Zweites Kapitel

[383] Auf einem etwas später geschriebenen Blatte der Chronik des Lauenhofes ist zu lesen, daß der Herzog Julius eine heftige Abneigung gegen das Geschlecht der Lauen bekommen habe und daß er den Namen nie hören konnte, ohne einen argen Verdruß und Widerwillen kundzugeben; wir aber hoffen fest, daß jene große Wurst weder in dem Magen noch in dem Gemüte einer[383] unserer zartsinnigen Leserinnen einen Ekel an dem guten Geschlechte und unserer Geschichte erregte, und verpfänden unser Wort, daß ein ähnlicher Diätfehler im fernern Verlaufe ebendieser Geschichte nicht wieder vorfallen soll. Das silberne Glöcklein erklingt, und auf das etwas schauerliche mittelalterliche Schattenspiel, welches doch ein wenig gegen unsern Willen an der Wand aufdämmerte, folgt das Schattenspiel der süßen Gegenwart, die ihrer Verdauungskraft sicher nicht auf eine Viertelmeile Weges hinaus trauen dürfte, allein dafür in anderer Weise Taten ausübt, auf welche sie ebenso stolz sein darf wie der Junker Hilmar auf die seinige im Provianthause zu Wolfenbüttel.

Auf den Junker Hilmar folgte der Junker Asche, der noch ziemlich weit in den Dreißigjährigen Krieg hineinreichte und welchem es hundeelend darin ging. Auf diesen folgte Jobst und auf diesen wiederum ein Asche, der unter den Brandenburgern vor Turin das Leben verlor, allein glücklicherweise vorher einen Sohn erzeugt hatte, welcher den Alten Fritz noch als blutjungen Burschen zu Küstrin aus dem Fenster gucken sah und von dessen sechs Söhnen fünf im Siebenjährigen Kriege fielen. Der Überlebende tat das Seinige, den Verlust auszugleichen; doch auf dem Lauenhofe regierten nur noch zwei Herren von Lauen bis zu Hennig, der bei Beginn dieser Geschichte Stammhalter des Geschlechtes ist und gewissermaßen eine Rolle darin spielt, zuerst freilich nur eine Rolle unter der Vormundschaft seiner Frau Mutter, die sich selber einführen mag, sobald sich die Gelegenheit dazu bietet. Die gnädige Frau ist resolut genug dazu, und wir haben andere Leute, welche einer teilnahmsvollen Einführung eher bedürftig sind als jene.

Da ist zuerst und vor allen Dingen mit dem größten Respekt Herr Karl Eustachius von Glaubigern, ein westfälischer Edelmann und armer Vetter, der nach Abschluß des zweiten Pariser Friedens aus dem Kriege verwundet, mit Rheumatismen behaftet und sehr kahl in Beutel und Hoffnungen auf dem Lauenhofe einrückte und – nebst dem Kinde der schönen Marie – den höchsten Anspruch auf Achtung in dieser Historie hat. Er ist[384] langen Wuchses, hält sich ungemein reinlich und nimmt sowenig als möglich Dienstleistungen an. Er geht und spricht langsam, sammelt Wappen, weiß darüber zu reden und zu schreiben und ist der einzige, welchen die gnädige Frau nach dem Tode ihres Gemahls dann und wann um Rat angeht und welcher diesen Rat auch wirklich zu geben weiß. Die Nachbarschaft gibt ihm den Ehrentitel des Ritters, und das Fräulein Adelaide Klotilde Paula von Saint-Trouin nennt ihn den Chevalier; er aber verdient die Bezeichnung, und zwar nicht allein deshalb, weil er in einem Kürassierregimente gegen die Franzosen zu Felde zog.

Das Fräulein Adelaide Klotilde Paula de Saint-Trouin kam einige Jahre früher als er auf dem Lauenhofe an, ist auch einige Jahre älter als er und würde ohne die abscheuliche französische Revolution von 1789 nicht unter den Barbaren des Herzynischen Waldes leben. Sie ist die Tochter des Grafen von Pardiac, der im Anfang dieses neunzehnten Jahrhunderts einer der tüchtigeren Zeichenlehrer zu Berlin war, aber doch in großer Armut starb und seine Tochter dem Großvater des Junker Hennig vermachte. Das Hofgesinde bezeichnet sie kurz als »Frölen« oder höchstens »Frölen Trine«; aber sie selbst nennt und schreibt sich: Très noble et très puissante Dame Comtesse de Pardiac, Dame Haute-Justicière du Comté de Valcroissant, née Chevalière de Malte par privilège accordé par le Pape Honorius III à la très illustre famille de Jehan de Brienne, premier Prince de Tyr et ensuite Empereur de Constantinople. Zu deutsch: Sehr edle und mächtige Frau Gräfin von Pardiac, Frau und Gerichtsherrin der Grafschaft Valcroissant, geborene Ritterin von Malta zufolge des Privilegs des Papstes Honorius des Dritten, verliehen der sehr glorreichen Familie Johanns von Brienne, ersten Fürsten zu Tyrus und späterhin Kaisers von Konstantinopel.

