Dreiundzwanzigstes Kapitel

[227] Früher beschrittene Wege, ist das nicht etwas, das zu dem Schönsten oder Schlimmsten im menschlichen Leben zu rechnen ist? Wo der Pfad führte, durch die Einöde oder die wimmelnden Gassen einer großen Stadt, über die stille Wiese, der grünen Hecke entlang oder durch den grünen Wald, es redet überall der Boden unter den Füßen und mahnt: Erinnere dich, erinnere dich!

Es gibt kaum etwas Wehmütigeres als schon einmal beschrittene Wege, selbst wenn sie zum Glücke führten; denn nichts lehrt so eindringlich als sie, in welchem Traume die Menschen wandeln.

Fortwährend ein Schall gleich dem Tritt eines Rosses im Ohr, fortwährend ein weißer Schein wie von einem weißen Pferde in der Dämmerung zur Seite, trotz der Gedanken an den sterbenden oder gestorbenen Vater! Wie hatte der Wanderer einst in das Gesicht der schönen Reiterin und Kranzwinderin geblickt und ewige Jugend und alle Heiterkeit und Herrlichkeit des Daseins da gefunden, wo sich die Falten des Alters, der Sorge, der tiefsten Lebensnot zusammenzogen! Was war noch übrig von alledem, was sich vor zwei kurzen Jahren mit dem schönen, lachenden Haupt in jener Mondscheinnacht aus dem Gebüsch, aus dem Boden der Heimat erhoben hatte?

»Dem Manne ein Schwert, dem Weibe das schwarze Brot der Frau Klaudine!« murmelte der Wanderer, dessen Pfad sich durch so viele Trümmer und Täuschungen wand.

Da war die Höhe, und wieder lagen die dunkeln Täler zu den Füßen Leonhard Hagebuchers; aber er trug jetzt nicht mehr eine Kornähre in der Hand.

»Krieg! Krieg!« rief er laut hinaus. »Krieg für alle, denn wir wollen ihn alle! Die Täler sollen sich regen und die Höhen von Waffen leuchten, und wer die Schlacht überlebt, dem soll's erlaubt sein, sich zu wundern über den Sieg.«

Er horchte, als ob jetzt der Klang von tausend Trompeten die[227] Nacht durchbrechen müsse, und als es nun doch still blieb, dachte er von neuem an den alten wunderlichen Vater, und wie er denselben so sehr geärgert und in seinen einfachsten und natürlichsten Erwartungen getäuscht habe. Dadurch wurde er wieder schneller vorwärts getrieben, bis der Brunnen, aus welchem er vor einem Jahre als ein ganzer Narr und ein halber Verliebter trank, an der Landstraße vor ihm rauschte. Damals war er, wie wir wissen, längere Zeit niedergesessen, um sich über die neu hervorbrechenden Quellen der Hoffnung, des Lebensmutes zu freuen; diesmal hielt er bloß einen flüchtigen Augenblick an, um wie in jener Sommernacht von dem klaren Strahl zu trinken. Als er sich aufrichtete, lächelte er doch wieder, trotz allem, was ihn bedrängte. Und so wandelte er für der und gab in Gedanken seinem armen Freunde, dem träumenden Schneider Felix Täubrich, genannt Täubrich-Pascha, von allen Empfindungen, Gefühlen, Worten und Handlungen des heutigen Tages Bericht, bis er den ersten Bumsdorfer Hahn krähen hörte. Damit versanken alle Gestalten, die außerhalb des Vaterhauses in seinem Gesichtskreis sich bewegten, selbst die der Frau Klaudine und des Herrn van der Mook. Die Familie trat zum erstenmal wieder ganz und gar in den Vordergrund, und naturgemäß mußte jeder Streit und Kampf für und um die eigene Existenz oder die anderer aufhören; denn es lag ein Sterbender oder ein Toter in der Familie, und die Toten verstehen es, Stille zu gebieten. –

Der Hahn krähte, aber er bedachte sich, und indem er nach der Uhr zu sehen schien, schloß er den Schnabel, ehe er seinen Weckruf vollständig hervortrompetet hatte. In den warmen Ställen regten sich die Kühe, und ein Gaul schien unter einem schweren Traum zu leiden und wurde von einem erbosten schlaftrunkenen, fluchenden Knechte zur Ruhe verwiesen. Mitternacht war kaum vorüber, als der Wanderer am Ende der Dorfgasse das einzige Licht des Dorfes, das Licht in der Kammer seiner Eltern, zu Gesicht bekam, und im heftigsten Laufe erreichte er das Haus.

