Zwölftes Kapitel

[113] Der blöde Hans, der Simpel des Gutshofes und des Onkels Bumsdorf auserwählter Liebling und Sündenbock, humpelte in der heiligen grauen Frühe richtig mit der Korrespondenz seiner Gebieter und Gebieterinnen gen Nippenburg, und es bekam im regelrechten Verlauf der Stunden der Dynast seine Zeitung und die Frau Majorin Emma in der Hauptstadt das wilde, tränenreiche Schreiben Nikolas, auf welches sie nicht antworten sollte Was sie also darüber dachte, in welcher Weise sie ihren Major[113]

an ihrer Angst und ihrem Zorn teilnehmen ließ, bleibt uns daher fürs erste ein Geheimnis. Später werden wir schon erfahren, wie nicht nur die Frau Emma, sondern auch manche andere Leute sich zu diesen Angelegenheiten stellten; aber noch hält uns die Provinz ein ganzes Kapitel hindurch, und wir haben nicht die Absicht, gleich dem Fräulein von Einstein die Augen zuzukneifen, die Zähne aufeinanderzusetzen und uns kopfüber in den Strom zu stürzen, ohne zu wissen, wohin die Wellen uns tragen werden. Wir gehen langsam ins Wasser, nachdem wir uns vorher sorgsam abkühlten; wir halten unsere Kräfte zusammen, denn wir kennen unsere Aufgabe und wissen, daß es leichter ist, sich treiben zu lassen, als jene Stelle am andern Ufer, nach der wir vor Beginn des Wagnisses so sehnsüchtig hinblickten, tief atmend, aber siegreich zu erringen, gar nicht zu gedenken, daß wir den Kurs des Fräuleins von Einstein wie aller andern fest dabei im Auge behalten müssen.

»So! Das ist gradso gut, als ob du zum zweitenmal das Mondgebirge zwischen dich und das süße Vaterland geschoben hättest!« hatte der Vetter Wassertreter, den Riegel seiner Türe vorschiebend, zu dem Afrikaner gesprochen, und es war in der Tat so. Zum andern Male befand sich Leonhard Hagebucher auf dem besten Wege, um zu einem Mythus für Nippenburg und Bumsdorf zu werden: Dschebel al Komri hatte ihn wiederum in seine Schatten aufgenommen, und nicht viele Leute konnten sagen, was aus ihm geworden war.

Nippenburg befand sich, seit jener verhängnisvollen Katastrophe im Goldenen Pfau, noch immer in einer dumpfen Aufgeregtheit. Seltsame Gerüchte über spätere Vorgänge im Hause des Steuerinspektors zu Bumsdorf durchkreuzten einander, es bildeten sich Parteien und Gruppen, welche die Ereignisse von sehr verschiedenartigen Standpunkten aus betrachteten und besprachen. Der Onkel Schnödler, zu Boden gedrückt durch die qualvolle Last seines bösen Gewissens und die auf seinem silberhaarigen Scheitel immer mehr sich häufende allgemeine Verachtung, wankte durch die Gassen des Städtchens und suchte, gleich andern, viel klügern Burschen und größern Philosophen,[114] auf den Pflastersteinen und in den Mienen der guten Freunde die ihm in so schnöder Weise abhanden gekommene stupide Beschaulichkeit des Daseins vergeblich. Leonhard Hagebucher war und blieb verschwunden, und nur das Gerücht konnte ihn dann und wann erhaschen. Man wollte ihn in dunkler Nacht an den Häusern hinschleichend ertappt haben; an einem sehr nebeligen Morgen hatte er aus dem Fenster des Vetters Wassertreter geniest, und die Tante Klementine Mauser, die gegenüber gute Wache hielt, wollte »zur Gesundheit!« gesagt haben. Auf fernen Bergen und in den Wäldern der Umgegend sollte er häufig umherstreifen, und daß er in Gesellschaft des Wegebauinspektors die fürstliche Landstraße nicht selten unsicher mache, war durch nicht ganz unglaubwürdiger Zeugen Mund den Bürgern und Bürgerinnen von Nippenburg zur Gewißheit gemacht worden. Wie er aber seine Aus- und Eingänge bewerkstelligte, ohne von Hunderten gesehen und kommentiert zu werden, blieb ein Rätsel, erschien jedermann als eine unaussprechlich heimtückische afrikanische Wüstenpraxis und zeugte jedenfalls von einem sehr verstohlenen Wesen und einer großen Kunst, »hinter den Leuten wegzulaufen«. Laufen wir ebenfalls hinter den Leuten weg.

