Zwölftes Kapitel

[372] Justizrat Scholten lachte gegen sein Versprechen, und was nachher in den Zeitungsblättern über das Nachfolgende zu lesen gewesen ist, gab nur eine matte Relation der hereinbrechenden schrecklichen Ereignisse.

Um diese Stunde – zwischen drei und vier Uhr nachmittags –[372] ist es in der Tiefe der Erde, fern in den Wäldern auf den Holzschlageplätzen und an den Meilern sowie auf den entlegenen Feldern und Wiesen den Leuten gewesen, als habe sie plötzlich jemand gerufen. Der Bergmann hat Fäustel und Eisen sinken lassen, der Holzhauer die Axt, der Köhler den Schürbaum. Auf den Äckern und Wiesen hat man mit der Arbeit innegehalten und der Hirt sein Pfeifen unterbrochen und die Hand ans Ohr gelegt. Jedermann, der einen Nachbar beim Tagewerk zur Seite hatte, hat den angesehen und ihn gefragt, ob er nichts gehört habe. Wunderlicherweise hatte dann doch niemand etwas vernommen, und jeder hat seine Beschäftigung wieder aufgenommen, jedoch in einer gewissen Befangenheit und Zerstreutheit und nicht mit der vorigen Lust.

So weit des Dorfes Feldmark ging, hat es nicht geregnet; doch der heiße Sturm ist freilich überall gewesen und hat den Menschen die Stirnen betäubt. Die Bauern, die Holzarbeiter, die Köhler und Hirten sind vielleicht dadurch schon auf ein Außergewöhnliches vorbereitet worden, zumal sie von dem dunkeln Horizont rundum sich umgeben sahen und die Donner rollen hörten. Für die Leute unter der Erde galt das freilich nicht, die haben sich über die Mahnung nachher am meisten gewundert oder vielmehr entsetzt.

Wer schrie es in die Schachte hinunter, in die Stollen hinein, daß Feuer zu Hause sei? Wer verkündete es in den brausenden Forsten, auf den Feldern? Wer sagte es dem einsamen Hirten auf seiner Waldwiese?

Sie wußten es alle zu gleicher Zeit. Sie warfen ihre Geräte hin, sie stiegen auf, sie sprangen über die Hecken und Hohlwege, sie stürzten die Schneisen hinunter – mit hocherhobenen Armen liefen sie von den Feldern weg. Auf allen Wegen und Stegen wimmelte es von entsetzten, angstvollen Menschen.

Es war Feuer zu Hause und sie fern vom Hause! – – Viele haben ein Lachen in dem Sturmwind gehört. Alle aber haben noch nimmer mit solcher Verzweiflung das Zischen und Pfeifen über und um sich vernommen und den Atem des Sturmes in ihren Haaren und Kleidern gefühlt.[373]

Ja Feuer! Es war Feuer, und der alte Scholten, die Frau Salome und Eilike Querian waren die einzigen im Dorfe, die Bericht darüber geben konnten, wie es entstanden war. – – –

»Ach ja, ich habe es wohl gefürchtet, daß Sie doch wieder lachen würden«, sagte Querian mit einem Gesichte wie ein Kind, das nach einer verbotenen Frucht griff und einen Verweis erhielt. »Oh, Sie haben wohl ganz recht; Sie verstehen das viel besser als ich. Es ist nichts, es ist gar nichts – ich sehe es wohl, ich weiß es wohl. Es ist alles sehr lächerlich und ich auch – ja! Nun, nun, die Herrschaften haben recht, und wir wollen es fortschaffen; der Eilike gefiel es auch nicht; aber es wäre mir freilich lieb gewesen, wenn die Herrschaften nicht gelacht hätten.«

Langsam, fröstelnd die Hände reibend und dazwischen die Knöpfe seines Rockes zuknöpfend, ging er an den Herd, sah einen Augenblick in die Glut und dann noch einmal wie fragend, sehnsüchtig auf den Besuch, und dann nahm er ein brennend Reis. Er schleuderte es nicht, er ließ es nur fallen zwischen die Hobelspäne und das dürre Holzwerk, das hoch in Haufen den Fußboden bedeckte und gegen die Wände sich auftürmte. Von den Besuchern hatte noch keiner eine Ahnung, was kommen sollte – was da geschah – was dieser arme Mensch in seiner Verwirrung anrichtete.