Die Last aller dieser Titel und Würden, welche alle, bis auf die Malteserritterschaft und den Papst Honorius, dem Chevalier ungemein »plausibel« erschienen, hat nicht in der vorteilhaftesten Weise auf den Charakter des Fräuleins eingewirkt. Es[385] fühlt sich selbstverständlich leicht in seiner Würde gekränkt und ist etwas zänkischer Natur. Der Chevalier hat am meisten unter den Launen der Chevalière zu leiden, denn die Gutsfrau hat selten Zeit, darauf zu achten, und weist noch dazu alle Zumutungen mit ihrem Lieblingsworte ab:

»Herze, das ist alles dummes Zeug, und darauf kann ich mich nicht einlassen. Wissen Sie was? Gehen Sie damit zu dem Ritter.«

Das Fräulein folgt fast immer diesem Rate, wenn es sich nicht mit irgendeinem französischen Romane, Memoirenwerk oder, seltsamerweise, mit Hufelands »Kunst, das Leben zu verlängern« in einen Winkel zurückzieht, um das Leben zu verachten. In den sonnigeren Momenten seiner Existenz beschäftigt sich das Fräulein mit allerhand leider meistens vergeblichen Versuchen, von der Höhe des Daseins herabzusteigen und sich dem gemeinen Volke, dem Rest der Menschheit, soweit er durch die Bauern von Krodebeck vertreten wird, zu nähern und von »wohltätigem Einfluß« auf ihn zu sein. Adelaide Klotilde Paula von Saint-Trouin hat das heftige Bedürfnis, gute Lehren zur unrichtigen Zeit und an dem unrichtigen Orte zu erteilen, wie sie immer noch imstande ist, eine Stunde nach Mitternacht plötzlich die Gitarre am blauen Bande umzuhängen und zum Entsetzen sämtlicher Bewohner des Lauenhofes zu beginnen:


A Toulouse il fut une belle;

Clémence Isaure était son nom:

Le beau Lautrec brûla pour elle,

Et de sa foi reçut le don.


Für die Stunden der Nacht ist der »schöne Lautrec« zwar sehr angenehm; allein für den langen Tag genügt er doch nicht, und das Fräulein hat einen angemessenen Raum im Busen übrig für sein Hündchen Peccadillo, welches gleich seiner Herrin sehr nervöser Natur ist und mit dem stattlichen ruhigen Kater Mystax, dem Stuben- und Studiengenossen des Ritters, auf einem ähnlichen Fuße lebt wie das Fräulein selber mit dem Chevalier.

Das ist ein Schattenspiel, aber ein etwas chinesisches, und der[386] junge Herr Hennig von Lauen hat ausnehmenden Nutzen davon! Das trippelt und tänzelt und ziert sich wie die Figuren auf einem Rokokodamenfächer. Wie auf alten Punschschalen und Teetassen lächelt und verbeugt sich das und führt unter den sehr abnormen Bäumen und Büschen der Phantasie sehr abnorme Tierlein spazieren, während erstaunlich merkwürdige Vögel die Luft durchschwirren und bedenkliche Nester in dem Flachskopfe des Junkers Hennig bauen würden, wenn die gnädige Frau Mutter nicht manchmal mit einem verständigen Holla! und Halt da! dazwischenführe.

Es arbeitet mancher und manche an der Erziehung des kleinen Hennig; denn viel Leute: Bergleute, Schäfer, Jäger, Bauern und Bettler, kommen und gehen auf dem Lauenhofe, und der Vagabund, der euch einst – vor langen, langen Jahren vielleicht – am Weidenbach die erste Pfeife schneiden und blasen lehrte, war oft von größerem Einflusse auf eure Erziehung und euer Leben als der sehr gelehrte und ernste Mann, welcher zuerst die lateinische und griechische Grammatik euch vor der Nase aufschlug und behauptete: nur in ihr sei das wahre Arkanum des Wandels im Fleisch zu finden und ohne sie kein Heil und Vergnügen auf Erden weder in den Tagen der Jugend noch in denen des Alters.

Bergleute, Fuhrleute, Schäfer, Jäger, Bauern und Bettler hielten sich gern auf dem Lauenhofe auf, denn es war von jeher ein nahrhafter Hof, und die Geschichte weiß nur von einem einzigen Herrn von Lauen, der ein geiziger Hund war und deshalb in größter Mißachtung bei seinen Stammesgenossen steht. Menschen und Tiere haben es gut auf dem Lauenhofe, so wie auch die Geistlichkeit stets das Ihrige bekam, sowohl früher in katholischer wie jetzt in lutherischer Zeit. Freilich, was der Pastor von Krodebeck ein »inniges, gottgefälliges Verhältnis« nennt, findet nicht statt. Die gnädige Frau geht so resolut an ihre Erbauung wie an ihre Arbeit, bringt einen merkwürdig scharfen und geraden Blick sonntags in die Kirche mit und hat häufig nach der Predigt ihrerseits ihrem frommen Seelenhirten den Text gelesen. Der Chevalier und das Fräulein sind katholischen[387] Bekenntnisses, wovon jedoch der Chevalier nie Gebrauch macht, während das Fräulein sich häufig eines etwas enzyklopädistischen Anhauches nicht erwehren kann, was nicht immer vollständig zu ihren Verpflichtungen gegen den Papst Honorius den Dritten paßt. Der Pastor von Krodebeck speist nicht selten mit seiner Gattin auf dem Lauenhofe zu Mittag, aber der Ritter von Glaubigern spricht immer das Tischgebet.

Quelle:
Wilhelm Raabe: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Band 4, Berlin und Weimar 1964–1966, S. 383-388.
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