Zwölftes Kapitel.

[102] Magister Buchius rüstete sich derweilen wie ein Mann, der, wenn er nicht mehr die Toga um sich zusammenziehen konnte wie der Cajus Julius unter der Bildsäule des Pompejus, doch anständig in seinen Stiefeln oder Schuhen zu sterben wünschte. So wenig er je den Respekt im Verkehr mit seinen Schülern hatte aufrecht erhalten können, so sehr war er in seiner Seele ein Mann des Anstandes und dazu, wie wir nunmehro wohl schon wissen, ein tapferer Mann.

»Rebus angustis animosus atque fortis appare,« sprach er mit dem Horaz, und wenn es zum äußersten gekommen wäre, würde er sicherlich auch mit dem Martial gesagt haben: Rebus in angustis facile est, contemnere vitam. Daß er beim Zuknöpfen von Hose, Weste und Rock unter die heidnischen Sentenzen und nervose dicta auch Verse aus dem Braunschweigischen Gesangbuch, gedruckt bei Johann Heinrich Meyer, mischte, wird ihm, der aus einem lutherischen Pfarrhause stammte, christliche Theologia studiert hatte und ein Erbe christlicher Schulweisheit des heiligen Bernhards von Clairvaux und seiner Cisterciensermönche war, niemand verübeln. Noch dazu, da der Lärm draußen vor seiner Zellentür, drunten im Kloster immer ärger, immer schlimmer, immer entsetzlicher wurde.


»Es zieht, o Gott, ein Kriegeswetter

Jetzt über unser Haupt daher.

Bist du nicht unser Schutz und Retter,[103]

So ist die Plage uns zu schwer.

Sieh, wie die Fürsten sich entzwein

Und sich zu unterdrücken dräun!«


»Krah!« schnarrte es dazwischen, und der unvermutete, gespenstische Ton, so dicht neben ihm, entwurzelte für den ersten Moment all seine altrömische Standhaftigkeit mehr als alles Gelärm von draußen.

»Ah so, du bist es!« sprach er aber schon im nächsten Augenblick beruhigt. Der Rabe auf dem Bettpfosten war weniger von dem Kriegsgetöse als von dem Vers aus dem Braunschweigischen Gesangbuch erweckt worden und streckte erst das linke Bein und den linken Flügel und dann das rechte Bein und den rechten Flügel weit von sich, wie »ein Mensche beim Aufwachen sich dehnend«, und sagte:

»Krah!«

»Ja wohl, guten Morgen. Nun werden wir es ja wohl an unserm Leibe wie auch an unseren Habseligkeiten in genauere Erfahrung bringen, was du und die deinigen uns gestern aus der Höhe über dem Odfelde zu bestellen hatten! Fortiter ille facit, qui miser esse potest


Doch findet, Herr, dein weiser Wille

Noch ferner Züchtigung uns gut;

Wohlan, wir schweigen und sind stille

Bei dem, was Deine Vorsicht tut.

Laß uns nur Deiner Plagen Not

Zur Bess'rung leiten, mächt'ger Gott.«


»Perfer et obdura – heißt es beim Ovidius.


Nicht zu verderben, nein mit Maßen

Treff uns dann auch dein Strafgericht.

Du kannst, Du wirst uns nicht verlassen;

Nein, Vater, nein, das tust Du nicht –


Diesmal schlagen sie alles kurz und klein! Mein Gott, dies reichet ja bis an unsern großen Schultumult in der Biersuppenaffäre, wo die Herren Primaner den Herrn Amtmann[104] in der Speisekammer eingesperrt und belagert hielten und Feuer davor und drunter anlegen wollten. Der Musjeh Thedel war damals noch nicht dabei; er war erst einer der Haupt-Conspiratores bei der Verschwörung in unserer Wilddiebsangelegenheit vom Heidwinkel. Sie schossen auch damals scharf aufeinander, die Schule und die herrschaftliche Jägerei. Ja trommelt, trommelt, trommelt nur, ich höre die Kuhhörner unseres animosen, tapfern Cötus noch immer durch euer Getrommel und Trompeten, ihr Herren Welschen! Aber, der junge Herr? ... ämabel wär's von ihm gewesen, wenn er mich nicht so leichtlich um diesen neuen Spaß nach seinem Sinn und Herzen hier in angustis rebus, in der Angst und Betäubung meines Gemütes hätte sitzenlassen. Mit dir zur einzigen Gesellschaft –«