»Ei, mein bester Querian –« hatte der Justizrat noch einmal einen Satz begonnen; da war es aber bereits für jegliches tätige Zugreifen zu spät. Er tat einen Satz und trat mit dem Fuße auf die nächste aufhüpfende Flamme. Die Baronin stieß einen Angstruf aus, Eilike schrie hell, und schon war aller Kampf gegen das furchtbare Element vergeblich!

Sie sahen den Tollen inmitten des Feuers und des Dampfes. Mit einem Hammer schlug er auf sein kurios mächtiges Bildwerk. Er zerschlug das tote Kind in den tönernen Armen des Genius, des Riesen – die große Figur zersplitterte und stürzte polternd zusammen, teilweise auf den Künstler selber. Das Feuer war überall – auf dem Fußboden, an den Wänden, an der Decke; – es leckte schon nach dem leichten Sommerkleide der Frau Salome. Scholten riß die Freundin mit einem rauhen, heisern[374] Entsetzensgeächz zurück gegen die Tür, die Eilike flüchtete bereits durch den dunkeln Hausgang.

Das Haus Querians brannte im Innern lichterloh, und um das Haus sauste der Wind wilder denn zuvor. Von dem Eintritt der drei bis jetzt, wo sie wieder auf dem Wege standen, waren kaum zehn Minuten vergangen.

Der Justizrat kam zuerst wieder zur Besinnung und griff sich mit einem Verzweiflungsruf in die Haare; – der Qualm der Feuersbrunst quoll bereits zwischen den Schindeln des Daches durch und aus der Haustür hervor.

»Ins Dorf! Um Hülfe – Feuer!« schrie Scholten. Die Frau Salome mußte alle ihre Kräfte aufbieten, um das Kind Querians abzuhalten, sich abermals in das Haus zu stürzen. Die Eilike schrie, sie wolle mit ihrem Vater untergehen; doch dann verlor sie die Besinnung, und die Frau Salome trug sie weiter weg von der brennenden Hütte, den Waldabhang hinauf.

Grad auf das Dorf zu trieb aber der Sturm die ersten vorbrechenden Funken. Schon loderte zehn Schritte vom Haus ab ein trockener Baumzweig – nun zwanzig Schritte weiter eine dürre Tanne. Das nächste Haus am Eingange des Tälchens hatte ein Strohdach, und fast mit dem fortstürzenden Scholten langte das Feuer im Dorfe an.

Ein altes Weiblein lief zitternd aus der Strohhütte hervor, hielt sich kaum gegen den Wind aufrecht und starrte in. Betäubung und Zweifel auf ihr flammendes Dach. Schon klangen andere Stimmen ängstlich her; – das Feuer überhüpfte das folgende Haus, faßte jedoch mit einem Griff die drei nächstliegenden. Nun sprang es über auf die andere Seite der Gasse, und – das schlimme Geschick hatte seinen Lauf! Keiner, der es an Ort und Stelle miterlebte, wird den Tag je vergessen, und noch lange wird von ihm in den neuen Häusern und Hütten geredet werden und wird man sich erzählen, wie das Feuer flog, über weite Strecken, Hecken und Gärten sich schwang; wie die Mütter, die vom Hause entfernt gewesen waren, ihre Häuser nicht mehr erreichen konnten und nach ihren Kindern schrien; wie man das brüllende, widerspenstige Vieh aus einem Stalle in den andern rettete,[375] schleppte und zog und von dem nachfolgenden Verderben stets weitergescheucht wurde; wie der Wind in Stößen heulte und der ferne Donner übertönt wurde von den Explosionen der Sprengpatronen, welche die Bergleute in ihren Häusern aufbewahrten. Während des Tumultes selbst hatte nur ein Menschenkind für alle diese Einzelheiten des großen Brandes Auge und Ohr – die Frau Salome Veitor.

