3.

[201] Ich hatte dich lieb, mein Töchterlein!

Und nun ich dich habe begraben,

Mach' ich mir Vorwürf', ich hätte fein

Noch lieber dich können haben.


Ich habe dich lieber, viel lieber gehabt,

Als ich dir's mochte zeigen;

Zu selten mit Liebeszeichen begabt

Hat dich mein ernstes Schweigen.


Ich habe dich lieb gehabt, so lieb,

Auch wenn ich dich streng gescholten;

Was ich von Liebe dir schuldig blieb,

Sei zwiefach dir jetzt vergolten!


Zu oft verbarg sich hinter der Zucht

Die Vaterlieb' im Gemüte;

Ich hatte schon im Auge die Frucht,

Anstatt mich zu freuen der Blüte.


O hätt' ich gewußt, wie bald der Wind

Die Blüt' entblättern sollte!

Thun hätt' ich sollen meinem Kind,

Was alles sein Herzchen wollte.


Da solltest du, was ich wollte, thun,

Und thatst es auf meine Winke.

Du trankst das Bittre, wie reut mich's nun,

Weil ich dir sagte: Trinke!


Dein Mund, geschlossen von Todeskrampf,

Hat meinem Gebot sich erschlossen;

Ach! nur zu verlängern den Todeskampf,

Hat man dir's eingegossen.
[201]

Du aber hast, vom Tod umstrickt,

Noch deinem Vater geschmeichelt,

Mit brechenden Augen ihn angeblickt,

Mit sterbenden Händchen gestreichelt.


Was hat mir gesagt die streichelnde Hand,

Da schon die Rede dir fehlte?

Daß du verziehest den Unverstand,

Der dich gutmeinend quälte.


Nun bitt' ich dir ab jedes harte Wort,

Die Worte, die dich bedräuten,

Du wirst sie haben vergessen dort

Oder weißt sie zu deuten.


Quelle:
Friedrich Rückert: Werke, Band 1, Leipzig und Wien [1897], S. 201-202.
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