Wie immer tropfte mit leisem Klingen das Wasser, welches das ferne geschäftige, brausende, sausende, pfeifende und rasselnde Fabrikgetriebe für die Katzenmühle noch übrigließ, über das schwarze, nutzlose Rad, und jeder reinlich perlende Tropfen war ein Flüchtling, der nur mit Mühe seine Reinheit und Klarheit vor den nützlichen, aber schmutzigen und erbarmungslosen Mächten und Kräften da droben auf der Hochebene gerettet hatte. Die Bewohnerin der Mühle, die Frau Klaudine Fehleysen, lag bleich und müde auf ihren Kissen und horchte dem Tropfenfall, wie ein Kranker dem Ticken seiner Uhr horcht. Die Frau Klaudine war ganz allein mit dem leisen Spiel des Wassers; die Magd war ins Dorf gegangen, um Brot zu kaufen, und der Spitzhund vom Bumsdorfer Gutshofe hatte tiefer im Walde auf einem Spaziergange einen Igel getroffen und natürlich fürs erste keine Zeit, an die Mühle, die Herrin und seine Pflicht zu denken.[115]

Die Frau Klaudine war so oft, so lange und so durch ihren eigenen tiefsten Willen allein, daß sie gewöhnlich kaum noch ein Bewußtsein ihrer Einsamkeit besaß; aber heute mußte sie unwillkürlich wieder einmal darüber nachsinnen, und diese Gedanken hätte doch weder die tapfere, treue Christine noch der redliche, biedere Spitz des Onkels Bumsdorf von ihrer Seite fernhalten können. Sie kamen, wenn auch nicht gefürchtet, so doch ungebeten zu Unserer Lieben Frau von der Geduld, und sie kamen wie in dem hellen Sonnenstrahl die Sonnenstäubchen und tanzten ihren Tanz, grade weil der Tag schön und der Himmel blau war, grade weil die Sonne schien und es eine Sünde gewesen wäre, das Fenster zu schließen und die Vorhänge zuzuziehen. An einem stürmischen Tage voll dunkel treibenden Regengewölkes hätten sie sich vielleicht ferngehalten und nicht gewagt, in den Bezirk der Mühle einzudringen: aber, wie gesagt, die Frau Klaudine fürchtete sich zu keiner Zeit vor ihnen, und zu jeder Zeit hatten sie freien Eintritt, wenn sie kommen wollten.

Andere Frauen können in solchen Stunden geheime Schubfächer aufschließen und mit einem Schoß voll greifbarer Angedenken niedersitzen zum weinerlichen oder heitern Verkehr mit der Vergangenheit; die Frau Klaudine hatte bei ihrer Flucht in die Wildnis nichts von derartigen Zeichen und Symbolen glücklicher und unglücklicher Augenblicke oder Lebensepochen gerettet. Sie hatte sowohl das Stammbuch ihrer Mädchenjahre wie den Brautkranz und die ersten Schuhe ihres Kindes verloren: und hundert andere Dinge, welche sie gleich allen andern Frauen einst unter ihren teuersten Kleinodien fest verwahrt hielt, mußte sie fremden Menschen zurücklassen und wußte nicht, wer sein Spiel damit treiben durfte und in welchem Winkel sie verkamen.

