Frau und sogleich trat aus dem Walde gegenüber die Zwergin heraus, brachte der Frau ihr rechtes Kind und nahm das ihre mit in den Wald.[185]

Unweit Lerbachs war es auch, wo einst Bergleute eine Anzahl Zwerge trafen. Diese kamen unter einer Stuke hervor und riefen denen, die zu Haus unter der Erde bleiben wollten, zu: »Smiet mek mal miene Kappe rut! smiet mek mal miene Kappe rut!« Befragt nach dem Grunde ihrer Fröhlichkeit, sagten sie, daß sie nach Osterode zu einer Hochzeit gingen. So wollten sie auch mitgehen, sagten die Bergleute. In Osterode stellten sich die Zwerge in der Nähe des Hochzeitshauses auf. Ein Zwerg nach dem andern aber ging in das Haus und aß sich, ohne von den Menschen bemerkt zu werden, von den Hochzeitsschüsseln satt. Da nahmen ihnen die Bergleute ihre Mützen weg, gingen auch in das Haus und aßen von den Hochzeitsschüsseln. Da merkten die Hochzeitsgäste denn doch mit Erstaunen, wie die Speisen verschwanden, konnten aber die Bergleute nicht sehen.

Quelle:
Heinrich Pröhle: Harzsagen, zum Teil in der Mundart der Gebirgsbewohner. Leipzig 21886, S. 185-186.
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