Neunzehntes Kapitel

Glänzende Fäden in dunkelm Gewebe

[538] Wir haben aus dem Tagebuche Auroras erfahren, daß auch Helene Wienand – und zwar in Begleitung des Freifräuleins Juliane von Poppen – sich am Bette des alten Mannes, der in ihrem Vaterhause so grausam zu Schaden gekommen war, einfand. Sie kam aus eigenem Herzenstriebe, sie kam aber auch auf Antrieb der mütterlichen Freundin, welche es für gut hielt, daß ihr Pflegekind ein Unglück mit dem andern vergleichen lerne, daß ihr Geist sich nicht einzig und allein an den kranken Vater hefte. Am Bette des Meisters Johannes lernte Helene auch den Sternseher Ulex und den Polizeischreiber Fiebiger kennen, und es entstand in kürzester Frist eine tiefe wechselseitige Zuneigung zwischen ihr und dem Greise vom Giebel des Nikolaiklosters. Die Art des Schreibers verstand sie für jetzt noch wenig, und schüchtern hielt sie sich von ihm fern; sie mußte ihn erst besser kennenlernen.

Starr wie eine Bildsäule blieb Robert auf der Schwelle stehen, als er zum ersten Male Helene am Lager des Verwundeten sitzen sah. Welch einen Glanz gab die dunkle dumpfige Kammer wieder! Brach der liebliche Schein, der in jedem Gegenstand verborgen war, von neuem hell und lustig hervor?

Ach, nur für Robert Wolf! Für die andern blieb das Gemach trübe und traurig. Sie mußten auch fürderhin in der Dunkelheit sitzen.

Der Kranke konnte die bleiche, liebliche Trösterin neben seinem Kopfkissen nicht sehen; aber er vernahm die Trostworte, welche sie mit leiser, süßer Stimme flüsterte; er hielt die kleine Hand in seiner eigenen heißen Hand. Er ließ sich von ihrem Vater erzählen und sprach auch wieder tröstende Worte.

»Solch ein harter Stamm«, sagte er, »fällt nicht auf den ersten Schlag. Es wird noch alles gut werden, liebes Fräulein; man muß nur den Mut nicht verlieren. Solch ein stattlicher Herr –«

Aber weshalb suchte sich die kleine Hand so plötzlich seinem[539] fieberhaften Griff zu entziehen? Weshalb wurde sie so unruhig? Weshalb fing sie an zu zittern?

Robert trat mit Ludwig Tellering gegen das Bett heran.

»Guten Tag, junger Wolf!« sagte Juliane von Poppen; »es freut mich, Euch zu sehen; ich höre, man fängt an, Eure Zerstreutheit zu tadeln. Was ist das? Nehmt Euch zusammen, Kind; arbeitet, lernt, so hat kein böser Geist Macht über Euch. Laßt Euch von der großen Stadt nicht verführen – es ist ein gefährlich Ding.«

Der Jüngling drehte verlegen seine Mütze zwischen den Händen, welche noch mehr zitterten als die Helenes. Der Sternseher und der Polizeischreiber mochten sich mit Recht über die Zerstreutheit ihres Zöglings beklagen; aber er hatte noch lange nicht ihren Gipfel erreicht. Es fand mehr als eine Begegnung zwischen Robert und Helene statt, und nach jeder derselben wurde der Schüler des Sternsehers um mehrere Grade unaufmerksamer. Die Bücher verloren für ihn wieder einmal allen Reiz; weder der kluge Odysseus noch der Männerfürst Agamemnon, weder Äneas mit seinen vagabundierenden Genossen noch Theseus und Jason hatten das geringste Interesse für ihn.

Und was gingen gar den Studenten die Scipionen, Gracchen, Fabier – die Helden der Griechen und Barbaren an? Stand nicht auf jeder Seite der Bücher: Pulvis et umbra sumus, Staub und Schatten sind wir –?