Die Frau Klaudine hielt heute eine Musterung über alle diese Schätze, welche nicht mehr existierten. Keiner der Namen, die in jenem Album standen, war ihrem Gedächtnis entfallen; wenn sie die Augen schloß, vernahm sie deutlich das lange verklungene Summen und Kichern und – da – da war der hübsche, bunte, leichtherzige, leichtsinnige Kreis: Assuérus, roi de Perse, Klaudine – Esther, reine de Perse, Rosalie – Mardochée, oncle[116] d'Esther, Juliane – Aman, favori d'Assuérus, Madame Euphrosine Babillot aus Lausanne in der französischen Schweiz, und so weiter durch den ganzen Jean Racine. Ah, es ist etwas, in der Katzenmühle auf den leisen Fall des Wassers und jene Stimmen zu horchen:


Courons, mes sœurs, obéissons.

La reine nous appelle:

Allons, rangeons-nous auprès d'elle!


Aber der Kranz der Freundinnen war zerrissen und zerstreut wie jener andere Kranz, welchen Klaudine an ihrem Hochzeitstage trug; die winzigen roten Kinderschuhe wurden in den Kehricht geworfen wie der rostige Heckpfennig und der unsichtbarmachende Däumling: niemand kannte ihren Wert. Die Frau Klaudine in der Mühle erinnerte sich an manche stille, liebliche Stunde, welche sie vor Jahren in ihrem reichen, stattlichen Hause, eingewiegt von allen Bequemlichkeiten des Lebens, über diesen und so vielen andern Schätzen verträumte. Sie dachte aber auch daran, wie sie, so oft und grundlos verstimmt, verdrießlich, mißgelaunt, unter denselben Schätzen gehockt habe, und dann dachte sie an den plötzlichen Sturmwind, der uns erfaßt und zur Seite schleudert, ehe wir nach einem Halt greifen können, der unsere Mauern eindrückt, unser Dach abdeckt, unser Eigentum, alles, was uns lieb und wert ist, in alle Welt hinauswirbelt und uns nichts übrigläßt von dem, was wir uns bis in den Tod gesichert hielten.

Die Frau Klaudine fürchtete sich auch vor diesen Erinnerungen nicht mehr; auch ihnen blickte sie geduldig ins Gesicht, und sie versanken wie in einem tiefen stillen See und erregten keine Kreise auf der lichten ruhigen Fläche. Eine Hoffnung genügte der Greisin, und in ihr trug und entbehrte sie alles, was der Menschen Leben sonst ausmacht. Außerhalb ihrer Klausur mochte man davon reden wie von einer fixen Idee, einer leichtern Form des Wahnsinns: das Weib, welches alles übrige ohne Zögern aufgegeben hatte, ließ sich das eine nicht entreißen.

Horch, eines Pferdes Hufschlag im Walde! Die Einsiedlerin[117] in der Mühle richtete sich lauschend auf und beugte sich vor in ihrem Lehnstuhl.

›Da ist sie! Da kommt sie!... Die großen Wasser, die glänzenden Ströme rauschen fernhin, mir gehören nur die einzelnen verlorenen Tropfen zu; aber sie kommt, und es wäre kein Wunder, wenn mein Bach von neuem erwachte und sich mit dem alten lustigen Sprunge vom Felsen stürzte und selbst mein arm zerbrochen Rad dort aus dem Schlafe weckte. Sie kommt, und der Weg lacht unter den Füßen ihres Rosses. Sie kommt wie meine Jugend – ach weh, nein, nein! Nicht wie meine Jugend; soviel Glück wie mir ist ihr nicht gegeben; Schmerzen und Ärgernisse bedrängen ihr süßes Herz schon in der Frühe, und niemand kann ihr helfen, sich derselben zu erwehren. Spring an, Prospero, aber hüte dich, trage sie sicher zu meinem Garten! – Da ist sie willkommen, Tochter, willkommen, mein armer, wilder Edelfalk, willkommen, Nikola!‹

Im nächsten Augenblick tauchte der Kopf des weißen Engländers auf hinter den letzten Büschen des Waldes und den Stockrosen des Mühlgartens, der Zügel war um den gewohnten Ast geschlungen, und das Fräulein von Einstein kniete wieder zu den Füßen der Frau Klaudine; aber die Greisin erschrak heftig, als sie der jungen Freundin in das Gesicht blickte, und sie rief:

»Wie heiß! Wie wild, wie aufgeregt, Kind?! Was ist geschehen, was hast du jetzt, o wirst du nie lernen, Ruhe zu halten, willst du dein ganzes Leben auf solche Weise durchstürmen?«

Nikola, schluchzend und nach Luft ringend, brachte anfangs nichts weiter als das Wort: Mutter! hervor und wiederholte es leise und immerfort, bis sie plötzlich sich aufrichtete und rief:

»Nein, nein – laß deine Hand von meiner Stirn, halte mich nicht mit deinen Armen; du weißt nicht, was ich tat und was ich dir sagen werde! Blicke mich nicht an, wende dich fort; sie haben gewonnen, sie haben ihren Willen, und ich habe ihnen alles gegeben und nichts mehr für dich und mich übrigbehalten. Ich umklammere dich hier, meine ganze Seele ist bei dir, und doch ist nun keine Gemeinschaft fernerhin zwischen uns beiden –[118] stoß mich von dir, heiße mich gehen, ich habe kein Recht mehr in deinem Hause und deinem Herzen!«

Die Frau Klaudine war sehr bleich geworden; auch ihre Lippen zitterten; aber sie faßte sich doch schnell gegenüber dieser ungestümen Naturgewalt, die hier auf sie einstürmte. Sie hielt die fiebernde Nikola fest und zog sie wieder herab auf die Knie, und als nun das helle, laute Weinen unaufhaltsam hervorbrach, sah sie wohl längere Zeit hindurch starr und wild ins Weite, sagte dann aber still und milde:

»Sei ruhig, mein Kind, fasse dich. Es konnte ja niemand ändern, es mußte ja so kommen. Was fürchtest du dich vor mir, habe ich nicht Zeit gehabt, über das, was werden mußte, nachzudenken? Es wäre freilich nicht gut, wenn es unvorhergesehen, unvorbedacht mich überraschte; aber die Tage sind lang in der Katzenmühle und die Nächte oft noch länger; es kommt so leicht nichts mehr aus dem Säkulum über die alte Frau in der Mühle, dessen Fußtritte nicht weit vorauf durch den Wald schallten. Du bringst mir heute wahrlich Trauer und Freude durcheinander; aber ich segne dich in deinem Willen und in deiner Unterwerfung. Du hast dich lange und wacker gewehrt und brauchst dir heute keine Vorwürfe zu machen. Mein liebes Mädchen, auch sie meinen es gut und wollen dir ein weiches, schönes, glänzendes Los und Leben, wie sie es verstehen, bereiten, und sie haben sich lange in Geduld gefügt und auf deine Zustimmung gewartet. Ja, du mußt gehen, und du wirst, wenn nicht glücklich, so doch ruhig und gelassen werden, und einst wirst du an einem Morgen erwachen und dich wundern: dann bist auch du eine alte, alte Frau, und die sengende, bittere heutige Stunde ist nur ein ferner, ferner leiser Klang, und nun denke, was für ein Märchen es sein wird, wenn du dich dann auch der Katzenmühle und der alten Frau Klaudine erinnern wirst. Sei ruhig, liege stille, laß deine Stirn in meinen Händen; denn es tut mir sehr leid und weh, daß ich dich lassen muß! Wenn du nun von neuem in den Kreis deiner Verwandten eingetreten bist, so ertrage die kleinen Schwächen und Nichtigkeiten in Geduld; weißt du, sie fürchten sich eigentlich vor dir – werde eine gute Frau, werde eine gute Frau!... O mein[119] Kind, mein Kind, meine Tochter, weshalb hat das so kommen müssen?!«

»Sie fürchten sich vor mir?!« lachte Nikola bitter. »O nein, sie lieben mich sehr und haben mich deshalb den Kontrakt, der mich an sie bindet, mit meinem Blute unterschreiben lassen. Die Zeit ist um, der Schuldschein ist verfallen – die – die Verlorenen kommen nicht wieder, und meine Gläubiger zucken die Achseln, legen die Hand aufs Herz, und – ich bin, nach dem Wunsche meiner Mutter dort drüben in der Residenz, die Braut Friedrichs von Glimmern. Ja, ich will es versuchen, ihm eine gute Frau zu werden!«