Der sonst so zierlich geglättete Kies in den Wegen des Gartens war von vielen Fußtritten zerstampft, ja sogar der Buchsbaum,[228] welcher die Beete einfaßte, der Stolz des Alten, war an mehreren Stellen niedergetreten. Die Haustüre stand offen, und schwer fiel dieses deutlichste Zeichen, daß der Herr des Hauses nicht mehr über dem Seinigen wache, dem Sohne auf das Herz.

Die Schlüssel lagen nicht mehr unter dem Kopfkissen des Steuerinspektors Hagebucher; eine in Schmerz und Schrecken zitternde Hand hatte sie unter dem sorglichen, sorgenvollen, ängstlichen Haupte hervorgezogen – das mächtigste Königreich kann auf die gleiche Weise zerfallen oder in die Gewalt eines andern übergeben.

Auf dem Flur stieß Leonhard auf einen feuchten Mantel und einen Mann drin, auf den Reichsvikar des Hauses Hagebucher, den Vetter Wassertreter, der soeben einen Erfrischungslauf durch den Garten und das Dorf gemacht hatte, jetzt den Afrikaner mit einem leisen »Wer da?« empfing, ihn sodann in höchster Überraschung in die Arme schloß, um ihm das ewige, trostlose »Zu spät!« zuzuflüstern.

Wie die Frau Klaudine wußte auch er sich dieses plötzliche Erscheinen Leonhards nicht zu erklären; aber noch war die Zeit für solche Erklärungen nicht gekommen.

»Gegen neun Uhr ist er gestorben«, sagte er. »Herrgott, welch ein Trost, daß du da bist! O Leonhard, ich, ich habe ihn auf dem Gewissen, und wenn er auch einen schönen Tod hatte, so verzeihe ich es mir doch mein Leben lang nicht, ihm dazu verholfen zu haben. Willst du dich erst fassen, mein Junge, oder soll ich dir meine Beichte auf der Stelle ablegen?«

»Was macht die Mutter? Wo ist die Schwester?« fragte Leonhard, die eigentümliche Selbstanschuldigung des Wegebauinspektors wenig beachtend.

»Sie sind natürlich außer sich!« rief der Vetter Wassertreter. »Aber auch sie wird deine Ankunft unmenschlich trösten.«

Er öffnete dem Afrikaner die Tür der Wohnstube im untern Stockwerk des Hauses und führte ihn in dieses Gemach, worin vordem jener große Familienrat unter dem Vorsitz der Tante Schnödler gehalten wurde.

»Ich will das Kind rufen. Die Alte sitzt natürlich neben dem[229] Alten und will nicht davon weichen. Wärme dich, wenn du es kannst, und mache dem armen kleinen Mädchen das rechte Gesicht, sie hat es nötig.«

Der Vetter zog leise die Tür hinter sich zu, und Leonhard stand in dem dunkeln Zimmer, in welchem noch ein letzter warmer Hauch des erkaltenden Ofens schwebte. Die Uhr, welche der Vater noch aufgezogen hatte, setzte ihren Weg durch die Zeit auch jetzt in ihrem Winkel fort; der runde Tisch in der Mitte des Zimmers stand noch an seiner Stelle, und als der Sohn des Hauses an demselben einen Stützpunkt suchte, stieß er mit der Hand an die Schnupftabaksdose des Alten und erschrak sehr darüber. Der Raum war so voll von Gespenstern wie in der vergangenen Nacht die Stube des Leutnants Kind, und der Spuk von Nippenburg und Bumsdorf zupfte kaum weniger an den Nerven als der von Wallenburg und der Residenz. Dazu durchfröstelte jetzt den Wanderer am Ziel seines Weges das erste Gefühl der Übernächtigkeit und Erschöpfung im vollsten Maße; er seufzte tief, aber er wagte nicht, einen Stuhl heranzuziehen und sich zu setzen. Mit geschlossenen Augen und übereinandergeschlagenen Armen lehnte er an dem Tische, bis Lina mit einem Lichte in der Hand hereinschwankte und ihr bleiches, entsetztes, tränenüberströmtes Gesicht an der Brust des Bruders verbarg.