Ja, Staub und Schatten – Schatten und Staub! Robert Wolf hatte beides in jungen Jahren schon kennengelernt. Unter Staub, Schutt und Trümmern lag seine Jugend begraben, wie das Gärtchen Helenes jetzt unter schwarzem Schutt und Trümmern lag. Nun aber regten sich die verschütteten Quellen des Lebens wieder in der Tiefe und strebten, sich wieder hinaufzuringen ins holde Licht des Lebens. Sie haben eine große Kraft, diese Wasser, und vermögen viel. Den eckigen Granit schleifen sie zu glatten Kieseln, sie zerbrechen die starrsten Steinrinden – es ist ein schmerzliches Wühlen im Abgrunde; aber es ist ein Streben in die Höhe. Legt das Ohr an den Boden: ihr hört das dumpfe Rauschen immer vernehmlicher; es regen sich die dürren Ranken,[540] sie fühlen das belebende Element an den Wurzeln; welch ein Wunder! – Gestern war noch alles tot und verwelkt; nun ist über Nacht der Frühling gekommen; ein silberheller Strahl der Jugendlust schießt empor, spielt blinkend und blitzend im Strahl der Sonne. – Wieder einmal hat das Leben den Tod besiegt; laßt den Polizeischreiber Fritz Fiebiger immer bedenklicher das kluge Haupt schütteln, laßt den Sternseher Heinrich Ulex, laßt Juliane von Poppen Worte der Mißbilligung murmeln; klug sind die Alten, weise sind sie, aber sie sind nicht jung; sie können sich täuschen über das Wühlen in der Tiefe. Julius Schminkert, der Jüngling, allzusehr mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt, gab seine Ansicht von der Sache noch nicht zum besten; die Alten mußten sich gedulden.

Daß Helene immer stiller und träumerischer wurde, schob das scharfäugige Freifräulein allein auf die Sorge um den geisteskranken Vater; aber auch sie traf nicht das Richtige. Nicht allein die Angst um den kranken Vater beugte das holde Köpfchen ihres Pflegekindes, ein anderes erfüllte die kindliche Seele mit geheimnisvollen Schauern und Wonnen. Vor langen, langen Jahren, lange vorher, ehe in Deutschland die erste Eisenbahn von Nürnberg nach Fürth erbaut wurde, lange vor Errichtung des Bundestages hatte Juliane von Poppen in den schönen Wildnissen des Winzelwaldes dergleichen auch empfunden. Ach, die Eisenbahnen zogen die Kreuz und Quer ihre Schlangenlinien durch das grüne Deutschland, man kannte das ausgezeichnete Institut des Bundestages in seiner ganzen Vollkommenheit, die Königreiche der Griechen und Belgier waren errichtet worden, die Franzosen hatten ihren Karl den Zehnten über die Grenze komplimentiert, der brave Friedrich Wilhelm der Dritte hatte den Erzbischof von Köln auf die Festung setzen lassen, der liebenswürdige Friedrich Wilhelm der Vierte wollte den Vereinigten Landtag berufen: Juliane von Poppen und Heinrich Ulex waren sehr alt geworden.

Wieviel Bücher hat man über die Liebe geschrieben, wieviel Menschen sind über die Liebe zugrunde gegangen? Der Glaube versetzt Berge, aber die Liebe bedeckt das kahle Gestein mit[541] Grün und Blumen, läßt die hohen Zedern und Palmen emporstreben, läßt den silbernen Glanz der Quellen hervorsprudeln.

Wenn die Religion zum Dogma versteinert, so mag sie vor den akademischen Lehrstühlen gelernt werden, aber sie ist ein anderes geworden, und die Theologie weiß oft am wenigsten Bescheid um die Religion.

Wer hat jemals versucht, die Liebe zu lehren oder sie zu fangen in einem Lehrbuche? Die Liebe kann niemals versteinern, kann niemals dogmatisch aufgebaut oder analysiert werden. Von Ewigkeit her ist sie dieselbe gewesen, und in alle Ewigkeit wird sie dieselbe bleiben. Im Flusse ist alles andere. Was Glaube heißt, heißt morgen Aberglaube; aber die Liebe – die Liebe, die wir hier meinen – verändert nicht ihr Wesen.

Wie es im Orphischen Hymnus von der Gottheit heißt:


Zeus ist der erste, Zeus auch der letzte der Götter,

Zeus ist das Haupt und die Mitt', und von Zeus ist alles gegründet.

