12.

[165] Wann mein Herz mit Freudenschauer

Nicht des Frühlings Nah'n erfüllt,

Noch die Seel' in sanfte Trauer

Mir des Herbstes Scheiden hüllt;


Wann ich nicht mehr mich empfinde

Still mit jedem Blatt am Strauch,

Noch um jede Blume linde

Spielet meines Liedes Hauch:


Dann bin ich nicht mehr im Leben,

Sondern ruh' im kühlen Raum.

Und noch dann soll leise weben

Um mein Grab ein Blütentraum.


Wie im Frühling mein Gemüte

Soll mein Grab in Rosen stehn;

Und im Herbste soll die Blüte

Wie mein Leben einst verwehn.


Die Natur in steter Dauer,

Was sie selb mir flüchtig gab,

Frühlingswonne, Herbstestrauer,

Gibt sie ewig meinem Grab.

Quelle:
Friedrich Rückert: Werke, Band 1, Leipzig und Wien [1897], S. 165.
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