»Was sagst du von den Verlorenen, die nicht zurückkehren können, Mädchen?« rief jetzt die Greisin mit erhobener Stimme. »Du hattest auch ein ander Wort auf der Zunge und hast es nur nicht ausgesprochen. Die Toten kommen nicht zurück, wolltest du sagen und erschrakest und wolltest mich nicht erschrecken. O mein armes Kind, sieh dich um, blicke dorthin; die Verlorenen können doch heimkehren, selbst wenn niemand mehr auf sie wartet. Du mußt freilich jetzt deinen eigenen Weg gehen; aber die Zeit meines Hoffens und Harrens ist noch nicht um; der Mutter darf keiner die Frist zum Warten auf ihr Kind nach Stunden, Tagen und Jahren zumessen. Sieh dorthin, Nikola, o ich fürchte mich nicht vor deinen dunkelsten und tiefsten Gedanken; – es ist mir lange ein Zeichen versprochen, und endlich ist jener in meine Tür getreten, und so wie er wird auch mein Sohn, mein Kind zu mir heimkommen. O Gott, er ist nicht tot, denn das wüßte ich, wie ich jetzt weiß, daß er lebt!«

Nikola von Einstein war der deutenden Hand der Frau Klaudine mit einem schnellen, tränen- und angstvollen Blicke gefolgt. Draußen an der Gartentür neben dem Prospero stand Leonhard Hagebucher, dem schönen Tiere den Hals streichelnd und die Mähne glättend. Er stand in tiefe Gedanken versunken; die Frauen hatten genügende Muße, ihn zu beobachten, und Nikola vorzüglich hatte volle Zeit, sich die Augen zu trocknen und die nötige Fassung wenigstens äußerlich wiederzuerlangen.

Diese letzten Sommertage waren, nicht ohne eine merkliche[120] Veränderung hervorzubringen, an dem Afrikaner vorübergegangen. Die Klausur und die moralische und physische Diät, welche er unter dem Regime des Vetters Wassertreter einzuhalten hatte, schienen bis jetzt trefflich bei ihm anzuschlagen und von großem zivilisatorischem Einfluß auf ihn zu sein. Das Studium des Konversationslexikons tat ihm unbedingt gut; es war wieder ein europäisches Licht in seinen Augen, welches er nicht über das Mittelländische Meer zum Molo von Triest mitgebracht hatte; selbst in den Bewegungen der Hand, die dem Schimmel das Stirnhaar zurechtlegte, zeigten sich Bildung und Gesittung in unzweifelhafter Weise; kurz, das, was der Vetter Wassertreter den »Häutungsprozeß« nannte, nahm einen recht befriedigenden Fortgang, und die neue Epidermis guckte, einem zweiten Ausdruck des Wegebauinspektors zufolge, »recht delikat« hervor.

Jetzt, nach beendeter Unterhaltung mit dem Engländer, wand sich Leonhard Hagebucher vollends aus dem Gebüsch und grüßte die beiden Frauen am Fenster der Katzenmühle. Er kam schnellern Schrittes durch den Garten und verneigte sich aufs neue unter der Tür, indem er seinen arabischen Gruß sprach. Das Fräulein von Einstein neigte stumm das Haupt, die Madam Klaudine aber rief mit herzlichem Ausdruck:

»Willkommen, lieber Sohn! Sie kommen zur rechten Zeit für zwei gar betrübte und bedrängte Leute. Mein Kind hier nimmt soeben Abschied von ihrer alten Freundin, sie muß weggehen von hier, sie wird sich verheiraten, und sie weint aus vielen Gründen.«

»Jaja, es ist so, Mann der Wüste!« rief Nikola, aufgeregt und ungeduldig mit dem Fuße aufstampfend. »Was stehen Sie und starren Sie mich an? Haben Sie kein Wort der Beglückwünschung für mich, können Sie nicht das kleinste Kompliment vorbringen?«