Sie stand auf dem höchsten Punkte des Kirchenhügels, von dem man das Dorf überblickte und einen Teil der Norddeutschen Ebene dazu. Sie hatte zu retten gesucht, wie und wo sie konnte. Sie hatte kleine Kinder aus den Häusern getragen und schlechte Habseligkeiten ärmsten Volkes in Sicherheit gebracht; ihre Hände bluteten, ihre Kleider waren zerrissen, und jetzt waren ihre Körperkräfte zu Ende, wenn sie gleich ihre geistigen Fähigkeiten noch klar und vollständig beisammen hatte.

Die Frau Salome hatte sich sehr nützlich gemacht. Ihr Wagen verbrannte mit dem Wirtshause; aber auf dem einen Pferde hatte sie ihren Ludwig nach einer entlegenen Ortschaft um Hülfe geschickt und auf dem zweiten Gaul den besten Reiter des Dorfes von dannen gejagt. Sie hatte ein Wort für die Witwe Bebenroth, deren Haus unversehrt blieb, die aber dessenungeachtet im Weinkrampf auf dem Grabhügel ihres letzten Gatten saß. In Abwesenheit des Justizrats und des Vorstehers war's die Frau Salome, welche die Offiziere der aus der Kreisstadt im Eilschritt zu Hülfe marschierenden Füsilierkompanie empfing, sie mit der Sachlage und dem Situationsplane des Dorfes bekannt machte und sie dahin dirigierte, wo ihre Hülfe vom besten Nutzen sein konnte.

Nun aber stand sie an einen Grabstein gelehnt und neben ihr der alte Pastor des Dorfes, den sie gleichfalls aufrecht zu erhalten hatte durch allerlei Trostesworte. Der Schulmeister zog noch immer unnötigerweise im Turme die Sturmglocke.

Zu ihren Füßen lag Eilike Querian auf einem liegenden Grabstein, mit dem Gesichte auf den Händen. Die Baronin hatte das junge Mädchen hierhergeschafft, wo allmählich alles sich zusammendrängte, was sich nicht selber zu helfen vermochte und noch viel weniger andern zunutze war.[376]

Die Augen der Frau leuchteten, wenngleich ihre Glieder zitterten und der Atem heiß und stoßweise sich ihrem Busen entrang. Sie sah über die Flammen der Nähe auf die Blitze und Wolkenbrüche der Ferne; und alte Verse aus den Psalmen ihrer Väter gingen ihr durch den Sinn und wurden laut auf ihren Lippen. Sie stand wie die Seherinnen ihres Volkes, wenn unter ihren Füßen die Schlachten gegen die Heiden geschlagen wurden; sie reckte ihren Arm aus und murmelte:

»Die Erde bebete und ward bewegt, und die Grundvesten der Berge regeten sich und bebeten, da er zornig war.

Dampf ging auf von seiner Nase und verzehrend Feuer von seinem Munde, daß es davon blitzete.

Er neigte den Himmel und fuhr herab, und Dunkel war unter seinen Füßen.

Und er fuhr auf dem Cherub und flog daher, er schwebete auf den Fittichen des Windes.

Sein Gezelt um ihn her war finster – vom Glanz vor ihm trenneten sich die Wolken – und der Herr donnerte im Himmel.

Er schoß seine Strahlen und zerstreute sie, er ließ sehr blitzen und schreckte sie.

Da sahe man Wassergüsse, und des Erdbodens Grund ward aufgedeckt, Herr, von deinem Schelten, von dem Odem und Schnauben deiner Nase.«

Wenn sie sich dann aber, was immer, immer von neuem geschah, das gräßliche Erlebnis in dem Hause Querians, die Stimme und Gestalt des Wahnsinnigen, sein letztes Bild und den zertrümmernden Hammer in der Hand des Tollen von neuem vor den inneren Sinn rief, dann schloß sie die Augen vor der Nähe und Ferne, und der Aufruhr, das Geheul und Krachen um sie betäubte sie, daß ihr die Stirn zu zerspringen drohte; und so wechselte das ab bis zum Abend, bis es in der Ferne und in der Nähe still wurde. Ja still!