»Der Vater, der arme Vater, der Vater ist tot!« Mehr vermochte sie nicht hervorzubringen; aber Leonhard Hagebucher hätte nun doch vielleicht manchen Regentag seines Lebens hingegeben, wenn er dafür in dieser Stunde nur einige solcher erfrischenden Tränen, wie das junge, zitternde, furchtsame Ding in seinen Armen weinte, hätte eintauschen können. Er hatte zu lange in der Fremde und in der Heimat unter den Wil den gelebt und hatte von manches Menschen Tode gehört oder gar ihn sterben sehen, um bei solcher Gelegenheit noch über das köstliche Naß verfügen zu können.

Dafür sprach er aber um so besser und verständlicher leise, schmeichelnde Trostesworte zu der kleinen Trostlosen und trug sie dann mehr, als daß er sie führte, die Treppe hinauf, zu der alten Frau.[230]

»Ach, das ist ein so großes Grauen! Es ist mir so sehr fürchterlich, und ich schäme mich, denn ich habe ihn doch so liebgehabt und habe ihn so lieb –«

»Wo ist der Vetter, mein Herzchen?« fragte der Bruder.

»Auch dort drinnen bei der Mutter und – und dem Vater.«

»Ich schicke ihn dir heraus. Sei ruhig; wir müssen nun recht wacker zusammenhalten. Mein armes Kind, alles wird ja zu seiner Zeit zu einem Ding, welches anfängt: Es war einmal! Fasse dich, Lina, auch diese böse Nacht wird vergehen; es ist übrigens kein Unrecht, Respekt vor den Toten zu haben, sie fürchtet man nur dann nicht mehr, wenn man anfing, die Lebenden sehr zu fürchten.«

Mit zärtlicher Sorglichkeit setzte er nun die Schwester auf einen Stuhl, welcher vor der Kammer der Eltern stand, und den Leuchter zu ihren Füßen nieder, dann trat er ein in das Sterbegemach, winkte dem Vetter Wassertreter hinaus und faßte darauf sanft die alte Frau neben der Leiche in die Arme, und wenig läßt sich über dieses Wiedersehen, diese traurige Begrüßung sagen: der alte stumme Herr spielte eben die Hauptperson dabei, und der war schon zu Lebzeiten nicht auf viele und unnötige Worte eingerichtet.

Da lag er! Durchaus nicht gelber und verdrießlicher als in den heitersten und behaglichsten Momenten seines Daseins, aber jedenfalls ebenso gelb und verdrießlich.

»Er war so gut, so gut!« schluchzte die alte Dame. »Vierzig Jahre haben wir miteinander gehauset und Leid und Freude miteinander getragen. Es weiß niemand so als ich, wie gut er war, wenn man ihm seinen Willen tat. Nimmer hat er mir ein böses Wort gesagt, und nun liegt er da. Vorgestern noch beim Kaffee hat er alles eingerichtet, wo die Bohnen gepflanzt werden sollten und wo der Salat und die Erbsen, und es war ganz gegen meine Meinung, aber ich habe sie wieder einmal nicht durchgesetzt, und das ist mein einziger Trost in dieser Stunde. Tot, tot, ja, ihr habt gut sagen, es sei so; ich muß mich noch langehin besinnen, ob es wirklich wahr ist und ob es wirklich möglich sein kann. Vierzig Jahre, vierzig Jahre, und nun, als ob es alles nichts gewesen[231] sei! Ich kann nicht dran glauben! O Leonhard, ich freue mich, daß du gekommen bist, aber helfen kannst du deiner alten Mutter auch nicht, der kann niemand helfen.«