Zeus ist die Wurzel der Erd' und des sternbesäeten Himmels,

Zeus ein wehender Hauch, Zeus stürmender Flammen Gewaltschritt,

Zeus des Meeres tief unterster Grund, ist Sonne und Mondlicht,

Ist der König des Alls und urbewegende Grundkraft –


so mag es auch von der Liebe heißen. Wie an Krischna, die hohe Gottheit der Inder, ist das Weltall an sie gereiht, »wie an die Perlenschnur die Perlen«. Übrigens ist weiter nichts davon zu sagen.

Die Freundschaft zwischen Robert Wolf und Ludwig Tellering nahm auch immer mehr an Wärme zu, und eine ähnliche Neigung wie zwischen den beiden jungen Männern entstand zwischen Luise und Helene. Die mannigfachsten Bande verknüpften diese vier Kinder, welche in so verschiedenartigen Lebensverhältnissen aufgewachsen waren, immer fester miteinander.

Hart mußte Ludwig jetzt arbeiten, jetzt, wo Hammer und Hobel dem Vater durch die Flammen aus den alten, bis dahin so rüstigen Händen gerissen waren. Selten durfte der Sohn sich einen Augenblick Ruhe gönnen, wenn er den Mangel von dem kleinen[542] Haushalt fernhalten wollte, zumal da der Stolz der Familie jede Hülfsleistung, welche die Freunde boten, fest zurückwies.

»Wir danken Ihnen aus vollem Herzen, Fräulein«, sagte der Meister Johannes zu Juliane; »aber lassen Sie den Jungen nur; 's wird eine gute Schule für ihn sein und ihm nützlich sein fürs ganze Leben. Lassen Sie ihn sich rühren; er hat tüchtige Knochen. Wenn's nicht weitergeht, sollen Sie die erste sein, die uns zur Hülfe kommen soll.«

»Ihr seid ein hartnäckiger Gesell, Tellering«, antwortete das Freifräulein, ihren Krückstock auf den Boden stoßend; »übrigens wollte ich, ich könnte dem Tropf, dem armen Wienand, etwas von Eurem Trotz in die Adern jagen; der hat's hochnötig.«

Ähnliche Antwort gab der Meister dem Polizeischreiber auf allerlei Hülfsanerbietungen, und Fiebiger brummte fast noch ärgerlicher als Juliane; Ludwigs Augen aber schössen nach solchen Worten seines Vaters stolze Blitze, und das Handwerksgerät schien in seinen Händen ein eigenes Leben zu gewinnen. Glücklich der Mann, der im Kampf gegen das Elend – in jedem Kampf des Lebens auf solche Zauberwaffen vertraut; sie zerbrechen zuallerletzt; und wenn sie zerbrechen, hat der matte Kämpfer das Recht, die Arme über der keuchenden Brust zu kreuzen und den Göttern das übrige auf den Schoß zu legen; – er hat das Seinige getan, und das ist immer ein edel und köstlich Ding in jeder bösesten Stunde.

An der Hobelbank Ludwigs vernahm Robert auch noch mancherlei von Eva Dornbluth. Der junge Tischler erzählte nach, was Mariechen Heil sonst in der Hofwohnung erzählt hatte. Oft, wenn die Nacht vorrückte, wenn der Kranke und alles ringsumher still war, sprachen die beiden Jünglinge von ihrem Leben und ließen einander offen in die Tiefe ihrer Seelen blicken. »Ein Messer wetzet das andere, und ein Mann den andern!«

Jeder von beiden hatte das Seinige erlebt; jetzt fand zum erstenmal jeder von ihnen einen Freund, dem er nichts verschwieg. Von seiner Liebe zu der kleinen Marie sprach der junge Handwerker, von seinen durch das Unglück des Vaters[543] so plötzlich vernichteten oder doch in ferne Ungewisse Zukunft verwiesenen Hoffnungen und Plänen.

Von seiner Kindheit und ersten Jugend im Winzelwalde erzählte der Schüler des Sternsehers Ulex, von Eva Dornbluth sprach er mit zitternden Lippen.

