Vierzehntes Kapitel

[100] So weit waren wir vor Mitternacht gekommen. Nach Mitternacht erzählte der Vetter weiter, wie er durch harte Arbeit, klugen Sinn und treuherziges Beharren in jeglichem wackeren Vornehmen durch gute und böse, durch harte und linde Zeiten, durch schlimme Tage und schlimmere Nächte seinen Weg als ein fester, wirklicher und wahrhaftiger Mann sich in das Vaterland und zu dem alten Erbsitz zurückgebahnt hatte. Wenn nichts in der Welt fest stehenbleibt als ein wirkliches und wahrhaftiges Kunstwerk, wenn alles andere vorbeigehend ist, so hatte dieser Mensch in seinem Leben ein echtes und gerechtes Kunstwerk fest hingestellt, zum Trost und zur Nachahmung für alle, die das Glück hatten, ihn kennenzulernen. Das war old Germantext-writing in der vollsten Bedeutung des Wortes, eine leserliche, dauerhafte Schrift mit allen ihren kuriosen Schnörkeln und Verzierungen! Wer darin seine Autobiographie niedersetzte, der konnte gewiß sein, daß sie manchem kommenden Geschlecht von Kindern und Enkeln merkwürdig, rührend und ermutigend sich in das Gedächtnis prägte. Und das deutsche[100] Volk hat wahrlich dergleichen monumenta Germanica recht sehr nötig; denn wenn unsere großen Leute dann und wann vielleicht weitherziger als die irgendeines anderen Volkes sind, so sind dagegen unsere kleinen häufig in ebendem Grade kärglicher, kleinlicher, engherziger, mürrischer und unzufriedener als irgendeine Menge, die eine andere Planetenstelle bewohnt; und – ach, wie oft hatte ich mich in den letzten Stunden im ganz geheimen an die Brust geschlagen und geseufzt Gott sei mir Sünder gnädig! Ich seufzte es aber auf Griechisch: ›'O ϑεος ίλασϑητι μοι τω άμαρτωλω‹ – wahrscheinlich, wie es mir jetzt vorkommt, um in der Befähigung dazu einen Trost zu finden, denn Griechisch konnte der Vetter wenigstens doch nicht!

Aber er erzählte nun davon, wie er seine alte Jule aus Bodenwerder abgeholt und im Triumph nach dem Steinhofe zurückgebracht habe, und das war wiederum mehr als Griechisch und Sanskrit.

»Ich hatte ihr natürlich«, berichtete er, »auch von Amerika aus von allem Guten, was mir zuteil wurde, das ihr Gehörige zukommen lassen; aber der Tag, an dem ich selber heimkam, war doch das Beste sowohl für sie wie auch für mich, Schade, daß ich euch – dich, Irene und Ewald – nicht von Schloß Werden dazu herüberholen konnte! Gottlob, Eva Sixtus und ihr Vater sind wenigstens dabeigewesen und mit von neuem auf dem Steinhofe eingezogen. Daß die ganze Umgegend auf den Beinen war, kannst du dir wohl vorstellen. Freilich bei mehr als einem guten Freunde, mit dein ich von meinem jammerhaften Abschiede her einen Schinken im Salze hatte, habe ich wohl ein Auge zudrücken müssen, wenn er mir am liebsten als mein allerbester Freund um den Hals gefallen wäre; aber ich habe es gern getan. Je mehr man sich den Wind draußen in der wilden Welt um die Nase hat wehen lassen, desto bescheidener wird man in seinen Ansprüchen an den Charakter der Menschheit und nimmt am guten Tage still mit in den Kauf, worüber man am schlimmen vor Wut und Ärger aus der Haut fahren möchte. Zwischen der alten Jule und manchem früheren guten Haus- und Hof- und Jagdfreunde ging es freilich nicht so glatt ab, und manch einer[101] bleibt heute noch ihretwegen weg vom Hofe, der meinetwegen wieder ganz behaglich seine Beine unter unserem Tische ausstrecken könnte. Die Weiber sind in diesen Dingen nämlich von einem viel besseren Gedächtnis als wir Männer, Fritze; und gnade Gott manchem armen Sünder, wenn sie es durchsetzen und am