Um sechs Uhr abends legte sich der große Wind, und aus den Gewittern in der Ebene wurde ein Landregen, der acht Tage lang nicht aufhörte und viel böses Blut machte. Zwei Drittel des Dorfes lagen in Asche, das letzte Drittel war gerettet, ohne daß[377] bis zum Ende ein Tropfen aus der Höhe dazu geholfen hätte. Die Menschen aber hatten nicht mehr die Kraft, über ihr Elend zu schreien oder laut zu fluchen; sie beteten und weinten leise oder knirschten leise mit den Zähnen.

Gegen sieben Uhr erschien der Justizrat Scholten mit verbundenem Kopfe, versengtem Haar und Backenbart auf dem Kirchhofe, schüttelte die Witwe Bebenroth ziemlich grimmig auf und schickte sie in ihren Keller nach dem Vorrat seines Getränkes. Er ließ die Frau Salome ein Glas Wein trinken und setzte sich dann zu ihr und der Eilike auf den alten verwitterten Stein. Nach einer geraumen Weile sagte er so matt und müde und gleichgültig wie vor vier Stunden Querian:

»Und da glaubt man denn noch, man sei etwas und bedeute etwas, wenn man mit den Armen und Beinen zappelnd sich eine Meinung, eine Ansicht bildet und sie von dem Mist laut hinauskräht! O Querian, Karl Ernst Querian! – Ob wohl die Behörde glauben wird, daß es sich so einfach zutrug, wie wir es sahen und es wohl demnächst als Augenzeugen werden bekräftigen müssen, Frau Salome? – Übrigens, meine Beste, müssen wir heute abend noch das Kind des Unglücklichen von hier fortschaffen. Es ist unbedingt notwendig; denn das Volk ist jetzt so wahnsinnig wie der Alte, spinnt grimmige Phantasien und sucht nach jemand, gegen den es seiner Verzweiflung und Wut Luft machen kann. Ich habe bereits absonderliche Worte gehört, und Querians Kind würde morgen früh manches zu klagen haben, wenn wir es hier über Nacht ließen. Sehen Sie sich um – wir drei sitzen allein – sie haben einen leeren Raum um uns gelassen; aber sie sehen nach uns herüber.«

So war es in der Tat. Eine unsichtbare Linie hatte das Dorfvolk gezogen und stand um den Kreis stumm, aber mit schlimmen Blicken.

Die Baronin Veitor blickte gleichgültig auf, zu gleicher Zeit den Kopf des Kindes sanft berührend.

»Wir können nicht heraus«, sagte sie; »es ist vergeblich – wir stecken in uns, wir stecken in der Menschheit, wir sind gefangen in dem harten Gefängnis der Welt. Wir keuchten nach Freiheit,[378] Erkenntnis, Schönheit, und im günstigsten Falle wird uns gestopft der Mund mit Erde. Morgen werd ich wieder anders denken; aber jetzt sehne ich mich nach der dunkeln Ecke auf der Weiberseite der Synagoge, wo ich saß mit meiner Mutter und sang, und wo ich hörte ablesen die Thora – das Gesetz.«

»Jawohl«, ächzte Scholten. »Es war eine schöne eine behagliche, anmutige Zeit, wo das Gesetz, das Corpus juris meine Welt war und die Aussicht auf das Staatsexamen mein allereinzigstes Elend in sich schloß. Morgen werde ich wohl gleichfalls wieder anders denken.«