Das letzte Wort war an den geflügelten Kriegsmann von Wodans Felde gerichtet; aber der schien mit dem Krachen der Flinten drunten in den Gängen des alten Klosters das Pulver und sein Futter bis hinauf in die ablegene Zelle des weiland Bruders Philemon zu riechen. Er erhob sich flügelschlagend und hüpfte kreischend und krächzend wie im Triumph dem Magister um die Beine und im Gemach herum:

»Krieg, Krieg, Krieg!«

Magister Buchius nahm seinen Hut vom Haken und drückte ihn fest auf die Perücke. Er nahm seinen Stock aus dem Winkel. Wie ein richtiger alter Römer beim Einbruch der Gallier wollte er auf alles gerüstet und gefaßt sein.

Es war auch nur ein Unterschied in der Zeitenfolge und im Kostüm, wie er so dasaß an seinem Tische auf seinem Stuhl in seinem Museo, Wohn- und Studiergemach – aufrecht, das hispanische Rohr fest aufgestellt auf den Boden zwischen den Knien, den Hut auf dem Haupte. Wenn Kloster Amelungsborn heute im Abgrunde des Zornes des Höchsten versank, den Magister Buchius fand und empfing der Abyssus in voller Erkenntnis seiner Sündhaftigkeit vor dem Herrn; aber auch[105] außer durch den Trost auf die Barmherzigkeit desselbigen Herrn für alles aufs wackerste gewappnet durch die tagtägliche, erfreuliche Beschäftigung mit dem Altertum! Dem klassischen nämlich.

Fast mit einem süßen Grauen wartete er darauf, daß ihn der Neugallier an der Nase in Ermangelung eines Bartes zupfe. Er hatte sein volltönend Wort dafür in Bereitschaft; aber – er hatte zu warten. Während der Lärm drunten fortdauerte und drüben von Augenblick zu Augenblick ärger wurde, ließ sich in seinem ablegenen Winkel keine Seele blicken. Er wartete auf den barbarischen Feind ebenso vergeblich wie auf seine Morgensuppe.

Es blieb ihm wahrhaftig nichts anderes übrig, als wie in ruhigeren Zeiten so auch heute zuerst »in das Wetter« zu sehen.

Er tat's, indem er sich mit einem Seufzer von seinem Stuhl erhob. Sein Stubengenoß hüpfte ihm dicht auf den Fersen nach und hob sich wie von demselben Gedanken getrieben und sprang neben ihm in die Fensterbank, gleich einem, der auch wohl in dieser Hinsicht ein Urteil abzugeben habe.

Es war nunmehr ein wenig heller geworden, wenngleich noch lange nicht Tag. Der Regen hatte aufgehört, aber ein dichter Nebel füllte nicht bloß das Hooptal, sondern bedeckte die Welt um Amelungsborn überhaupt, als habe das alte Kloster seine weiland Mönchskappe nochmals ob dem Greuel der Welt bis über die Ohren hinuntergezogen.