Jüngsten Gerichte Sitz und Stimme kriegen. Gnade für Recht ergeht da gewißlich nicht; – selbst bei unseren deutschen Frauenzimmern nicht, welche immer noch die besten sind und die harmlosesten, was gleichfalls eine von meinen amerikanischen Erfahrungen ist und die ich auch dir jungem Menschen, Fritzchen, mitgebracht haben will. Und es soll mich recht freuen, wenn du noch Gebrauch davon machen willst. Aber das ist ja alles nur beiläufig, nimm's nicht übel; ich sage dir, Doktor, den Weg von Bodenwerder nach dem Steinhofe hättest du an dem Tage sehen sollen! Und dann unsere Ankunft auf dem alten ausgemergelten, nichtsnutzigen Haferacker – weißt du, an der Fenz – nein, Gott sei Dank, an der echten, richtigen Weißdornhecke und dem Plankenzaun, über den ihr mich so oft angecheert habt. Wenn es in meiner Erzählung hiervon etwas kraus durcheinandergeht, so gehört auch das zu dem Spaß, denn es kommt einzig und allein daraus her. Sonst kann ich jetzt unter Umständen recht gut bei der Stange bleiben. Ich hatte selbstverständlich mich schon ein paar Wochen vor unserem Haupteinzuge auf dem Hofe installiert. Junge, und ich habe die ersten Nächte in meinem Erker auf Stroh geschlafen; und – oh! – so hat lange keiner in dieser Welt der Plagen und schweren Sorgen und Arbeiten die Beine von sich gestreckt und die Arme unter dem Hinterkopfe zusammengelegt, mit dem Blicke an den alten kahlen Wänden herum und durch das Fenster in die Nacht hinein und dann in den dämmernden Morgen! Ich habe da wie ein König geschlafen, denn ich habe den größten Teil der Nächte verwacht; aber dagegen waren es sehr angenehme schlaflose Nächte. Ihr waret alle darin eingeschlossen wie ich selber von meinem frühesten Aufmerken an. So liegend, müßte der Mensch eigentlich alle zehn Jahre sein Dasein sich zurückdenken können; dann könnte man sich auch alles[102] Schlimme, Traurige und Wehmütige viel leichter mit Ruhe gefallen lassen und es erleben! Well, auf jede solche vergnügte Nacht kam dann der frische Morgen mit seinem hemdärmeligen Wirtschaften in dem verlorenen und wiedergewonnenen Väterreich. Was mir mein Vorgänger an lebendigem und totem Inventar mit in den Kauf gab, wollte nicht viel bedeuten, und für mich, der ich noch meine alte Inventur im Kopfe hatte, gar nichts. Da mußten mir neue Gäule, Kühe, Schweine und Ziegen in die Ställe; – ihren Hühnerbestand mußte Jule Grote wiederfinden, wie sie ihn aufgegeben hatte, und die Gips-Venus mußte auch auf den Ofen wieder hin, sonst war die ganze Geschichte nicht das halbe Pläsier. Und Tisch und Bänke hatten sie mir in meiner Abwesenheit gleichfalls derartig verrückt, daß ich mit vier Fäusten und acht Beinen hätte greifen und laufen mögen, um nur die allernötigste Ordnung wieder hereinzubringen. An Karl Ebeling erinnerst du dich wohl nicht mehr? Das war ja unser Junge zu unserer Zeit auf dem Hofe! Na, siehst du, es freut mich, daß dir der Lümmel doch wieder frisch in der Erinnerung aufgeht! Er hat damals manchen Wurf mit dem Pantoffel und manchen Schlag mit dem Küchenbesen, der moralisch mir gehörte, aushalten müssen; und nun male dir meine Genugtuung, daß ich das Ungetier (einen anderen Namen hatte Jule Grote ja nicht dafür!) voll ausgewachsen, mannbar und mit einem Schatz versehen, und dazu als Reserve-Unteroffizier, wiederhabe, und zwar als unseren Oberknecht! Er sitzt jetzt mit Anstand zu meiner Linken an unserem Tische in der alten Stube, weißt du; aber ein anderes Exemplar von ihm in seiner lieben Jugend und Gefräßigkeit und Flegelhaftigkeit habe ich, Gott sei Dank, dazu wieder mir gegenüber am anderen Ende des Tisches. Karl Eggeling heißt der Schlingel heute; na, und ich muß mir doch manchmal in den Ärmel lachen, wenn ich wieder einmal zu erfahren habe, daß die alte Jule immer noch nicht milder und sanfter gegen diese Spezies von der menschlichen Gesellschaft gestimmt ist. – Die alte Jule! Da sind wir wieder bei ihr und ihrem Einzuge auf dem Steinhofe. So in Tränen gebadet habe ich noch kein Frauenzimmer bei keinem irdischen Zufall und[103] weder in Amerika noch in Europa erblickt! Du hättest ihr das größeste Unrecht antun können, und es hätte diese Flut nicht aus dem Schütt gelassen. So weich wie das Glück hatte das Unglück sie längst nicht gemacht. Freund Stakemann, der auch noch lebt, Fritz – du weißt, Stakemann, der mich damals so treu brieflich warnte, als es längst zu spät war! –, Stakemann, der immer der alte vergnügte Kerl geblieben ist, kam leider auch hier mit seinem Witz post festum. Die spaßhafte Bemerkung, daß der Weg von Bodenwerder her wohl nächstens unter Wasser stehen und daß man sich demnächst in Bremen über das große Wasser wundern würde, hatte ich bereits gemacht, geradeso wie damals, das heißt die Jahre vorher, meine Geschäfte mit dem Doktor Schleimer, dem ich, wieder beiläufig, leider nicht in den Vereinigten Staaten begegnet bin, um ihm offenherzig meine Meinung sagen zu können. – Sonst war mir übrigens selber eigentlich auch nicht spaßhaft zumute, sondern sehr im Gegenteil. Ich saß da auf dem Leiterwagen und hielt den Arm um die Alte und tröstete sie und mich nach besten Kräften in unserem Glück. Es ist keine Kleinigkeit, selbst im glücklichsten Fall, sich um soviel älter – alt – und in diesem auch als Greisin zu scheu und zu fühlen, daß man noch einmal eine glückliche Minute herausgefischt hat! Ich weiß nicht, Langreuter, ob ich dir das nach der Syntax vortrage, aber eine Wahrheit ist es, verlaß dich drauf. Nicht wahr, alter Freund, wenn einer den anderen so recht verstehen soll, dann braucht der nur recht unverständlich zu sprechen, wenn er seine Meinung nur recht tief aus dem Grunde heraufholt?! Daher, wo man gar nicht mehr weiß, ob man aus seiner eigenen Seele spricht oder der des anderen!... Nun spricht man häufig davon, daß es sehr süß ist, eine junge Geliebte vom Wagen zu heben, um sie in die neugegründete Heimat einzuführen. Ich glaube dieses herzlich gern, obgleich ich es leider noch nicht selber an mir und an einem guten Mädchen probiert habe; aber sozusagen etwas Bräutliches hatte auch Jule Grote an sich, als sie mit ihrem Anverlobten, dem Steinhofe, wieder zusammenkam nach so langer Trennung und hoffentlich jetzt auf immer. Während des Zwischenreichs und der Fremdherrschaft[104] hatte sie natürlich keinen Fuß in die Gegend gesetzt: ›Zehn Pferde hätten mich nicht in das Hoftor gezogen, Just!‹ rief sie einmal über das andere, während sie jetzt durch alle Stuben und Kammern, treppauf und treppab, durch Stall und Garten humpelte und mich mit seligen Tränen in den Augen auf alles aufmerksam machte, was ›das fremde Volk während seiner Herrschaft nach seinem Gusto verändert oder gar ganz schandbar verrungeniert hatte‹. Wir gingen alle mit ihr, und weißt du, Fritz, was nach meinem Vergnügen an der Alten mir das Lieblichste war? Das war unsere liebe Eva Sixtus, die ihren alten Papa führte und, immer verstohlen mit ihrem weißen Taschentuche an den Augen, wie ein weinender Frühlingsmorgen aussah. Es war ein wahres Glück, das Stakemann fortwährend seine schlechten Witze und altbekannten nichtsnutzigen Bodenwerderschen Redensarten und Anekdoten uns dabei zum besten gab; die Sache hätte sich sonst wirklich für einen Bürger der Vereinigten Staaten von Nordamerika zu sehr ins Gerührte verlaufen. Du hast unsere liebe Eva wohl lange nicht gesehen, Fritz? Das ist sehr schade. So jung wie vor zehn oder zwölf Jahren ist sie heute nicht mehr; aber das muß ein heikler Patron sein, für den sie nicht in die Länge und in die Breite in die allersüßeste Frauenfreundlichkeit sich ausgewachsen hat! Und dann solltest du den Förster über sie hören! Hast du selber einen Speech auf der Seele, so laß ihn um Gottes willen nicht zum Worte über sie kommen. Da redet er kopfwackelnd das allervolkreichste Meeting vom Stump zu Tode. Freilich, was mich betrifft, so bringe ich ihn immer mit dem größesten Vergnügen auf seine Tochter, sein liebes Mädchen, und dir, Fritze Langreuter, würde es wohl ebenso gehen, wenn du dir unter deinen jetzigen großartigen und weltgelehrten Verhältnissen noch das alte bescheidene Herz und Vergnügen an allen diesen unseren alten Dingen und Leuten von Schloß Werden, dem Steinhofe und der Umgebung hättest bewahren können. Daß das freilich nicht gut möglich ist, sehe ich aber recht gut ein, mein Junge!«...

Ich hatte mir geschworen, den Menschen nicht zu unterbrechen, und ich unterbrach ihn auch jetzt nicht; aber ich sprang[105] auf vom Stuhl, knöpfte mir die Weste auf und trat auf längere Minuten an das Fenster, um die brennende Stirn an die Scheiben zu drücken und auf das dem Morgen hastig zutreibende Gewölk zu sehen und auf den Wind zu horchen. Als ich an den Tisch zurückkam, hatte sich der Vetter Just eine frische Pfeife gestopft und hielt eben das brennende Zündholz darauf. So gleichmütig und phlegmatisch, als ob er mir nicht das geringste gesagt habe, was einen Privatdozenten ohne Zuhörer und einen Doktor der Philosophie ohne Philosophie aufregen könnte. Und jetzt sagte er noch dazu:

»Wahrhaftig, wenn man so ins Schwatzen kommt!... Zwei Uhr am Morgen! Bei uns auf dem Steinhofe fangen da schon die Hähne an zu krähen. Und ich sitze hier und rede und rede und bedenke gar nicht, wie ich dich von der nächtlichen Ruhe abhalte und wie kostbar gerade deine frischen Morgenstunden für die gelehrte Welt und die Wissenschaften sind. Aber guck, Fritz, so bleibt ein Deutscher immer ein Deutscher! Ein echt eingeborener Nordamerikaner hätte dir einfach gesagt: Ich habe den Steinhof wieder; wenn du Lust hast, male dir alles übrige dazu oder laß es bleiben. – Ich dagegen sitze hier und möchte dir auf jeder Faser und Fiber in mir meine Gefühle und Erlebnisse in der alten Heimat nach der Heimkunft vorspielen und frage den Teufel danach, ob das dir noch interessant ist oder nicht. Aber jetzt auch kein Wort mehr! Wo ist mein Überrock? Hier. Und hier ist mein Hut. Jetzo setze deiner Güte und Geduld die Krone auf und leuchte mir die Treppe hinunter. Den Weg nach meinem Wirtshause finde ich schon; hoffentlich aber kehren mehr Leute von meiner Art da ein, die sich leicht festschwatzen nämlich, wenn sie nach jahrhundertelanger Abwesenheit und Trennung einen guten alten Freund und Bekannten zufällig wieder getroffen haben und ihn in ihrer Zufriedenheit mit der Welt in den Schlaf oder über den Schlaf weg, aber sicher halbtot reden. Allein möchte ich auch in diesem Falle nicht in der Welt stehen.«[106]

Quelle:
Wilhelm Raabe: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Band 6, Berlin und Weimar 1964–1966, S. 100-107.
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