Vierundzwanzigstes Kapitel

[304] In graue Nebel gehüllt kam der Morgen. Die entblätterten Wipfel des Parkes tauchten auf im Dunst und feinen Regen; zerrissenes Gewölk fing sich in dem Gezweig, und aus dem Gezweig tröpfelte es unaufhörlich. Gekommen war der Morgen unbemerkt wie so vieles in der Welt. Weder Hans noch Fränzchen hatten auf den ersten trüben Schein im Osten geachtet. Der Morgen war da, ehe sie es vermuteten, und sie erhoben beide ihre Häupter und traten fröstelnd beide an ihre Fenster, um die Schatten weichen zu sehen.

Sie hatten nicht geschlafen, sie hatten gar nicht an die Möglichkeit des Schlafens gedacht; in einer dumpfen Betäubung saßen sie und mühten sich vergeblich, klare Reihen von Gedanken, Urteilen und Schlüssen zusammenzubringen. Sie vermochten es nicht, und als sie in fieberhafter Unruhe und Verwirrung aufsahen und erkannten, daß es Tag werde, da wurde das, was sie vor einigen Stunden so sehr gefürchtet hatten, doch zu einem Troste für sie. Sie atmeten tief auf und begrüßten dankbar das graue Licht; es brachte ihnen die vollste Überzeugung, daß ein ganz neues und süßeres Leben für sie begonnen habe. Sie waren nicht mehr allein in einer Umgebung, die nur im Bösen auf sie achtete; – viel, viel hatten Hans und Fränzchen in der Nacht, in der Kleophea Götz ihr Vaterhaus verließ, gewonnen.

Früher als sonst wurde es an diesem Morgen in den untern Räumen des Hauses lebendig. Die Haushälterin, der vornehme Jean, die Köchin und die Kammerjungfer befanden sich in einer nicht gelinden Aufregung seit gestern abend und waren zu jedem[304] andern Ding als zum Horchen an den Türen und zum Austausch ihrer Gefühle und Empfindungen unfähig. Es ist ein Trost für uns, daß wir uns mit den letztern nicht zu beschäftigen brauchen.

Um sieben Uhr erwachte die Französin aus ihrem totenähnlichen Schlaf, und es dauerte eine lange Zeit, ehe sie vollständig begreifen konnte, wo sie sich befinde, wie sie in diesen Raum gekommen sei. Als ihr alles wieder klargeworden war, fing sie heftig an zu weinen und wollte vor dem Fränzchen niederknien, und Fränzchen war darüber sehr erschrocken und litt es nicht, aber es fürchtete sich nicht vor dieser Fremden und vor dem, was die Leute im Hause und die Leute vor dem Hause sagten und sagen würden. Liebevoll sprach Fränzchen mit der armen Henriette Trublet von Dingen, von denen sie meinte, daß das verlassene Mädchen nicht darüber weinen werde, von ihrer Jugend, von der schönen, großen, lebendigen Stadt Paris, von den springenden Wassern zu Saint-Cloud und den Elysäischen Feldern; und als das französische Blut wieder etwas schneller und wärmer durch die Adern lief, sprach sie ernst und eindringlich von der Zukunft. Nun fing Henriette von neuem an, die Hände zu ringen, und schluchzte und sagte, daß sie heimgehen wolle in ihr Vaterland und gut sein und recht arbeiten und sich durch ihre Arbeit nähren nach Gottes Willen. Und Fränzchen Götz legte in ihre leeren Hände all ihre weltlichen Schätze, und dann – dann klopfte monsieur le curé an die Tür, und Fränzchen Götz erschrak wieder sehr und drückte der Französin mit flehentlicher Gebärde die Hand auf den Mund. Die Französin konnte jedoch nicht schweigen: in gebrochenem Deutsch bat sie den Kandidaten Unwirrsch, doch ebenfalls dem »Engel vom Himmel« zu sagen, daß sie – Henriette Trublet, die schlechte, böse, leichtsinnige Henriette – das Geld nicht nehmen könne und noch weniger das goldene Kettchen mit dem Kreuz, das Granatarmband und den silbernen Fingerhut und die silberne Schaumünze der Republik Bolivia.