Der alte Sommergast des Dorfes durfte es sich schon für eine Weile gönnen, zu sitzen und zu verschnaufen. Die Behörden des modernen Staates befanden sich jetzt in der erstaunlichsten Tätigkeit, und man konnte sie nur loben. Ehe die letzte Hütte, die das Feuer erfaßte, in sich zusammenstürzte, überlegte man und sorgte bereits von Amts wegen für das provisorische Unterkommen der Abgebrannten und ihre sonstige Bequemlichkeit. Die Kirche wurde aufgeschlossen und in eine Vorratskammer und in einen großen Sicherheitsschrank für die gerettete Habe der Ortseinwohner umgewandelt; der obdachlose Teil der Bevölkerung, soweit es anging, dem verschont gebliebenen Dritteil unter die Dächer gelegt. Aus den umliegenden Ortschaften kamen Wagen mit Hülfsmannschaften und Spritzen über Spritzen an. Proviant langte an. Verwandte und Freunde wurden eingeladen, fürs erste zu der Vetterschaft der nahen Dörfer überzusiedeln. Für die Alten und Kranken waren Ärzte genug vorhanden, und wer bis jetzt höchstens den Kuhhirten seiner Gebrechen wegen um Rat gefragt hatte, der konnte sich nun von einem Sanitätsrat den Puls fühlen lassen. Einen der Doktoren rief auch die Baronin Veitor an, der Eilike wegen. Auf einem zu Tal fahrenden Leiterwagen, auf einer Kiste sitzend, brachte dann die Frau Salome das Kind Querians in Sicherheit. Es wurde nur einmal ein schwacher Versuch gemacht, die beiden zu insultieren und die Eilike wieder vom Wagen herabzuziehen.

Der Justizrat sah die Freundin und sein Patenkind abfahren, schärfte dem Fuhrmann, als er schon auf die Gäule schlug, immer[379] von neuem ein, vorsichtig zu fahren und die beiden Frauenzimmer ja recht in acht zu nehmen, und blieb auf der Brandstätte zurück Er wußte es, daß er eine der brauchbarsten Personen hier war, und die Behörden hatten das auch bereits erfahren und befestigten sich im Laufe des Abends immer mehr in ihrer günstigen Meinung von ihm.

Der alte Scholten kannte jedermann im Dorf und jedermanns Umstände und Charakter; und die Leute kannten ihn und wußten, daß er ebenso gutherzig wie grob war. Nachdem er sich ein wenig erholt hatte, fuhr er von neuem umher, vervielfältigte sich wie eine Kugel oder ein Becher in den Händen eines Prestidigitateurs und erschien wie Pythagoras an sechs verschiedenen Orten zu gleicher Zeit.

Er legte eine gelähmte, hundert Jahre alte Schlackenpucherwitwe in das weiche Bett der höchlichst darüber entrüsteten Witwe Bebenroth und den taubstummen August, seinen Todfeind, welchem ein stürzender Balkon die Schulter getroffen hatte, in sein eigenes. Er machte Quartier – er verstand es, Quartier zu machen; der Ortsvorsteher sah ihm mit offenem Munde zu, und das böseste Volk ward zahm vor ihm, wenngleich er sich dann und wann gebärdete wie ein Fourier im Feindeslande.

Endlich konnte aber auch er nicht mehr, und gegen Mitternacht schleifte er ein Bund Stroh in das alte Beinhaus an der Kirchhofsmauer, wo trotz dem Wohnungsmangel niemand ein Unterkommen suchte, warf das Stroh in die Ecke, sich darauf und ächzte:

»Oh, Donnerwetter – uh, meine Knochen! O ja, wenn der Kaiser Carolus der Fünfte hier am Orte heute mir zur Hand gewesen wäre und jetzt mit mir hier auf dem Stroh läge und seine Karolina mit mir durchsprechen wollte, so wurde ich ihm freundlich raten, die Strafe des Räderns nicht unter seine Züchtigungsmittel aufzunehmen. Gevierteilt, gesäckt, gespießt zu werden, meine ich muß nur ein angenehmer Kitzel sein gegen – dieses! Wenn ich nur wüßte, wie's möglich ist, daß, einem die Schulterblätter ins Kreuz und die Hüftknochen in die Knie rutschen können? O Querian, Querian, was hast du angerichtet! Dies Resultat[380] kam dir nicht in den Sinn, als du zuerst deinen Kopf darauf setztest, nach deinem Tode einen Kirchhof berühmt zu machen!«

Er sah sich noch einmal in der Werkstatt Querians und ächzte. Dann aber gähnte er, drehte sich, eine bequemere Lage suchend, und murmelte schlaftrunken:

»Jaja – das Beinhaus! – Im Beinhaus! – Ich Urnarr! – Wenn ich gestern ihn am Kragen genommen hätte?! – Ach, es ist einerlei; ich wollte nur, ich hätte meinen Brief an Peter Schwanewede in Pilsum von der Post zurück. Die Mühe hätte ich mir auch sparen können!«

Damit entschlief er und hub an, sehr zu schnarchen. Die Füsiliere hielten die Wacht um die Brandstätte, und die lauteste Verzweiflung wurde allmählich still in der Erschöpfung; – es war aber im Sommer, und die Nächte waren kurz. Die Sonne war wieder da, ehe irgendein Schmerz, irgendeine Angst ausgeschlafen hatten – geschweige denn verschlafen worden waren.