»Der wird sich halten,« meinte der Magister und meinte den Nebel. »Wer sich von hier wegschleichen will, wer allhier um der Menschheit Jammerschule herumgehen will, dem gibt der liebe Gott heute die Gelegenheit – falls nicht ein Wind kommt, oder zu starkes Feuern aus grobem Geschütz einfällt.«

Die letztere überlegende Bemerkung zeugte jedenfalls abermals davon, daß der Mann in seiner Zeit Bescheid wußte, sei es aus eigener Erfahrung oder aus Büchern, Briefen und Zeitungen.[106] Übrigens aber war eigentlich durchaus keine Zeit, bloß gelassen und Gott ergeben in das Wetter zu gucken. Auch der Magister Buchius hatte sich die Frage zu stellen, ob er sein heutiges Schicksal in der Zelle des Bruders Philemon abwarten und an sich herankommen lassen wolle, oder ob es besser und würdiger sei, demselben entgegen zu gehen, das heißt, dem unbotmäßigen lieben Knaben, dem Junker Thedel von Münchhausen, nachzueilen und zu erkunden, in welche Fährlichkeit den seine Lust am Kriege aller gegen alle diesmal geführet habe.

»Sie hängen ihn –«

»Krah!« sagte der Rabe –

»Oder sie erschießen ihn« –

Gerade in diesem Augenblick krachten die Flintenschüsse, welche das Regiment Navarra dem Junker und seiner ohnmächtigen Angebeteten nachfeuerte, drunten aus den Korridoren des Herrn Klosteramtmanns, und – Magister Buchius erwartete nicht die Gallier auf seiner Stube, auf seinem Stuhl. Er griff noch in sein Bücherfach (mit einem letzten wehmütigen Abschiedsblick auf seine Kuriositäten und Raritäten) schob Anicii Manlii Torquati Severini Boëtii Buch Consolatio philosophiae in die hintere Rocktasche und ging ihnen (den Galliern) und ihm (seinem heutigen Tagesschicksal) entgegen, von dem einfachen klassisch-unklassischen Bedürfnis getrieben, seinen bösesten und besten Plagegeist der weiland großen Schule von Amelungsborn am Rockschoß zu fassen, und zwar mit beiden magern, harten, haarigen Schulmeisterpfoten. Bloß, um nochmal den vergeblichen Versuch zu machen, ihn vom Abgrund zurückzureißen.

Mit dem Seufzer: »Was wird es helfen?« schloß er die Tür seiner Zelle hinter sich ab und schob den Schlüssel zu dem Boëtius. Draußen noch vollständig Nacht; erst in den untern Gängen vor den Klassenzimmern erste Tagesdämmerung durch die höheren Korridorfenster – dann Lichter, Fackeln, Feuerbrände[107] und – zwanzig Fäuste zugleich in seiner Perücke, an seinem Kragen, an Arm und Brust! Dazu Fußtritte und Kolbenstöße von allen Seiten!

»Le voilà! le voilà! Hier haben wir die Kanaille! Chien! cochon! Her mit dem Strick! Wo ist der Profoß? Au diable le prêvot!


Venons, saignons,

Venons, pendons,

Venons à cinquante, cinq-cents!«


Sie hatten ihn in ihren Fäusten, sie hatten ihn unter ihren Füßen, sie hatten ihn auf der Treppe, und sie hatten ihn im Hofe vor der Treppe, die zu der Tür des Klosteramtshauses führte. Sie nahmen ihn durchaus nicht für eine bemalte Puppe aus Holz und Stein, diese Gallier neueren Geschlechtes. Sie tupften diesen Marcus Papirius wahrlich nicht bloß mit der Spitze des Zeigefingers an, um sich zu vergewissern, ob das Ding Leben in sich habe oder nicht. Unter andern Umständen würden die lustigen Franzosen selber zuerst über sich und ihn gelacht haben: sie hielten den schwarzen Alten wirklich für den schwarzen, jungen Sünder, der eben ihrem Sergeanten das Nasenbein eingeschlagen hatte und ihnen mit der Mamsell Fegebanck durchgegangen war. Im ersten Morgengrauen des Novembers und bei solchem Nebel war ihnen alles, was in gelehrtem Schwarz ging, Hose wie Jacke. Und sehr vielen unter ihnen kam's überhaupt nicht drauf an, wen sie hingen, wenn sie nur jemand hatten, den sie aufhängen konnten.