Hans aber sah auf das Fränzchen, und das Fränzchen sah ihm in die Augen. Hans Unwirrsch schüttelte den Kopf gegen das[305] französische Mädchen zum Zeichen, daß er in dieser Sache ein schlechter Mittelsmann sei. Seines Vaters ehrwürdige und merkwürdige Taschenuhr zog er hervor und legte sie zu den Schätzen Franziskas, ebenso eine Börse, in welcher sich fünf harte Taler und wenig kleine Münzen befanden. Hätte er an den silbernen Beschlag der kurzen Pfeife gedacht, die ihm einst der Oheim Nikolaus Grünebaum schenkte, er würde sie ebenfalls geholt haben, er dachte jedoch nicht daran.

Es war sehr schlimm für Henriette, daß sie den beiden schon soviel zu danken hatte, es ward ihr um so schwieriger, sich gegen ihren Willen zu wehren, und sie vermochte es auch zuletzt nicht mehr. Sie wurde gezwungen, alles zu nehmen, und mit zitternden Händen nahm sie es.

Um acht Uhr trat Henriette Trublet wieder hervor aus dem Hause des Geheimen Rates Götz. Hans und Franziska geleiteten sie bis an das Gitter, das den Garten von der Straße schied, um sie wenigstens vor den Worten der Dienerschaft zu schützen. Vor ihren Blicken konnten sie sie nicht schützen.

Mit gesenktem Haupte war die Fremde gegangen, jetzt hob sie es empor – ihre ganze Gestalt schien sich aufzurichten, wie unter dem Antrieb eines festen, unerschütterlichen Entschlusses. Sie neigte sich vor Hans und Fränzchen und sagte:

»Der gute Gott wird euch vergelt, was ihr abt getan an mir. Ik will gedenk an euch immer und immer. Ik will geh und nicht werd müd; – ik will sie such und find und gedenk an dieser Nakt und euch. Malheur à lui.«

Es war, als ob sie sich von jemand mit Gewalt losrisse, sie lief hastig über den durchweichten, schmutzigen Fahrweg, sie sah zurück von den ersten Bäumen des Parkes; dann war sie verschwunden in dem dichten Nebel. Und wenn jetzt Kleophea Götz ein Fenster geöffnet hätte, um den Kandidaten Unwirrsch und Franziska – den »Hungerpastor« und das »schlafende Wasser« – nach ihrer Art zu grüßen, so hätten beide sich für eben erweckte Nachtwandler gehalten und keinem ihrer Sinne, keiner ihrer Empfindungen und Urteile mehr getraut.

Aber Kleophea sah nicht neckisch und spöttisch aus dem Fenster;[306] nur Jean und die Wirtschafterin fuhren etwas verlegen aus der Haustür zurück, als Hans und Fränzchen sich umwandten.

Hans und Fränzchen hatten nicht achtzehn Stunden so bittersüße Dinge geträumt; – es war kalt, bitter kalt, und es fing wieder an zu regnen: der Morgen war eine Wahrheit, und der Nebel war eine Wahrheit; eine Wahrheit war der Schatten, der im Nebel verschwand, und der Stadtbriefträger, welcher eilig herankam, seine Ledertasche öffnete und dem Kandidaten Unwirrsch einen Brief reichte, den Kleophea geschrieben hatte und welcher die Adresse ihres Vaters trug.

Er schien, der Schwere nach zu urteilen, ein Doppelbrief zu sein und mußte, dem Poststempel zufolge, am vorigen Abend in den Briefkasten geworfen sein. Er brannte wie Feuer in der Hand des Kandidaten, und Franziska wich scheu vor ihm zurück wie vor einem gefährlichen Tier.

Sie gingen wortlos in das Haus zurück und fanden auf dem Flur die gesamte Dienerschaft mit der Milchfrau und dem Semmelträger in gespannter Erwartung versammelt.

Hans winkte ruhig dem Bedienten:

»Kommen Sie mit uns, Jean, wir haben mit Ihnen zu reden und Ihnen einen Auftrag zu geben.«

Jean verbeugte sich mit ungewohnter Höflichkeit und Dienstwilligkeit, warf der Kammerjungfer über die Schulter einen vielsagenden Blick zu und hielt es diesmal nicht unter seiner Würde, dem »Schulmeister« und der »Jungfer Nichte« die Treppe hinauf in den Salon zu folgen, um anzuhören, was sie ihm zu sagen hatten.