Da war's, wo Ludwig den Hobel niederlegte und ausrief:

»O Robert, sie hat dir freilich einen großen Schmerz bereitet; aber sie hat nicht schuld daran gehabt. Ordentlichen Respekt muß man vor ihr haben; ich wollte, ich könnte besser ausdrücken, was ich fühle, wenn ich ihren Namen höre. Es ist mir immer, als sähe ich sie in der Ferne hoch hinschreiten – ihre Füße berühren den Boden nicht, es ist ein Nebel um sie, sie trägt ein langes weißes Gewand und einen goldenen Reif um die Stirn! Du hättest Marie von ihr erzählen hören sollen, die konnte es besser, als ich es verstehe. Als der Vater noch hier neben mir stand, hatte ich Freiheit, an diese beiden Mädchen zu denken; sie beide und meine Mutter und Schwester sind mir immer die höchsten aller Frauen gewesen. Ach Gott, aber nun ist's, als hätte ich einen Schlag mit dem Hammer vor die Stirn erhalten; dadrinnen liegt der Vater und stöhnt. O Marie, meine liebe Marie, verzeih, daß ich dir jetzt nicht immer auf deinen fernen Wegen mit meinen Gedanken folgen kann.«

Robert hielt die heiße Stirn mit der Hand: »Wie anders ist doch alles in so kurzer Zeit mit mir geworden! Was für eine Zauberin hat, als meine Mutter mich gebar, in der Hütte im wilden Walde ihr Wort über mich gesprochen, daß so vieles, so Wirres, Tolles mir begegnen konnte? Wenn alle Menschen soviel erleben, wie kommt's doch, daß man noch so vielen ruhigen und gleichmütigen Gesichtern in den Gassen begegnet? Aber es geht auch nicht allen so wie mir; wenn es wäre, könnte die Welt nicht so laufen, wie sie läuft; kopfunter, kopfüber müßte alles stürzen. Da komm ich aus der Wildnis, in meiner Leidenschaft blind wie ein wütendes Tier; ich weiß nichts, ich kenne nichts von der Welt, in die ich gerate; ich sehe nur die eine – eine Gestalt Evas. Von ihr geht ein blutiges Licht aus und fällt auf alles andere. Meinen Bruder hätte ich ermordet, wenn er[544] mir entgegengetreten wäre – wie nahe war ich jedem schrecklichsten Verderben! In dem Augenblick, wo ich in den blutigen Wogen versinken will, faßt mich die Hand, welche mich retten soll. O diese Hand, diese treue Hand! Wie soll ich ihr lohnen, was sie an mir getan hat? Von allen Seiten sind mir die besten Menschen zu Hülfe gekommen; – was war ich ihnen, daß sie sich meiner so annahmen? Eine Binde nach der andern haben sie mir sanft von den Augen genommen; von dem frühern Wolf aus dem Walde ist wenig übriggeblieben. Ach könnte ich doch meinem Bruder, könnte ich seiner Eva doch sagen, wie ganz anders alles geworden ist; ich möchte ihnen schreiben; aber sie sind wie verschollen –«

»Und meine Marie mit ihnen!« seufzte der junge Tischler.

»O Ludwig, du hast recht«, fuhr Robert mit erhöhter Stimme fort, »du hast recht; in der Ferne schreitet Eva Dornbluth wie auf Wolken. Sie streckt ihre Hand lächelnd und grüßend über das weite Meer; ich möchte diese Hand fassen, drücken und küssen; und doch ist alles, alles ganz anders geworden. Ich liebe die Braut, die Verlobte, die Frau meines Bruders nicht mehr; ich sehe klar, daß ich ein Wahnsinniger war. Die Waldgeister im Winzelwalde hatten mich verzaubert, aber der Zauber ist gebrochen. Ich habe eine heiße schwüle Nacht, eine Gewitternacht voll Donner und Blitz durchlebt; nun dämmert der neue Tag wieder, die Sonne geht auf; ein frisches kräftiges Wehen fährt durch die Welt, vor welcher ich mich nicht mehr fürchte, haucht durch meine Seele, die wieder gesund geworden ist. Ich fühle mich wieder so stark; ich möchte mich in das Leben stürzen und die ganze Erde durchstreifen, ich möchte stillsitzen, alle Weisheit der Welt zu erlernen – was möchte ich nicht alles? Ich fühle, fühle, daß ich noch lebe, daß die Jugend noch nicht vorüber ist.«

Trotz des schweren Gewichtes, welches die Brust Ludwigs belastete, mußte dieser doch lächeln. Er warf einen Blick nach der Seite hin, wo die Kammer des Vaters lag. Dann sagte er:

»Ja, sie ist leisen Schrittes gekommen, wie meine Marie einzutreten pflegte. Ich habe ihr den Stuhl gebracht, auf welchem meine Marie am liebsten saß. Sie hat sich darauf niedergelassen[545] und hat neben dem Bette des alten Mannes gesessen, wie ein kleiner süßer, trauernder und doch tröstender Engel. Sie ist sehr schön und sehr gut; es ist wahr, der Gedanke an sie mag einem wohl die Jugend und den Mut zu allem Guten und Tüchtigen zurückgeben.«

Robert hatte die Hand des Handwerkers mit eisernem Griff gepackt; seine Augen leuchteten, er atmete tief und schnell.

