Nr. 236. Die Jungfer von der Zorge.

[226] Am Hohegeißberge nach der Zorge zu hat sich alle sieben Jahre die weißgekleidete Jungfer vom Staufenberg mit einem Bunde Schlüssel sehen lassen. Nun kam der Hirt aus der Zorge (andere sagen aus Kloster Walkenried) und hatte da seine Trift hindurch. Da stand die Jungfer auf der Klippe, auf der auch ihr Fuß eingedrücket sein soll, früh morgens und sang aus höchster Schar (fröhlich), und kam herunter von der Klippe auf ihn zu. Sie sagte zu ihm, ob er sie wolle erlösen. »Ja, wenn er es könne, wolle er es thun.« Dann solle er am andern Morgen wieder hierher kommen, so wolle sie wieder hier erscheinen. Da würde sie zuerst so wie heute aussehen, dann aber müßte er ihr als einer Schlange einen Schlangenkuß geben. Das versprach er. Als er am andern Morgen hinkam, stand sie auf der Klippe und sang vor wie nach. Als nun sein Vieh vorbei war, kam sie als Schlange herunter, sprang an ihm in die Höhe, daß er sie küssen sollte, er aber kam nicht dazu und wendete sich hin und her. Da war sie verschwunden, hat aber dabei einen solchen Kreisch gethan, daß der Schäfer von der Zeit an taub gewesen ist.

Nach Walkenried kam einstmals in ihrer grauen Kleidung, wie sie dort erscheint, die Frau Holle und führete jemand nach der Staufenburg. Da sah er die Jungfer vor der zerstörten Burg mit einem goldenen Leibband, woran ein Bund Schlüssel hing. Da wurde ihm viel Gold und viele Sachen versprochen, wenn er sie erlösen wolle, er aber hat sich gefürchtet und ist[226] fortgelaufen. Auch nach einem Schlosse über Wieda, eine Stunde von Sachsa und Walkenried, hat die Frau Holle Leute hinführen wollen und dort war gleichfalls eine verwünschte Jungfer.

Einige erzählen, daß auf dem kleinen Staufenberge »die Totenschänke« gewesen und daß dort vor noch nicht langer Zeit jeden Mittag die Jungfer erschienen sei. Lebende Personen wollen dort ein Schwein gesehen haben, das geweinet hat wie ein Kind. Dieselben, die das erzählen, wollen dort in den verfallenen Gängen, die sich dort befinden, einmal einen Brunnen gefunden haben, den sie später niemals wieder finden konnten.

Quelle:
Heinrich Pröhle: Harzsagen, zum Teil in der Mundart der Gebirgsbewohner. Leipzig 21886, S. 226-227.
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