Es war unbehaglich kalt in dem weiten Gemache, es war, als liege unsichtbar eine Leiche darin. Gespenstisch schien der graue Tag durch die niedergelassenen Vorhänge, gespenstisch war der offene Flügel mit den durcheinandergeworfenen Notenheften, den morceaux de salon, songes dorés, cascades, carillons, nocturnes, fleurs, pensées fugitives, cloches du monastère Kleopheas. Gespenstisch war das zerbrochene Steckenpferd Aimés, welches auf dem Teppich lag, und vor allem andern gespenstisch[307] war auf dem Ölgemälde über dem Flügel der Kopf des Pharisäers, der dem Heiland den Zinsgroschen lauernd entgegenhielt.

»Wir haben Ihrer Herrschaft schnell eine Nachricht zu geben, Jean«, sagte Hans. »Wieviel Zeit werden Sie gebrauchen, um einen Brief dort abzuliefern?«

Jean sah einen Augenblick nach der Decke und meinte sodann, daß er mit Hülfe guter Pferde bis ein Uhr der gnädigen Frau alles, was man nur wünsche, überbringen oder mündlich berichten könne und daß er trotz des unangenehmen Wetters den Auftrag mit Vergnügen übernehmen werde. Daraufhin ersuchte ihn Hans, für Wagen und Pferde zu sorgen und sich bereit zu halten.

Um neun Uhr fuhr Jean ab mit einem Paket, welches das Schreiben Kleopheas und einen Brief Franziskas enthielt; – um vier Uhr nachmittags konnten die Eltern von ihrem Ausflug zurück sein.

Fränzchen reichte dem Kandidaten die Hand und sagte:

»Wir müssen jetzt still sein und warten, lieber Freund.«

Hans neigte sich über die kleine Hand und sagte:

»Wir wollen geduldig sein und warten.«

Sie schieden jetzt voneinander, und jedes verschloß sich in seiner Stube. Still saßen sie und vertieften sich in die Geheimnisse der eigenen Brust.

Gegen Mittag klärte sich der Himmel ein wenig auf, die vornehme Welt fuhr spazieren, und zu einem Teil derselben waren bereits dumpfe, verworrene Gerüchte von den Vorgängen im Hause des Geheimen Rats Götz gedrungen. Die Nachbarschaft zur Rechten und Linken beobachtete hinter den Vorhängen und Blumentöpfen neugierig-bedauernd oder auch wohl recht schadenfroh das Haus, und aus den vorüberrollenden Wagen wurden wunderliche Blicke auf es geworfen. Das war doch noch einmal etwas, worüber sich sprechen ließ! Hans und Fränzchen zeigten sich nicht mehr an ihren Fenstern; – Fränzchen lag fröstelnd zusammengekauert auf ihrem kleinen Diwan und hatte das Gesicht in den Kissen verborgen und ein Tuch über den[308] Kopf gezogen; Hans schrieb an die Base Schlotterbeck und verwandte viel Fleiß auf das Malen der Buchstaben, damit die gute Alte sie lesen könne.

Er schrieb:

»Liebe treue Seele!

Es ist keine Zeit in meinem Leben gewesen, in welcher ich mehr an das Vergangene habe gedenken müssen als in den letzten Wochen und Tagen. Es war recht schwarze Nacht um mich her geworden, und viel Angst und Kummer habe ich erdulden müssen. Da hab ich wohl wieder einmal des Vaters leuchtende Glaskugel in der Finsternis aufhängen müssen und habe mich in ihren frommen, milden Schein gerettet und alle Menschen bedauert, die in solcher Zeit das nicht können. Ach, liebe Base, Ihr und die Esther habt wohl recht gehabt mit dem Moses, und was Ihr, liebe Base, in Eurer ängstlichen Seele gedacht und gesehen habt, das kann ich Euch leider nicht mehr anfechten. Ich bin krank gewesen und in Sorgen, und Moses Freudenstein hat sich als falsch erwiesen. Ein großes Unrecht hat er auf sich geladen, und ein großes Unglück hat er über das Haus gebracht, in welchem ich jetzt bin. Er ist tot für mich, und ich bedauere ihn tief, ich trage schweres Leid um ihn.