»Was sprichst du da? Von wem redest du? Wer hat dir das gesagt?«

»Was? Was?« fragte Ludwig lächelnd und seufzend zugleich. »Leute, welche mit gleicher Ware handeln und mit gleichen Bündeln auf der Schulter umherziehen, wissen schon umeinander Bescheid.«

»Was kannst du wissen; ich habe ja kaum acht Worte zu ihr gesprochen; wenn Eva früher in Poppenhagen an die Gartenhecke kam, wußte ich doch zu sprechen und von allem zu reden; ich bin niemals verlegen gewesen, und von allem, was ich in der Studierstube des Pastor Tanne gelesen und gelernt hatte, konnte ich ihr erzählen. Jetzt, wo ich doch von manchem viel besser Bescheid weiß, ist mir der Mund verschlossen; ich wage kaum das Auge zu erheben –«

»Grad wie ich, wenn Mariechen kam und meine Schwester besuchte!« flüsterte Ludwig. »Man hat das Seinige erfahren und weiß andere zu taxieren; ich habe dich bald herausgefunden, mein Junge.«

Die beiden Jünglinge beredeten das uralte unerschöpfte Thema noch manche Nacht; es war sehr unrecht von ihnen, daß sie das, was sie besprachen, so ganz unter sich abmachten und die Alten fort und fort im dunkeln tappen ließen.

Das Beispiel Ludwig Tellerings hatte aber auf Robert auch den guten Einfluß, daß letzterer sich ebenfalls gleichmäßiger und angestrengter seiner Arbeit widmete. Er fing an, sich seiner Laschheit zu schämen, wenn er den ungelehrten, einfachen Freund, welchen das Leben, wie er wohl fühlte, doch noch viel schwerer als ihn selber bedrängte, so tapfer, ungebrochen ringen sah mit den übergewaltigen Mächten.[546]

Der arme Ludwig liebte auch, und das Liebchen war ihm in scheinbar unerreichbare Ferne gerückt; aber sein Arm erlahmte deshalb nicht. Er wußte, daß der Vater sich nie wieder von seinem schmerzensvollen Lager erheben werde; aber der Hobel entfiel nicht deshalb der Hand.

»Non est ad astra mollis e terris via!« zitierte Robert Wolf wie der Sternseher Heinrich Ulex. »Ich will arbeiten gleich dem armen Ludwig!« rief er. »Habe ich es nicht schon empfunden, welch eine beruhigende Kraft in der Arbeit liegt?«

Und der Sternseher bemerkte mit großer Genugtuung, wie sein Schüler sich ganz plötzlich und wirklich unerwartet mit neuer Energie in die Bücher vertiefte. Als vorsichtiger Mann wartete er erst einige Tage ab, ob dieser neue Fleiß auch von Dauer war. Dann erst teilte er dem Polizeischreiber und dem Freifräulein das erfreuliche Faktum mit.

Das Freifräulein sprach bei erster Gelegenheit am Bette des Meisters Johannes, in Gegenwart Helenes, dem eifrigen Studenten ihre Befriedigung aus, und der Student faßte diesmal Mut und blickte mit ein klein wenig geringerer Scheu nach dem jungen Mädchen. Dieses aber wurde ungemein rot, und als es gleich darauf eine Frage beantworten sollte, gab es eine ziemlich verworrene Auskunft, und seine Stimme zitterte nicht wenig.

Viele glänzende Fäden umspannen das Sterbelager des alten Johannes Tellering und verloren sich aus der dunkeln Kammer in die ebenso dunkle, geheimnisvolle Zukunft.

Quelle:
Wilhelm Raabe: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Band 2, Berlin und Weimar 1964–1966, S. 538-547.
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