»Was soll aus dem Hause und allem, was dazu gehört, werden, wenn du es und uns aufgeben willst, Mama?« fragte der Sohn mit rührender Listigkeit. »Es geht jetzt schon alles drunter und drüber, wie wird das erst morgen aussehen! Da ist denn doch noch ein Trost, daß der Vater den Jammer und die Verwahrlosung nicht mehr sehen wird, denn es würde ihn sehr ärgern. Solch ein akkurater Mann! Ich glaube sicher, Mama, du tätest ihm nun grade die rechte Liebe an, wenn du dich zusammennähmest und an seiner Stelle Ordnung hieltest und alles, was ihm am Herzen lag, nach seiner Weise versorgtest! Ich glaube, du mußt dich jetzt in jeder Art schonen, daß du Kräfte behältst; du weißt, spaßen ließ er nicht mit sich, und daß er einmal eine ganz genaue Rechenschaft verlangt, das ist mir unzweifelhaft, wie ich ihn kenne.«

»Das wird er, mein Kind! Jaja, ich sehe es wohl ein, und ich will auch tun, was menschenmöglich ist; aber ich fürchte mich schon jetzt, an seine Schiebladen und Kasten und Rechenbücher zu rühren: er war so sehr eigen.«

»Wer sollte es aber sonst ihm zu Dank machen? O Mama, jetzt bringe ich dich zu der armen Lina, und du mußt mit ihr zu Bett gehen. Er paßt uns ganz sicher auch von da oben auf die Finger, und die Verwandtschaft wird ebenfalls mit dem frühesten kom men, ihm die letzten Ehren anzutun, und nichts ist vorgerichtet. O Mama, was soll daraus werden, wenn du uns und ihm nicht bei Kräften bleibst?«

Dieses war die rechte Art, zu trösten und zu kräftigen, sie führte also auch besser zum Zweck als hundert weinerliche Sentimentalitäten. Es gelang, die alte Frau aus der schwülen Kammer zu entfernen und sie unter Beihülfe des Wegebauinspektors der Schwester zu übergeben. Nachdem dieses geschehen war, öffnete Leonhard Hagebucher mit einem tiefen Seufzer die Fenster und ließ die winterliche Luft hinein in das dumpfige Sterbegemach. Nun krähten die Hähne von neuem, aber dieses Mal mit[232] vollem Rechte, es war Morgen geworden. Der Vetter Wassertreter trat wieder ein und sagte:

»Gottlob, endlich haben sie Vernunft angenommen und sind ins Bett gekrochen, beide in ein Bett und in den vollen Kleidern. Nun werden sie sich in den Schlaf weinen, aber derselbe soll ihnen nichtsdestoweniger ebenso gesegnet sein wie uns dieser frische Nordwind. Ah, welche Wohltat!«

Die beiden Männer standen jetzt wieder neben dem Toten und betrachteten ihn schweigend.

In tiefem Grame dachte Leonhard daran, mit welchem Glanze er so oft während seiner Gefangenschaft dieses Haupt umkleidet gesehen hatte und wie nun nicht eine seiner würdigen und schönen Phantasien zur Wirklichkeit geworden sei. Er grübelte aber, zu seiner Ehre sei's gesagt, nicht seiner selbst wegen darüber nach: ein unendliches Mitleid mit dem alten Mann, der aus so tausenderlei kleinen und nichtigen Kümmernissen und Sorgen sein Leben spann, beherrschte ihn ganz und gar und regierte alle seine Gedanken. Er quälte sich bitter damit, Selbstvorwürfe aus allen Winkeln seiner Brust zusammenzuscharren; aber wie er sich auch anstellte, der Alte tat's nicht, auf keine Weise paßte er als weißlockiger Patriarch auf die Bank unter den Lindenbaum, um weise Lehren und würdige Lebenserfahrungen einem ehrfurchtsvollen, lauschenden Kreise mitzuteilen.

»Laß es gut sein, Leonhard«, sagte endlich der Vetter, »wir wollen nicht bloß den Frauen gute Lehren geben, wir wollen selber uns danach halten.«

»Jaja«, sprach Leonhard traurig, »das werden wir wohl müssen. Jetzt aber –«

»Jetzt willst du meine Beichte und wünschest zu erfahren, wie das Unglück seinen Weg ins Haus fand. Leider kann ich immer nur wiederholen, daß ich einzig und allein die Schuld trage und mir grad, weil alles in der besten Absicht geschah, die schlimmsten Gewissensskrupeln mache.«

»Ich habe das wunderliche Wort bereits gehört: was soll es bedeuten?«

»Nichts weiter, als daß ich mein Versprechen hielt und ihn[233] mit der Menschheit aussöhnte. Seine Natur war jedoch nicht darauf eingerichtet, und so – so hast du denn die Folgen davon hier vor dir.«

»Ach, Vetter, laß uns jetzt nicht einander Rätsel aufgeben.«

»Das ist wahrhaftig nicht meine Absicht; im Gegenteil, ich werde die Geschichte dir so klar wie möglich zu Protokoll geben. Es ist mir ein wahres Bedürfnis, mir die Hände zu waschen und mich schlafen zu legen. Also höre; ich habe es glorreich zustande gebracht!«

»Was, was?«

»Den Fackelzug und die Stadtmusik und die Deputation aus dem Pfau und die Reden und die Abbitte des Onkel Schnödler samt dem dreimaligen Tusch und Vivat. Es war gelungen, ungemein gelungen, und der Vetter Wassertreter durfte sich wohl die Hände reiben, wenn der Alte mir nicht zum Schluß, als alles in schönster Ordnung war, diesen Streich gespielt hätte. Ich traute ihm zwar vieles zu, aber das nicht!«

Ein großes Licht ging dem Afrikaner auf: von neuem betrachtete er kopfschüttelnd das verrunzelte, verkniffene Gesicht auf dem Kopfkissen, unterbrach jedoch durch keine weitere Bemerkung den betrübten Vetter, und dieser fuhr im kläglichsten Tone fort:

»Wie habe ich fast seit deinem Fortgehen von Nippenburg gearbeitet, intrigiert und gewühlt! Kein Maulwurf auf zwanzig Meilen in der Runde hätte seine Sache besser gemacht. Welche Hebel habe ich in Bewegung gesetzt! Ganz Nippenburg hat mir helfen müssen, ohne es zu ahnen. Die Menschheit hat in mir einen ihrer größten Triumphe gefeiert. Ein Kunstwerk, ein wahres, richtiges Kunstwerk; das lasse ich mir auch in dieser Stunde noch nicht nehmen! Und eines seligen Todes ist er auch verblichen, das ist mein zweiter Trost, Leonhard, und wenn ich wüßte, wie jener alte Grieche hieß, dem man zurief: Stirb, du hast nichts mehr zu wünschen, so würde ich dir ein recht passendes Zitat zu kosten geben. Ach, liebster Herrgott, auf dem Markte in Nippenburg formieren wir uns vorgestern bei einbrechender Dämmerung, wie ich es dir versprach – sämtliche[234] Honoratioren, die Schützengilde, der Gesangverein und natürlich alles Volk, das abkommen kann, und du weißt, wir können alle abkommen in Nippenburg. Bedeckter Himmel, windstilles, recht angenehmes Wetter, sämtliche holde Weiblichkeit an den Fenstern, in den Haustüren oder die Häuser entlang! Banner und Fahnen, kurz, alles, was dazu gehört! Jedermann sein eigener Fackelträger, jeder Nippenburger Philister mit seinem eigenen Lichte – – wundervoll!