Viel habe ich in der vorigen Nacht über die vergangene Zeit nachgedacht und darüber, wie es gekommen ist, daß also Verachtung aus der Freundschaft werden mußte. Ich habe mich wie durch einen dunkeln Irrgarten bis zu den Häusern unserer Väter in der Kröppelstraße zurückgetastet und habe mit Seufzen gefunden, was ich suchte. Der Hunger, der uns beide, den Moses Freudenstein wie den Hans Unwirrsch, ausgetrieben hat in die Welt, hat den Moses zu dem gemacht, was er ist. Und eine bittere Lehre ist es mir. Nach dem Wissen sind wir ausgezogen und nach dem Glück: in dunkeln, armen Hütten sind wir geboren und aufgewachsen, und der Glanz, welcher durch die Spalten und Ritzen der niedern Dächer fiel, hat uns gelockt. Es ist so wunderlich, wie ich so lange Zeit gemeint habe, wir gingen denselben Weg diesem Glanze nach; aber es ist nicht so gewesen.[309] Von unseren Wiegen an haben sich unsere Wege geteilt, ich sehe es jetzt ganz klar, und das Herz blutet mir darum. Böse Geister standen um die Wiege des armen Moses, nur gute um die meinige. Er ist seinen Weg mit offenen, klaren, scharfen Augen gegangen; ich bin wie träumend vorwärtsgeschritten. Sein Hunger ist überall befriedigt worden, was er wünschte, hat er immer erlangt; auch in dieser Stunde noch hat er, was er will. Das war nicht gut, und das ist jetzt schrecklich! Mein Hunger ist nicht gestillt wie der seinige; ach, ich habe so oft nicht gewußt, was ich wollte, und weiß es auch jetzt oft noch nicht. Es ist ein wundersam Ding um des Menschen Seele, und des Menschen Herz kann sehr oft dann am glücklichsten sein, wenn es sich so recht sehnt. Der arme Moses hat sich nie gesehnt; er hat nur gerechnet, und seine Exempel sind immer richtig aufgegangen; das Herz blutet mir darum. – Wenn ich bei der Base wäre, so wollten wir die kleine Blechlampe durch des Vaters gläserne Kugel scheinen lassen am Abend, wenn die Laden vorgesetzt wären; und wir wollten zuerst von meinem Vater und meiner Mutter und den Gräbern auf dem Kirchhofe sprechen, und dann wollt ich der Base alles sagen, wie es mir ums Herz ist, und wollte nichts verschweigen, so aber kann ich der Base nur schreiben, daß sie keine Sorge mehr um mich zu haben braucht. Über den Moses darf ich ihr augenblicklich nichts sagen; es ist zu viel Bitterkeit in meinem Herzen und alles noch zu verworren umher; – ich will der Base so bald als möglich wieder Nachricht geben.«


Noch ließ der Kandidat Unwirrsch den Oheim Nikolaus durch die Base Schlotterbeck grüßen und versprach auch ihm demnächst ein ausführliches Schreiben; dann schloß er und verblieb der beiden Alten getreuester Johannes Unwirrsch und – ja, und! Als er erschrocken wieder auffuhr, wußte er nicht, wie lange er geschlafen hatte.

Wer kennt nicht diesen Schlaf nach einer qualvoll aufgeregt durchwachten Nacht, diesen Schlaf, der über uns kommt und uns überwältigt, ohne daß er uns Erquickung bringt? Wer kennt[310] nicht diesen Schlaf, der uns in der kürzesten Zeit, wenn er uns nicht das Bewußtsein ganz nimmt, das Gehirn mit verworrenen Bildern füllt, wie die längste Nacht es nicht vermag?

Eine Stunde schlief Hans Unwirrsch, und in dieser Stunde sah er fast soviel wie jener Sultan des Morgenlandes, der den Kopf in das Wasserbecken des Zauberers steckte und ein Weib wurde und, von einem Eckensteher gefreit, sieben Kinder und viel Schläge bekam und den weisen Mann sehr ärgerlich köpfen lassen wollte, als er den Kopf wieder hervor zog aus dem Waschnapf.

