1.

[139] Unvergleichlich blüht um mich der Frühling,

In die Fenster schlagen Nachtigallen,

Heiter blickt der Himmel her, die Sonne

In das Stübchen, wo ich sitz' und dichte.

Mehr als Blumen im Gefilde, sprossen

Lieder täglich unter meiner Feder.

Und vom Flore meiner Blätter blick' ich

Zwischenhin auf den des Frühlings draußen,

Lächl' ihm zu und seh' ihn wieder lächlen.

Jeder von uns beiden scheint zufrieden

Mit sich selbst und mit dem andern, jeder

Thut und läßt den andern thun das Seine.

Und, den Tag lang dichtend, denk' ich immer

An den Abend, wo, zu süßen Tagwerks

Süßem Lohn, ich gehe zu der Guten,

Die mit treuer anspruchloser Neigung

Mich beglückt, wie ich es nie mir träumte.[139]

Hab' ich doch allein für sie gedichtet,

Wie der Frühling sich für sie nur schmückte.

Und sie freut sich meiner Liedesblüten,

Wie der Kränze, die der Lenz ihr bietet,

Teilt ihr Lächeln zwischen beiden Freunden,

Die einander nicht den Anteil neiden.

Lieben, dichten und den Frühling schauen,

Dichten und den Frühling schaun und lieben –

Gibt es einen angenehmern Kreislauf,

Als in dem ich spielend mich bewege?

Und, den süßen Kelch mir scharf zu würzen,

Rascher zum Genuß mich aufzufordern,

Steht der Abschied winkend in der Ferne.

Näher treten seh' ich ihn bedeutsam,

Sprechend: Alles dieses mußt du lassen.

Wie das Leben schön ist, weil es endet,

Wie die Jugend lieblich, weil sie fliehet,

Wie die Rose reizend, weil sie welket;

So empfind' ich heut ein Glück gedoppelt,

Das mir morgen schon der Tod will rauben.

Angefangne Lieder möcht' ich enden,

Doch unendlich quellen sie im Herzen.

Rosenknospen möcht' ich noch im Garten

Sich zur Blüt' erschließen sehn und brechen.

Und die Sonne dieser tiefen Augen,

Die mit jedem Blick von Seelentreue,

Ew'ger Fülle der Empfindung sprechen,

Möcht' ich ganz noch in die Seele trinken.

Laß, o Herz, dich nicht vom Drang verwirren,

Sondern nimm, was du noch darfst, besonnen:

Diese ungebornen Lieder alle,

All die Hoffnung dieser Rosenknospen,

Diesen Frühling, diesen Liebeshimmel,

All dies Glück, o fass' es, wenn du scheidest,

In ein liebendes Gefühl zusammen,

Nimm es mit! Wer kann's der Seele rauben?

Die Erinn'rung wird davon sich nähren,[140]

Wenn die Gegenwart die süße Nahrung

Dir versagt, woran dein Herz gewöhnt ist.

Phantasie und Liebe, deren Flügel

Nicht der Zeit, der Räume Trennung achtet,

Wird, wo du auf öden Steppen weilest,

Jeden Augenblick zurück dich tragen

In das Paradies, das du verlassen.

Quelle:
Friedrich Rückert: Werke, Band 1, Leipzig und Wien [1897], S. 139-141.
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