Wie der Justizrat erwachte und seine Tätigkeit in Angelegenheiten seines Lieblingssommeraufenthaltes von neuem aufnahm, brauchen wir nicht des weiteren zu schildern. Um es kurz zu machen, er betrug sich so auffällig, so eigentümlich, daß ihm zu Neujahr zu seinem argen Schrecken von höchster Stelle aus mitgeteilt wurde, er habe sich durch sein sonderbares Verhalten die zweitunterste Klasse des Landesordens verdient und sich fortan ohne Weigerung als einen Ritter desselbigen anzusehen.

»I so was!« rief er. »Na, das soll mir aber inskünftige eine Warnung sein. Brennt mir noch einmal mein Sommerquartier ab, so lasse ich es ruhig in Dampf aufgehen, setze mich höchstens auf der Windseite auf einen passenden Aussichtspunkt und schlage die Harfe zu dem Malheur. O Querian, Querian, wenn sie dir doch das Anhängsel zur rechten Zeit gegeben hätten?!« – –

Am vierten Tage nach dem Tode Querians und dem großen Brand erschien er zum erstenmal wieder in der Villa Veitor. Er ging mühsam und schwerfällig an seinem treuen Eichenstock und schien um mehrere Jahre älter geworden zu sein. Die Frau Salome traf er am Bette der Eilike, die in einem hitzigen Fieber lag.[381]

Die Frau Salome teilte ihm alles mit, was sich seit ihrer Rückkehr in das Landhaus mit ihr und dem Kinde zugetragen hatte, dann auch ihre Ansichten und die des Arztes. Glücklicherweise hatte der Doktor bereits den Trost gegeben, daß die gute Natur des jungen Geschöpfes wohl auch ohne seine Hülfe sich geholfen haben würde.

»Und nachher soll sie es gut bei mir haben«, schloß die Frau Salome, Baronin von Veitor.

Scholten nickte und legte ein versiegeltes Schreiben auf die Bettdecke seines Patenkindes:

»Meine Beste, da ich das Ding einmal geschrieben und seit einigen Tagen einen merkwürdigen Wider willen und Abscheu gegen jeglichen Feuerherd und Kohlentopf habe, so betrachten Sie es wohl bei Gelegenheit als an sich gerichtet.«

Die Baronin nahm das Schreiben und sah erschrocken den Justizrat an. Es war der Brief des Alten in Sachen Querians und Eilike Querians an Peter Schwanewede. Die Post hatte ihn zurückgeschickt mit der Bemerkung auf dem Umschlage:

»Adressat bereits vor einem Jahre verstorben.« – –

»Im nächsten Sommer werde ich in Pilsum wohnen und mich nach dem Genauern erkundigen«, sagte Scholten. »Vielleicht besuchen Sie mich auch dort einmal, und dann bringen Sie die Eilike mit. Wir wollen ihr einmal die See zeigen. – O Frau Salome, liebe Frau Salome, der Streich sieht dem Peter ähnlich! So – grade so schlich er sich stets um die Ecke und überließ es uns anderen, fertig zu werden, wie wir konnten. Ei, ei, dieser Peter! Er hatte alle möglichen Schrullen – unter anderen die, daß er die See dem Gebirge vorzog. Es war seine Natur so; – ich kletterte meinesteils lieber in den Bergen; doch, offen gestanden, augenblicklich säße auch ich am liebsten und sähe über die kühlen Wasser ins Weite. Meine Natur ist's freilich nicht.«

»Ich komme im nächsten Sommer nach Pilsum«, sagte die Frau Salome.

Quelle:
Wilhelm Raabe: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Band 5, Berlin und Weimar 1964–1966, S. 372-382.
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