Zwei aber nahmen sie natürlich noch lieber als einen, und so hatten sie auch bereits den Herrn Klosteramtmann in den Klauen an der Vortreppe seines Amtsgebäudes unter dem Strick, den sie vom nächsten Ast der weiland alten Klosterlinde auf seinen Nacken herunterließen, während sie sein schreiend Weib und seine halbnackten Kinder auf der Treppe festhielten oder vom Fenster zusehen ließen.[108]

»Was hat der Herr mir angerichtet?« schrie der Amtmann, nicht ohne eine Berechtigung, den Magister an. »Weiß Er mir zu sagen, was die Herren eigentlich von mir verlangen außer dem letzten Stück Brot, der letzten Kuh aus dem Stall und dem letzten Hemd vom Leibe? Messieurs, messieurs, demandez lui! Sackerment, so helfe der Herr Magister mir doch wenigstens mit Seinem Französisch! Ist das jetzt Zeit zum Maulaffenreißen? Meine Herren, meine Herren, noch einen Augenblick – öng Momang, öng Momang Magister Buchius, Magister Buchius, wen hat Er diese Nacht bei sich beherberget, der uns dieses zugerichtet hat? Er hat uns dieses aus Seinem Prodigium auf dem Odfelde zugetragen! Monsieur le capitaine, noch einen Momang – Hand weg, barmherziger Herrgott! Wen hat Er diesen Morgen in meiner Nichte, der nichtsnutzigen Gans, Schlafkammer gehabt, Magister Buchius?«

Rom sahe nimmer etwas Größeres von Mannestrotz und Männerwürde, als jetzo Amelungsborn sah, und zwar am Magister Noah Buchius. Pädagogische Entrüstung, herzliche Zuneigung und innige Bewunderung rangen in seiner braven Seele um den wackern Thedel Münchhausen; aber nur einen kürzesten Moment. Die Zeit drängte wahrlich! – schlimmer als das welsche Mord- und Raubgesindel konnte sie freilich nicht drängen.

»Er hat immer in der Konferenz alles auf sich genommen!« murmelte der alte Schulmeister. »Er hat niemals einen anderen verpetzet! er hat immer sein eigen Fell zu Markte getragen!« Und laut, so laut wie selten in seinem stillen Dasein, rief er: »Ich weiß es nicht, was passieret ist; aber ich nehme die Responsabilität von allem auf mich.«

»Que dit-il? was sagt er?« kreischte, brüllte es in jeder Tonart rund umher.

»Er wills g'wesi si, der mit dem Mensch durchgange isch! Nehmet 'n d'r für! Der ein ischt so guet wie der andere!« krächzte[109] lachend ein elsässisch Lagerweib. »Dem Lump, dem Penderau, dem Kistenfeger, dem Môsieu Ribaudin, dem Cacqueteur, dem Vagabond da auf dem Stroh, dem Monsieur le Capitaine Ribaudin gönne ich schon sein Teil; aber – hänget sie beide – hänget sie alle drei:


Allons, venons,

Brûlons, pendons,

Venons à cinquante, cinq-cents!«


Sie fielen sämtlich im Chor ein – alles, was von Navarra, Salis, Boccard, Reding und so weiter dem Herrn von Rohan-Chabot gegen die Hube bei Einbeck nachzog – und wenn der Klosteramtmann und der letzte wirkliche Magister von Amelungsborn jetzt am Strick aufgezogen worden wären, so würde das unbedingt unter Polyhymnias Begleitung geschehen sein, wenn auch nicht unter Begleitung der Muse des durch Johann Heinrich Meyer gedruckten, privilegierten Braunschweigischen Kirchengesangbuchs.