»Nein!« sprach Leonhard mit einer Energie und einer Grobheit, die seinem Charakter alle Ehre machten. »Sie eine Braut, Fräulein von Einstein, Sie einem Manne verlobt? O das ist mir nicht lieb, das ist mir wahrhaftig nicht lieb! Scheitan falle mich an, wenn das nicht schlimmer ist als ein vergifteter Pfeil aus dem Gebüsch – – o Fräulein von Einstein!«[121]

Dieser Ausbruch höchsten Verdrusses war so wahr, so drollig und kam so überraschend, daß beide Damen trotz aller Beklemmung und Betrübnis sich des Lächelns nicht erwehren konnten. Ja, Nikola lachte sogar hellauf, sprang in die Höhe und rief, indem sie dem Afrikaner kräftig die Hand drückte:

»Liebster Freund, ich habe Sie doch verkannt und bitte herzlich um Verzeihung. Seien Sie nicht ungehalten; 's ist keine Geschichte von gestern, das Gespenst geht schon längere Zeit um, darf aber jetzt erst seine Ketten rasselnd der Welt zeigen. Dazu ist's nicht meine Schuld, Herr Hagebucher; ich bliebe freilich lieber in Bumsdorf und säße in der Katzenmühle. Scheitan und alle die übrigen Herrschaften aus Dschinnistan sollen auch über mich verfügen dürfen, wenn ich nicht die Wahrheit rede.«

Herr Leonhard Hagebucher saß auf dem nächsten Stuhle mit den Händen auf den Knien wie Ramses der Große vor seinem Palast zu Luksor und sah mit einer ebenso geistreichen und verständnisreichen Physiognomie auf die beiden Frauen wie jener Monarch auf die Trümmer seiner Residenzstadt Theben. Er erholte sich nur ganz allmählich von seiner Überraschung, und als er endlich seinen Gefühlen Worte zu geben vermochte, sagte er:

»Auch ich bitte um Verzeihung und habe mehr Grund dazu als das gnädige Fräulein. Wie kann man so dumm und frech sein?! Aber es war auch nicht ganz meine Schuld, Fräulein Nikola! Erinnern Sie sich noch jener Mondscheinnacht an der Hecke von Ihres Oheims Garten? Sie guckten über die Hecke und riefen mich an in meiner Verwirrung; was kann ich für den Zauber, der in jener Nacht war? In jener Nacht, um jene Stunde, in der ich dem Tollhause näher war als vielleicht irgendein anderer Mensch dazumal in Deutschland, bin ich durch Ihre Erscheinung auf der Lichtseite des Daseins festgehalten worden. Wer weiß, ob selbst der Vetter Wassertreter es heut noch für lohnend halten würde, mich in betreff der Zeitgeschichte aufs laufende zu bringen, wenn Sie damals nicht aus den grünen Büschen aufgetaucht wären. Ich hatte mir während meiner Gefangenschaft dahinten ein wundervolles Ideal von der Heimat zurechtgemacht, was daraus geworden ist, wird Ihnen nicht unbekannt sein –«[122]

»Und um sich vor der Tante Schnödler zu retten, haben Sie sich an meinem Rocke gehalten!« rief Nikola. »Und weil ich mein eigen Elend wegzulachen suchte, nicht dumm und auch recht gut gewachsen bin und weil ich mich immer, wenigstens bis jetzt, als eine peeress in my own right gehalten habe, setzten Sie mich sozusagen an die Stelle jenes Ideals und beteten mich von ferne an wie den Deutschen Bund vom Tumurkielande aus! Ach, Leonhard, geben Sie mir nochmals Ihre Hand, wir wollen Freunde bleiben unser Leben lang; aber unsere Ideale wollen wir so tief als möglich begraben. Wir sind ein paar alte zerzauste Aventuriers und werden wohl beide in unserm Harnisch sterben.«