O Leonhard, es ist kein Unterschied zwischen den Gefühlen Manzonis in der Ode über den fünften Mai welche ich ans der Übersetzung meines Goethe kenne, den ich von hinten kenne, und meinen eigenen Gefühlen in betreff deines Vaters! Da liegt er still und stumm, er, um den vor so kurzer Zeit noch eine so große Bewegung stattfand! – Wir sendeten drei auserwählte Männer zu der Tante Schnödler, nämlich den Bürgermeister, den Kreisdirektor und den Steuerrat, und ließen ihn holen, nämlich den Onkel Schnödler, und führten ihn dicht hinter der Musik nach Bumsdorf. Und die Musik hatte auf meine spezielle Rekommandation den Einzugsmarsch aus dem ›Tannhäuser‹ für die große Gelegenheit einstudiert; aber sie brachte ihn leider nicht zustande, sondern brach schon an der nächsten Ecke damit zusammen und fiel natürlich wieder in die alte Leier: ›Heil dir im Siegeskranze‹, ›Freut euch des Lebens‹, ›Ich bin ein Preuße, kennt ihr meine Farben‹, und sonstige Angewohnheiten. Einerlei, es ging doch; am Tor wurden die Fackeln angezündet, und wir marschierten mit polizeilicher Erlaubnis für den Ulk nach Bumsdorf, immer mit dem Blech und der großen Pauke voran und dem Onkel Schnödler zwischen mir und dem Steuerrat, hinter den Stadtmusikanten, doch vor dem Liederkranz. Das Dorf ist selbstverständlich bereits auf den Beinen und läuft uns mit Hurra entgegen oder erwartet uns an den ersten Düngerhaufen mit atemloser Spannung. Mit Knecht und Magd und allem, was sein ist, und ebenfalls mit Fackeln rückt der Ritter von Bumsdorf, welchem ich die nötige Instruktion zukommen ließ, aus und dem Alten vors Haus, wo wir in demselben Augenblick unter der Melodie ›Wir winden dir den Jungfernkranz‹ anlangen und[235] mit einem großartigen: Vivat Hagebucher! Es lebe der Herr Steuerinspektor Hagebucher! unsere Gegenwart ankündigen und den Zweck unseres Besuchs eröffnen. Ach, Leonhard, Leonhard, der schlaueste Diplomat geht immer nur so lange zu Wasser, bis er bricht, der feinste Plan hat gewöhnlich doch eine schwache Stelle, an welcher der Erfinder die Schuld trägt und die sich bei besserer Überlegung auch wohl hätte vermeiden lassen. Weshalb instruierte ich dich, mein Junge, nicht wie den Ritter Bumsdorf? Weshalb nahm ich dich nicht mit herüber, daß du zur rechten Zeit hervortreten, die Exaltation zum Abschluß bringen und das benötigte kalte Wasser aufschütten konntest?! Ich kannte doch den Alten lange genug, um zu wissen, daß dein persönliches Erscheinen allem Übermaß der Gefühle den richtigen Dämpfer aufgesetzt hätte, und nie, nie werde ich es mir verzeihen, daß ich nicht daran dachte im Hotel de Prusse. – Nun stehen wir im Kreise um die Haustüre, sämtliche Hauptpersonen voran. Und der Garten ist voll, und die Landstraße ist voll von Menschen und Fackeln, und die Liedertafel hat zuerst das Wort und singt den Gefeierten an:


Wir kommen ihn holen,

Den bie-de-ren Mann,

Den Nippenburg, ganz Nippenburg

Nicht länger missen kann –


und so weiter; der Text liegt bei mir zu Hause, und ich bin verantwortlich für ihn, aber nicht für die Melodie, an welcher der Kantor Tüte von der Hauptkirche schuld ist. Tusch und Rede des Bürgermeisters, welcher sagt, daß wir hier sind im Namen der Stadt und der Gesellschaft im Goldenen Pfau und daß wir es uns zur Ehre anrechnen, hierzusein, worauf er auf die Nase fällt, wie die Musik mit meinem Tannhäusermarsch, und ich mit dem Onkel Schnödler für ihn eintrete. Ich mit dem Onkel Schnödler! Ich als Redner und Opferpriester und der Onkel als bekränztes Opfervieh. ›Vetter‹, spreche ich, ›Vetter, hier sind wir, aber nicht allein im Namen der Stadt Nippenburg und des Goldenen Pfaus, sondern auch im Namen der ewigen Gerechtigkeit, und hier bringe ich das Lamm, welches so unverschämt und[236] hinterlistig den Bach trübte. Sagen Sie ein Wort, Schnödler, oder nein, sagen Sie kein Wort, sondern lassen Sie mich reden, denn jeder weiß schon, was für ein loses Maul Sie haben. Vetter Hagebucher, mit Flöten und Fackeln, mit Pauken und Posaunen legen wir den Onkel und uns Euch zu Füßen und befehlen ihn Eurer grimmigsten Rache, uns aber Eurem innigsten Wohlwollen sowie Eurer klarsten Überlegung. Sie sehen, Vetter Steuerinspektor, wieviel Ihren besten Mitbürgern an Ihnen gelegen ist, lassen Sie also auch Ihnen an uns gelegen sein und kommen Sie wieder in den Pfau. Soeben kehre ich aus der Residenz zurück; o wären Sie mit mir gegangen, Vetter, Sie hätten erfahren können, wie man Ihren Jungen in der großen Welt schätzt und ehrt. Fragen Sie nur den Ritter Bumsdorf, ob es nicht wahr ist! Schönheit und Adel, Reichtum und Bildung, alles bezahlte seinen Gulden Eintrittsgeld, um ihn zu sehen, zu hören und sich über ihn zu verwundern. Er ist doch ein Stolz für Sie und Nippenburg, und er ist es um so mehr, je mehr man ihn verkannte! Allen Sündern sei vergeben, Vetter Hagebucher, hier haben Sie den Onkel Schnödler, nehmen Sie ihn hin, nehmen Sie uns alle hin – einen Kuß der ganzen Welt – das festliche Mahl, das Mahl der Versöhnung wartet im Pfau, mit offenen Armen wartet der Ehrensessel – Hagebucher, Hagebucher senior, Würdigster aller Steuerinspektoren, da wir hier denn einmal so fröhlich beisammen sind, umarmen Sie in mir ganz Nippenburg, außer dem Onkel Schnödler, den Sie noch ganz speziell umarmen mögen!‹ Musik, Tusch, donnerndes Vivat! Die Schützengilde präsentiert das Gewehr, der Liederkranz gibt seinen Gefühlen höchst unmotiviert durch das Lied ›Wer hat dich, du schöner Wald‹ Ausdruck, und der Alte, der Alte hängt an meiner Schulter und schluchzt ›O Vetter, das ist eine gar zu große Freundlichkeit!‹ Ich drehe ihn, ehe er recht zur Besinnung kommt, hinunter von der Treppe in den Kreis der begeisterten Abderiten. Man schwenkt ein in die Marschlinie, und Arm in Arm mit dem Onkel Schnödler, unter Jubelruf, Trommelwirbel, Drommetenklang, begossen von dem roten Schein von hundertundfünfzig Pechfackeln, marschiert der Alte mit uns zurück nach Nippenburg,[237] hinein in den glänzend illuminierten Goldenen Pfau, und die Alte und Lina weinen uns von der Gartentüre aus die hellen Freudentränen nach. Ach, Leonhard, weshalb warest du nicht bei uns, weshalb hatte ich dich nicht mitgenommen nach Nippenburg? Wo warest du, als er sich in seinem Sessel zurücklegte und der Stadtphysikus, der ihm gegenübersaß, bestürzt aufsprang, die Tischmusik abbrach und der Stadtchirurg, obgleich er sein Besteck bei sich trug und seine Lanzette schnell genug brauchte, doch den Kopf schüttelte?«

»Ich ließ mir von dem Herrn van der Mook und dem Leutnant Kind Geschichten erzählen«, murmelte Leonhard: allein der Vetter fuhr in aller Hast fort:

»Wir brachten ihn zurück in sein Haus, diesmal ohne Fackeln, Schützengilde und Stadtmusik, und der Herr von Bumsdorf lief vorauf zu den Weibern. Gestern, den ganzen Tag, hat er still gelegen, bis gegen neun Uhr am Abend. Bei Gott, er war doch ein anständiger, wackerer Gesell in seiner Art, und es tut mir leid, sehr leid, und viel, viel würde ich drum geben, wenn ich ihn ruhig in seinen Grillen und Schrullen hätte sitzenlassen. Ach, Leonhard, das habe ich dir nicht versprochen, als ich am Dienstag vor dem Hotel de Prusse in den Wagen stieg und dir versprach, den Alten herumzubringen!«

Quelle:
Wilhelm Raabe: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Band 4, Berlin und Weimar 1964–1966, S. 227-238.
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