Aber es kam etwas dazwischen außer dem Sträuben und Sperren der zwei Patienten und dem Schreien und Wehklagen der Familie des Amtmanns. Nämlich zuerst ein Ziegel, oder vielmehr eine »Sollinger Dachplatte« vom obersten Dachfirst des Amtsgebäudes und darauf ein ganzer Regen von dergleichen um Beruhigung ansuchenden Wurfgeschossen.

Wenn es nun aber regnet, verläuft sich der Pöbel; das ist wohl eine uralte Erfahrung, die aber nur da stichgültig ist, wo eben der Herr in der Höhe seine beruhigende Hand auftut und Wasser herunterkommen läßt. Wirft aber ein dummer Junge aus der Bodenluke mit Dachsteinen in Nebel und halbe Nacht hinein und kräht dazu wie ein Hahn und schreit: »Vivat Herzog Ferdinand! Vivat Fridericus! Vivat Mademoisell Selinde Fegebanck! Vivat der Magister Buchius! Pereat la France! Steigen Sie mir doch auf den Buckel, Messieurs! [110] Ici, ici – Thierry le Téméraire, Thedel Unverfehrden von Münchhausen!« so – hat das eine ganz andere Wirkung.

Die, welche die einzelnen Tropfen des Steinregens auf die Köpfe bekommen hatten, hielten letztere fluchend und heulend mit beiden Fäusten, aber hatten nicht Raum, sich betäubt zu Boden zu legen. Im wütenden Gewühl wurden sie gegen das Amthaus mit gehoben, geschoben, gerissen. Ebenso der Klosteramtmann und sein letzter pädagogischer Hausgenosse. Ein halb Dutzend Schüsse wurde aufs Geratewohl zum Dach hinauf abgefeuert. Es hing itzo an einem Haar, ob ein Tisch und ein Stuhl in Kloster Amelungsborn heil, ob eine Mauer von Kloster Amelungsborn aufrecht erhalten bleibe. Was der letzte Schüler der weiland großen Schule daselbst dazu tun konnte, daß jetzt alles ruiniert wurde, das hatte er redlich besorgt. Da würde er wohl zum erstenmal in seinem Leben ins Testimonium die erste Nummer vom Prior-Rektor, dem gesamten Lehrerkonvent – den heiligen Bernhard von Clairvaux eingeschlossen – sich verdienet haben.

Aber unser Herrgott, Ihm sei Dank, läßt nicht alles in der Hand und Willkür der Unbedachtsamkeit. Er behält sich immer die oberste Hand vor und hat nicht bloß den Platzregen als einziges beruhigendes Spezificum darin, wann er sie öffnet über irgendeinem Tumult, einer Wüterei der nach seinem Bilde Erschaffenen.

Um diesmal Amelungsborn aus der Hand der Kinder und der Toren zu erretten, bediente er sich einfach der Kanonen der hohen Alliierten des Königs Friedrich von Preußen, der Artillerie de Bückebourg und der Artillerie de la Brigade Beckwith, welche pünktlich zu vorgeschriebener Stunde zwischen Holzen und Wenzen ihr Feuer auf den General Chabot und den Marquis von Poyanne eröffneten, um sie dem Generalleutnant von Hardenberg in die Fänge zu treiben, wenn auch der pünktlich war.[111]

Es kracht dort tüchtig in den Bergen, sowohl Gewitterdonner wie Kanonendonner. Für die Mord- und Raubbande auf dem Klosteramtshofe war das Gekrach vom Ith wie ein neuer Stein; aber diesmal wie ein Stein in einen Spatzenhaufen.

»L'ennemi! l'ennemi! Der Feind, der Feind! Les Prussiens, les Prussiens! Les Anglais! les Anglais! Le duc Ferdinand!«

Die wüste Menschenwelle, die sich eben gegen das Haus gewälzt hatte, und über den Magister Buchius und den Herrn Amtmann, ohne sich um ihre Knochen zu kümmern, weggegangen war, schlug jetzt zurück. Im panischen Schrecken stürzte alles Kriegsdiebsgesindel, mit sich schleppend, was es in der Morgendämmerung und Hast gegriffen hatte, aus allen Türen, und wälzte sich, wiederum über die beiden zu Boden liegenden Herren weg, gegen das Hof- und Klostertor.