»Nikola, Nikola!« rief Frau Klaudine mit gefalteten zitternden Händen; das Hoffräulein beugte sich nieder zu ihr und küßte sie auf die Stirn:

»Es ist so, Mutter, und niemand kann es ändern. Was sollte wohl aus mir werden, wenn ich nicht mit gepanzertem Herzen von dir wegginge? Dich, meine Mutter, tragen und retten deine Geduld und Hoffnung und dein Einsiedlertum hier in der Wildnis; jener und ich haben andere Waffen nötig. Ich kenne die meinigen und werde sie gebrauchen, und der Herr Hagebucher wird gleichfalls die seinigen finden, sobald er begriffen hat, daß Childe Harold nichts weiter als ein Baedeker in Spenserstanzen ist.«

»Achten Sie jetzt nicht auf sie, Leonhard«, sagte Frau Klaudine wehmütig. »Sie ist krank; aber sie ist doch ein gutes Mädchen und klug und kennt die Wege, die zur Genesung führen. Sagen Sie uns jetzt ein wenig von Ihrem eigenen Leben, und wie die Welt sich von dem Lehnstuhl des Vetters Wassertreter aus anschauen läßt. An welcher Stelle haben Sie ein Zeichen in das große europäische Bilderbuch gelegt?«

»Ja, reden wir von Ihnen, oder vielmehr sprechen Sie von sich allein«, rief auch Nikola, ihre Tränen trocknend. »Wir drei hier in der Mühle bilden doch ein merkwürdiges Kleeblatt und könnten hundert Jahre alt werden, ehe wir mit unsern Geständnissen und Herzensergießungen zu Ende wären. Gott schütze jedermann vor einem derartigen embarras de richesse. Was macht der[123] Vetter Wassertreter und das europäische Abc-Buch, Herr Hagebucher?«

Leonhard erzählte nun ausführlich von seiner Hamsterexistenz und dem ersprießlichsten Kursus allermodernster Weltweisheit, den er augenblicklich gleichsam unter der Erde durchmache. Er berichtete, wie er krebsartig politische und literarische Zeitungen und Journale bis zum Jahr achtzehnhundertundfünfzig rückwärts durchwandele und unermeßlichen Nutzen davon habe. Dunkle, Verworrene Sagen, wie zum Exempel die von jenem Feldzuge der Westeuropäer auf Tauris und der Belagerung der Stadt Sebastopol, löse er leicht mit allen Wurzeln aus der Tiefe und hebe sie klar hervor aus der Nacht der Zeiten, um mit Vergnügen und Behagen das Resultat seiner Forschung seinen übrigen Kollektaneen anzureihen. Es sei wunderbar, meinte er, was alles geschehen und von den Leuten vergessen werden könne, während einer abwesend sei am Mondgebirge; ungemein freue er sich vor allem auch auf die Meisterwerke der deutschen Literatur, welche er bis zum Jahre fünfzig zurück nachzulesen habe und welche er, dem Vetter Wassertreter, der sie schnöde verleugne, zum Trotz, in den kommenden Winternächten mit Begeisterung studieren werde. Der Vetter Wassertreter, meinte er, orakle und kommentiere aber oft gar nicht übel aus seinem dichten Tabaksgewölk hervor, und so habe er – Leonhard Hagebucher – eins zum andern gelegt, sein Schulbubenfatum mit dem nötigen Schulbubenhumor auf sich genommen und sitze er ganz heiter nach. Von dem Vaterhause könne er natürlich das wenigste Gute berichten und wisse das Fräulein von Einstein durch die arme Schwester Lina sicherlich mehr von den Stimmungen und Vorgängen dort als er, der verlorene, ausgestoßene Sohn. Die Mutter tue ihm sehr leid und der alte verdrießliche Papa eigentlich nicht weniger; denn derselbe sei in jeder Beziehung in seinem Rechte und habe sowohl psychologisch wie moralisch höchst korrekt gehandelt. Im Goldenen Pfau aber sitze der Vetter Wassertreter als rächender Genius der Familie Hagebucher, zeige sich sämtlichen Honoratioren von Nippenburg mehr als doppelt gewachsen und hoffe nach Verlauf des Winters das einzige nicht leberkranke[124] und nicht von Gallensteinen geplagte Mitglied der würdigen Gesellschaft zu sein.

