Zum Geleit.


Ein Märchen leitet die kleinen poetischen Erzählungen ein, die ich in diesem Buche zusammenstelle, und die sich als poetische Bilder aus unserer Zeit, als realistische Darstellungen des modernen Lebens geben. Dieselben entstanden sämmtlich unter dem Eindruck gewaltiger, herzerschütternder Unglücksfälle, denen manches kraftvolle Menschendasein zum Opfer fiel: sie schildern allgemein betrauerte Katastrophen im Leben der Natur und der Gesellschaft im Zusammenhang mit Konflikten der Herzen und der Gemüther, welche über die verheerende [7] Wirkung der ersteren den verklärenden Schimmer der Versöhnung breiten. So blüht aus der Asche einst kraftvoller Bäume die duftige Blume des Waldes.

Das Märchen »Hans im Glück« dagegen erstand im Gemüthe des Autors zu einer Zeit seligen Glücks, die vom frischen Hauche des Frühlings, der in der Natur wie in seinem Herzen fröhliche Ostern hielt, durchweht war.

Der Sinn des Märchens aber ist der: wahrhaft glücklich auf Erden ist allein der Mensch, dessen Auge geschärft ist für die Schönheiten der Welt außer ihm, dessen Ohr im Stande ist, den harmonischen Akkord zu erfassen, welcher auch für die Dissonanzen des Daseins besteht. Ihm ist die Erde weder die schlechteste der Welten, noch die denkbar beste, aber der vorhandene Ausgleich zwischen Gut und Schlimm, Schön und Häßlich versöhnt ihn immer aufs neue mit den Schattenseiten des Lebens. Wessen Seele dieses Glück birgt, dem genügt es aber auch nicht, sich seiner in selbstsüchtigem Behagen zu erfreuen, der fühlt sich auch angetrieben, die von ihm empfundene Harmonie zwischen sich und der Welt anderen zu [8] verkünden als ein Apostel der Liebe zum Leben, als ein Gegner seiner Verächter. Dieses Glücksempfinden und seine Verkündigung ist Poesie. Unser »Hans im Glück« ist solch ein Glücklicher: Nur als Ahnung regt in dem Knaben sich Anfangs das poetische Drängen. Aber die Mauern der Schule versperren ihm den Weg zur Erkenntniß, die ihm das Wesen seines Berufs offenbart. Nur tastend findet er den rechten Pfad. Er empfindet die Poesie vergangener Zeiten und fremder Sinnesgenossen; er glaubt sie für sich zu gewinnen durch das Studium abstrakter Regeln, nach denen das Schöne sich bilde, aber erst der Genuß des eigenen Lebens, die Empfindung seines Zusammenhangs mit der Natur und seinen Mitmenschen, das Glück der Liebe und der freien Lebensbestimmung lösen seiner Seele die Zunge Es ist der Entwicklungsgang des modernen Dichters. Uns Söhne der Gegenwart nimmt die Schule und deren scholastischer Vergangenheitskultus frühe in ihre beengende Zucht. Auf dem Umweg durch die Welt fremder Geisteswerke, durch die dürre Haide der abstrakten Theorie gelangen wir erst auf die fette grüne Weide des [9] Lebens Wohl dem, dessen Sinn darüber nicht jene Frische des Blicks, jene Feinheit des Gehörs für die unmittelbare Poesie des eigenen Daseins verliert!

Die folgenden kleinen Beiträge zur Poesie der Gegenwart sind von ihrem Autor geistig empfangen worden mitten in dem lauten, dissonanzenreichen Getümmel, das der Zusammenprall der öffentlichen Meinungen, Forderungen und Klagen in dem Redaktionsbureau einer großen Zeitung erzeugt. Während er die herzerschütternden Berichte über den furchtbaren Brand des Ringtheaters zusammenstellte, stieg vor seiner Seele das kleine Lebensbild auf, welches dieser verheerenden Katastrophe eine versöhnende Seite abgewinnt. Während er die Einzelheiten der letzten großen finanziellen Krise in Paris für feine publizistischen Berufszwecke studirte, entstand »Lili«, eine Erzählung, welche für die Katastrophe des plötzlichen Vermögensverlustes ein harmonisch ausklingendes Gegenbild bietet. Das große nationale Unglück der letzten Rheinüberschwemmung regte ihn zur Gestaltung der Hochflutgeschichte an, die »zwischen Himmel und Wasser« den Sonnenschein der Poesie [10] verklärend fallen läßt und der zerstörenden Elementargewalt der Natur die siegreiche Ueberlegenheit der Kultur gegenüberstellt.

Der Dichter will sein Recht. Der Publizist stellt das Unglück dar in seiner ganzen schreckensvollen Größe, auf daß praktisch gegen seine Folgen und seine Wiederkehr angekämpft werde; der Dichter aber wird gerade auch hier seine Wünschelruthe benutzen, die ihm selbst da, wo Jammer und Elend herrschen, das Vorhandensein einer besonderen Glücksquelle zu verrathen vermag; er wird gerade auch hier dem Gedanken der Versöhnung zum Triumph verhelfen. Denn selbst dort, wo der Tod sein grausames Tagewerk verrichtete, kann sein Auge die Blume des Trostes emporblühen sehen.

Dieses Amt des Versöhners ist nicht die einzige Mission, welche der Dichter auf Erden hat. Er kennt noch eine höhere, die im Gegensatz zu jener, die gedankenlose Zufriedenheit mit den Zuständen der Welt aufrüttelt aus ihrem Stumpfsinn und der Menschheit Ideale vorführt, die erstrebt werden können und sollen zum Heile der Gesammtheit der Menschen. Aber schon diese [11] eine Mission macht den Beruf des Dichters zu einem innigst beglückenden, zu einem der Welt unentbehrlichen. Denn was ist ohne den Glauben an die Möglichkeit eines Glückes auf Erden, ohne die Liebe des Einzelnen zum Leben alles Mühen um den Fortschritt und die Vervollkommnung der allgemeinen Zustände? Wer kämpft muthig, wenn ihm das Dasein nichts werth ist?


Frankfurt a. M., 15. April 1883.


Johannes Proelß.

Quelle:
Johannes Proelß: Katastrophen. Stuttgart 1883, S. VII7-XII12.
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