Binnen fünf Minuten war Amelungsborn rein von ihm, bis auf den vom Faustschlag Thedels von Münchhausen immer noch besinnungslos auf dem Stroh liegenden Korporal oder Sergeanten Ribaudin. Also so frei von Einquartierung, als das an einem Tage wie dieser und an einer so nahe beim Schlachtfelde gelegenen Wohnstätte nur irgend der Fall sein konnte!

Neuer Trommelschlag in nicht zu weiter Ferne kündete bereits den Vor- und Vorbeimarsch anderer Truppen des Königs Ludwig des Fünfzehnten und der Frau Marquise von Pompadour an; doch der Klosteramtmann benutzte die kurze Frist seiner Alleinherrschaft in Amelungsborn so gut als möglich, wenn freilich auch so unzurechnungsfähig als möglich.

Sie hatten sich natürlich wieder aufgerappelt vom zerstampften nassen Boden, sowohl der Amtmann wie der Magister. Der erstere befand sich in den Armen von Weib und Kind, der zweite griff sich an den Hals, weniger um die Binde als um den französischen[112] Strick, der sich so bedenklich darum zusammengezogen hatte, zu lockern. Er löste die infame Schleife und hob sie über den Kopf, um sie mit einem Dankgebet gegen den Herrn der Heerscharen so weit als möglich von sich zu schleudern, als – er plötzlich seine Hand gepackt und den heißen, zornigen, wütenden Atem seines widerwilligen hospes dicht vor seinem Gesichte fühlte. Der Nebel gestattete jetzo kaum noch auf zwei Schritte weit, einem Nebenmenschen Zärtlichkeit oder Grimm aus den Augen abzulesen und dem einen wie dem andern in der richtigen Weise mit dem Herzen oder der Gallenblase, mit den geöffneten Armen oder mit der Faust entgegen zu kommen.

»Herr«, schrie der seiner Zeiten Not völlig unterliegende, völlig unterlegene Klosteramtmann von Amelungsborn, aus den Armen von Weib und Kind sich losmachend, den letzten wirklichen Kollaborator der großen Schule von Amelungsborn an. »Herr, Er ist es, der mir als schwarzer Unglücksrabe auf dem Dach unter meinem Dache sitzt. Er ist's, den mir der Satan als Spuk bei Tage und bei Nacht aufgeladen hat! Was hat Herzogliche Kammer und Domänenverwaltung noch mit Ihm in Amelungsborn zu schaffen? Was muß ich mit Ihm mir meinen Tod an den Hals füttern? Was muß ich mit Ihm mir mein tagtäglich Verderbnis weiter füttern? Hinaus mit Ihm! Lüge Er es doch ab auf griechisch oder lateinisch: hat Er mir nicht etwa gestern abend diesen saubern Morgen im Taschentuch in den Hof getragen? Und mit dem giftigen schwarzen Galgenvogel, den Musjeh, den Junker von Münchhausen? Hinaus mit Ihm, Magister Buchius! Mit dem für Ihn stipulierten Mittagsbrot wird's heute wohl nichts werden können; also grabe Er draußen wieder nach Knochen, äse Er meinetwegen auf Seinem Teufelsfelde, fresse er sich voll auf dem Odfelde! Hinaus mit Ihm! wenn Sein Tisch wieder gedeckt ist in Amelungsborn, werd' ich's dem Herrn Magister und hochfürstlicher Kammer schon zu wissen tun.«

Quelle:
Wilhelm Raabe: Sämtliche Werke, 3 Serien, 18 Bände, 3.Serie, Band 4, Berlin o. J. [1916], S. 102-113.
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