Dieses und noch manches andere erzählte der Afrikaner, da man es von ihm verlangt hatte; aber er sprach doch traurigen Mutes, und die beiden Frauen konnten ihm auch nicht mit freier Seele zuhören. Es wurde wieder Abend; der Spitz kam ohne den Igel aus dem Walde heim; aber Christine brachte ihren Laib schwarzen Brotes mit.

»Gib mir noch davon, Mutter, dann will ich gehen«, sagte Nikola von Einstein.

Mit zitternder Hand schnitt die Greisin ein Stuck ab und reichte es stumm der Braut des Herrn von Glimmern.

»Ich will es mit mir nehmen in mein neues Leben«, sprach Nikola weiter, »und ich will in der rechten Stunde immer davon essen – es soll mir guttun, so hart es auch werden mag. O Mutter, Mutter, du hast mir so viel gegeben aus deinem reichen, süßen Herzen; aber dies ist nun das letzte, was du mir geben kannst. Ein Stück schwarzen Brotes der armen Nikola auf den Weg, das ist das letzte Zeichen!«

Sie knüpfte das Brot in ihr Taschentuch und wendete sich gegen Leonhard:

»Nun gehen Sie vorauf, mein Freund; ich hole Sie doch ein auf dem Prospero, um Ihnen ein besonderes Lebewohl sagen zu können. Aber jetzt muß ich noch einen Augenblick allein sein mit meiner Mutter, um sie zum letztenmal zu küssen.«

Tief bewegt und wortlos trat Leonhard Hagebucher zurück und verließ die Mühle langsamen Schrittes und ohne sich umzusehen. Im Walde nistete sich die Dämmerung bereits ein, und auf der Fliegenhausener Landstraße trieb ein erstes kühleres Abendlüftchen Staubwirbel vor sich her. Er wartete vergeblich am Ausgang des Holzes auf die schöne Reiterin; er stand oft still und blickte auch im Wandern über die Schulter zurück; aber erst hinter dem Dorfe vernahm er den Hufschlag des Schimmels hinter sich, und dann ritt Nikola von Einstein noch eine ganze Weile stumm neben ihm her, und er wagte kaum, zu ihr aufzublicken.

Sie auch nahm die Unterhaltung auf, indem sie sagte:[125]

»Es war doch ein schöner Sommer, Herr Hagebucher, und wenn wir einander wieder begegnen, so werden wir seine guten Gaben sicherlich richtiger zu schätzen wissen, als wir es in dieser dämmerigen Stunde vermögen. Wir werden jedenfalls wieder zusammentreffen, Kamerad; dann grüßen wir uns nach einer andern Welt Art und Sitte und haben wohl darauf zu achten, wie wir's treiben, daß das kluge Narrenvolk dort hinter den Bergen uns nicht unter die Füße bekommt. Wir besitzen aber beide das Bürgerrecht in einem Reiche, von welchem jenes Volk nichts weiß, und keine Macht soll uns es entreißen. Jetzt wollen wir uns die Hände drücken und kurz Abschied nehmen; mit Redensarten ist keinem von uns gedient. Wenn Sie Ihre Waffen geschmiedet haben, so lassen Sie dort in der Katzenmühle von der alten Frau den Segen darüber sprechen, und dann mögen Sie mir nachfolgen. Leben Sie wohl, Leonhard Hagebucher!«

»Leben Sie wohl, Fräulein von Einstein!« sagte der Mann vom Mondgebirge. Nikola ritt talab weiter auf der Landstraße, Leonhard aber folgte wieder jenem uns schon bekannten Feldwege, umschritt das Dorf Bumsdorf in einem Bogen und erreichte wie gewöhnlich in dunkler Nacht das Quartier des Vetters Wassertreter.

Quelle:
Wilhelm Raabe: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Band 4, Berlin und Weimar 1964–1966, S. 113-126.
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