Bald glänzte hell die schwebende Kugel, bald war es Tag, bald Dämmerung, bald Nacht. Straßen, Plätze, Kirchen, dunkle und helle Stuben und Kammern, grüne Bäume und beschneite Felder schoben sich durcheinander. Der Weihnachtsmarkt und die Schulstube des Armenlehrers Silberlöffel waren da und waren nicht da – kindische Freude und kindische Angst wechselten fortwährend. Seinen Stab schwang der Zauberer Traum im Kreis, bis er ihn dann wieder deutend auf eine andere Stelle hielt. Ein Knabe war Hans Unwirrsch, und ein Knabe war Moses Freudenstein, und mit Händen und Füßen verteidigte Hans den Moses gegen die Knaben der Kröppelstraße. Hinunter in die Finsternis des Trödelladens aus dem Schnee und Getümmel der Gasse! Blutend und zerschlagen die Treppe hinunter in die Arme des Meisters Samuel! Aber der Meister Samuel war ja tot, und Moses stand mit verschränkten Armen neben dem Lager des Toten, und die Sanduhr war ausgelaufen. Die kleine Sophie war auch gestorben; – war sie es nicht? Wie kam auch sie in den Keller des Trödlers und legte den Finger auf den Mund, so ernst und so schön? War das die kleine tote Sophie, welche sagte, daß das Schöne, das Wahre, das Gute nicht sterbe in der Welt? War es die tote Sophie, welche sagte, daß der Mensch durch die Sehnsucht lebe? Hans Unwirrsch hatte doch die kleine Sophie so gut gekannt, er hatte sie in ihrem Sarge gesehen gleich einem Püppchen aus Wachs; war sie es wirklich, die so groß, schön und ernst zwischen ihm und dem Doktor Theophile Stein, der erst Moses Freudenstein war, stand?[311]

»Franziska! Fränzchen!« rief Hans Unwirrsch, und mit diesem Ruf erwachte er.

Es regnete augenblicklich nicht mehr; aber der Tag war darum nicht heller geworden; es schien sogar, als würde er noch immer dunkler, als senkten sich die Wolken immer tiefer und erdrückender herab. Langsam, langsam schlichen die Stunden vorüber, und es gab kein Buch in der Bibliothek des Kandidaten, das imstande war, auch nur für Minuten den Lauf der Zeit zu beschleunigen. Auf und nieder schritt Hans und blieb bei jedem Geräusch im Hause stehen und horchte, obgleich er wußte, daß nur die Haushälterin oder die Kammerjungfer draußen sich rege.

Es wurde Mittag, und man brachte ihm zu essen; er zwang sich, etwas herunterzuschlingen. Als er aber die Uhr eins schlagen hörte, legte er Messer und Gabel nieder, denn jetzt mußte Jean an seinem Bestimmungsorte angelangt und der Brief Kleopheas in den Händen der Eltern sein. Vielleicht befanden sich die Eltern bereits auf dem Heimwege, und der vornehme Jean saß mit verschränkten Armen neben dem Kutscher, und der Kutscher wußte auch schon, was zu Hause vorgegangen war, zog die Backen ein und pfiff, und der Himmel war so grau und der Weg so schlecht, und die Wolken zogen so niedrig über die Felder hin. Auch an Aimé und sein Betragen während dieser Fahrt mußte der Kandidat Unwirrsch denken. Er war in keiner Weise mehr Herr über seine Phantasie, und sie zog ihn immer, immer wieder fort aus dem Stübchen Franziskas, wie er sich auch dagegen wehrte.

Stundenlang hatte Fränzchen unter ihrem Tuch auf ihrem kleinen Diwan gelegen, gegen ein Uhr erhob sie sich, um doch notwendige Haushaltungsgeschäfte zu besorgen, und vernahm dabei, wie sich bereits die Welt unter den mannigfaltigsten Vorwänden in das Haus eingedrängt hatte, »um Näheres über die seltsamen Gerüchte zu erfahren«.

Man hatte sich nach diesem und jenem erkundigt, man hatte geliehene Bücher und Musikalien zurückgeschickt, man – d.h. eine »intime« Freundin – hatte sogar Fräulein Kleophea zum Tee einladen lassen; der Professor Blüthemüller war persönlich[312] gekommen, um sich zu erkundigen, wann die gnädige Frau von ihrem Ausflug zurückkehren würde. Er hatte eine Visitenkarte mit einem Eselsohre und seine besten Grüße zurückgelassen.

