Nr. 92. Die Räuber vom Eckernkruge im Schimmerwalde.

[56] Weit verrufen war der Schimmerwald zwischen Harzburg und Ilsenburg wegen der Räuber, die früher in ihm hauseten. Eine alte Frau, die auf Clausthal am Zellbache wohnte und deren Tochter als hochbejahrte Frau in jener Stadt um 1850 nach der Erzählung einer alten Lerbacherin noch am Leben sein sollte, wurde einmal im Schimmerwalde von der Nacht überfallen und suchte im Eckernkruge ein Obdach, da schlief sie auf dem Fußboden in der Stube. In der Nacht aber kamen viele Räuber, die führten einen dicken Mann gefangen daher, schlachteten ihn, zerteileten das Fleisch und machten Wurst davon. Ehe sie das aber thaten, leuchteten sie über die alte Frau hin und kitzelten sie sogar an den Fußsohlen, um zu sehen, ob sie auch wohl fest schliefe. Hätte sie sich dabei nur im geringsten bewegt, so wäre auch sie ermordet worden. Allein sie überstand alle Proben und sah doch genau was vorging. Am anderen Morgen sagten die Räuber, sie hätten in der Nacht ein Schwein geschlachtet, ob sie denn nichts gehört hätte. Gar nichts, sagte die Alte, sie habe in ihrem Leben noch nicht so gut geschlafen als diesmal, und dabei sah sie die Räuber sehr freundlich an. Da setzten die Räuber ihr Wurstsuppe hin. Die Alte vom Zellbache aß die Wurstsuppe und lobte sie. Hätte sie nur den geringsten Ekel gezeigt, so hätte sie sterben müssen. Danach brachten ihr die Räuber eine frische Wurst, die schlug sie in ein Tuch ein und sagte, die wolle sie ihren Kindern mitnehmen, und bedankte sich viele, viele male dafür. So ließen sie denn die Räuber ihres Weges gehen. Als sie aber eine Strecke weit im Walde fortgegangen war, traten zwei Männer zu ihr, die sie nicht kannte, und fragten, wo sie denn übernachtet hätte. Weil sie nun sagte: auf dem Eckernkruge, so fingen sie an, die Bewohner desselben durchzuhecheln. Sie sagten, daß von denen nicht viel gutes geredet werde. Allein die Alte sagte: allen könne man's nicht recht machen und die Lästerzungen lauerten selbst den Besten auf. Sie sei nicht[56] leicht zu mildthätigeren Menschen gekommen als zu denen auf dem Eckernkruge. Zum Beweise wies sie noch die Wurst vor, welche ihr dort geschenkt war. Hätte sie das nicht gethan, so hätte sie doch noch sterben müssen, denn die Männer gehörten zu der Räuberbande. Sie gingen jetzt von ihr fort, aber nach einer Weile traten wieder zwei Männer zu ihr, die machten wieder die Leute auf dem Eckernkruge schlecht und sagten gerade heraus, sie hätten gehört, es seien Räuber. Da wies die Frau von neuem ihre Wurst vor und sagte, solche gute Leute gäbe es nach ihrer Meinung auf Gottes Erdboden nicht zum zweiten male. Hätte sie das nicht gesagt, so hätte sie immer noch sterben müssen, denn auch diese Männer waren Räuber. Sobald die Alte nun glücklich aus dem Schimmerwald heraus war, lief sie so schnell als möglich nach der nächsten Ortschaft. Da verkündigte sie der Obrigkeit alles, was sie gesehen hatte, und sogleich wurden die Räuber gefangen genommen. Als sie nun an Händen und Füßen gebunden auf einem Saale dalagen, wurde das Mütterchen zu ihnen geführet und sagte aus, daß sie alle diese Männer auf dem Eckernkruge zur Nachtzeit habe ein- und ausgehen sehen, wie sie den dicken Mann geschlachtet hätten. Die Räuber aber schäumten vor Wut, als das Mütterchen, dem sie so schwer das Leben gelassen hatten und von dem sie nun doch überlistet waren, gesund und munter zwischen ihnen umherging.

Quelle:
Heinrich Pröhle: Harzsagen, zum Teil in der Mundart der Gebirgsbewohner. Leipzig 21886, S. 56-57.
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