Die Haushälterin und das übrige Dienstpersonal er wies sich außergewöhnlich teilnehmend und schlich flüsternd auf den Zehen umher. Gegen zwei Uhr brannte das Feuer im Studierzimmer des Geheimen Rates und im Gemach der gnädigen Frau; zwischen drei und vier kam die Herrschaft heim.

Wenn man, sei es in freudiger oder in schmerzlicher Aufregung, lange auf das Eintreffen eines Ereignisses, die Erfüllung eines höchsten Wunsches, das Niederfallen eines Schlages gewartet hat, dann merkt man, wenn das Erwartete gekommen ist, so recht, aus wie flüchtigen Momenten des Menschen Leben besteht. Zu einem Augenblick zieht sich die längste, unruhvolle Vergangenheit zusammen, und der Lichtblitz, der an einem Regentage über das Land fliegt, ist nicht schneller vorüber als die Stunde, auf welche wir hofften oder welche wir fürchteten.

Hans Unwirrsch stand an seinem Fenster und sah den kotbespritzten Wagen des Geheimen Rates heranfahren, und Jean saß wirklich neben dem Kutscher auf dem Bocke als ein Mann, der sich seines Wertes bewußt war. Hans verwunderte sich, daß er in diesem Augenblicke auf die Mienen des Bedienten achten konnte, aber es war so.

Im Hause wurden Türen geöffnet und zugeschlagen: der Wagen hielt, die Dienerschaft stürzte heraus, Jean sprang herab, um den Schlag zu öffnen und den Aussteigenden behülflich zu sein. Der Geheime Rat Götz trat zuerst hervor, ihm folgte seine Gemahlin tief verschleiert: sie führte den Knaben an der Hand und trat schnellen und schallenden Schrittes zuerst in das Haus, ohne die herbeigeeilte Nichte zu beachten. Der Geheime Rat stand einen Augenblick, wankend wie ein von einem plötzlichen Schwindel Ergriffener, vor seiner Tür: er stieß den Arm Jeans zurück und griff nach der Hand Franziskas. Auf das Fränzchen stützte er sich, als er langsam und unsicher die Treppenstufen emporstieg: und so begegnete er in dem Hausflur dem Kandidaten,[313] an welchem ebenfalls die gnädige Frau gleich einem Sturmwind vorbeigefahren war.

Dünn, schwarz und schattenhaft trotz seines Pelzes sah der Geheime Rat auch jetzt aus; aber ach, das Federwerk in seinem Innern war nun ganz und gar in Unordnung, und heftig mußte Hans darüber erschrecken, wie über alle Maßen unglücklich und hülflos der Geheime Rat umhersah. Er reichte dem Hauslehrer die Hand, die wie im Fieber zitterte, und sagte, er freue sich, den Herrn Kandidaten so wohl zu sehen, und es sei ein recht unangenehmes Wetter heute. Und als in diesem Augenblicke die Glocke der gnädigen Frau, im heftigen Affekt angezogen, durch das Haus gellte, fuhr er zusammen, faßte den Arm Fränzchens fester und flüsterte:

»Mein armes Kind, arme Kleophea! Es konnte ja nicht anders kommen – arme Kleophea.«

Mit Tränen in den Augen stand Hans Unwirrsch am Fuße der Treppe und sah dem Fränzchen nach, wie sie den gebrochenen Mann stützte und führte.

Quelle:
Wilhelm Raabe: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Band 3, Berlin und Weimar 1964–1966, S. 304-314.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Der Hungerpastor
Wilhelm Raabe - Romane: Der Hungerpastor, Abu Telfan, Der Schüdderump
Sämtliche Werke: Der Hungerpastor: Bd. 6 (Raabe, Samtliche Werke)
Der Hungerpastor
Romane. Der Hungerpastor / Abu Telfan / Der Schüdderump
Der Hungerpastor

Buchempfehlung

Lewald, Fanny

Jenny

Jenny

1843 gelingt Fanny Lewald mit einem der ersten Frauenromane in deutscher Sprache der literarische Durchbruch. Die autobiografisch inspirierte Titelfigur Jenny Meier entscheidet sich im Spannungsfeld zwischen Liebe und religiöser Orthodoxie zunächst gegen die Liebe, um später tragisch eines besseren belehrt zu werden.

220 Seiten, 11.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon