Einunddreißigstes Kapitel

Es wird ein neuer Hügel unter den drei Fichten aufgeworfen; Konrad von Faber hält eine Rede; Robert Wolf findet, was er nicht suchte

[675] Bis zum Ende des Herbstes kämpfte Eva Wolf mit dem Tode. Anfangs machte, wie es schien, die Ankunft des Jugendfreundes einen guten Eindruck auf ihr Befinden; das Fieber ließ nach, kehrte nur in immer größern Zwischenräumen wieder, die Kräfte nahmen zu, und auch die Hoffnung Roberts wurde immer größer. Den europäischen Arzt konnte dieser Wechsel täuschen, den weitgewanderten Konrad von Faber täuschte er nicht; der[675] Hauptmann wußte, daß die Kranke sich nicht wieder von ihrem Lager erheben, daß der Hügel unter den drei Fichten nicht allein bleiben würde. Er hatte recht; doch Robert wollte nicht daran glauben. Neben der Kranken saß der Bruder Friedrichs und redete mit ihr von der Vergangenheit und von der Zukunft. Diese beiden Menschen hatten keine Geheimnisse mehr füreinander. Alles, was uns hienieden abhält, uns einander, wie wir sind, zu zeigen, war zwischen diesen beiden nicht mehr vorhanden. Gefühle, Empfindungen, die Robert selbst den Freunden auf dem Observatorium des Sternsehers zu offenbaren gezögert hätte, legte er Eva offen dar. Ausführlich vernahm er die Geschichte seines Bruders, wie Fritz zusammen mit Eva gekämpft hatte, wie er unterlegen war; – ausführlich erzählte er selbst der Frau des Bruders den eigenen Lebenslauf, die eigene Entwickelung seit dem Tage, an welchem er sie in der großen Stadt gesucht und wieder verloren hatte, um sie jetzt in Wahrheit zu finden. Von dem Polizeischreiber Fiebiger, von dem alten Ulex, von dem Freifräulein von Poppen, von Helene, dem Baron Leon und dem Bankier berichtete er, und mit immer gesteigerter Teilnahme horchte Eva.

Als sie alles wußte, sagte sie:

»O lieber Robert, sei getrost! Aus dem, was du mir erzählst, merke ich, daß sie dich liebt, wie ein Weib lieben muß. Verzweifle nicht – ihr Herz wird nicht von dir lassen, und das ist allein das Wahre. Sie wird auch schon ausharren und dich mit ihrem Herzen erwarten. Wir Frauen sind sehr schwach; aber wir können auch sehr stark sein. Ihr Männer sagt zwar auch, daß ihr hofft; aber wie häufig täuscht ihr euch und rechnet da, wo ihr zu hoffen meint! Es ist nicht anders, und es wird auch wohl so gut sein. Große Schmerzen können wir Frauen ertragen, nur die Liebe muß dabeisein; ohne die Liebe sind wir nichts. Mein Leben ist ein kräftiges Beispiel davon, was die Liebe und die Hoffnung bei uns Frauen vermögen. Sei getrost, Bruder; ich habe dir einst gesagt, du würdest das rechte Herz finden, welches niemand dir rauben könne, welches ganz dein eigen sei; du hast es gefunden. Was sich zwischen dich und dieses Herz[676] drängt, das sind irdische Gewalten; – die vermögen nichts, und durch irdische Gewalten können sie wieder aus dem Wege getrieben werden.«

Die Kranke schwieg eine Weile und versank in ein tiefes Nachdenken, dann sagte sie ganz leise:

»Hätte ich dich doch nicht hierher gerufen! Weiß ich es doch zu sehr, welche Qual es ist, wenn so weite Meere und Länder zwischen uns und dem schönsten Teile unseres Daseins liegen. Aber gedulde dich nur, vielleicht ist es doch gut, daß ich dich rief. Die Sterne lieben es, für uns zu wirken, während wir in der Ferne an ihnen verzweifeln wollen. Das habe ich so oft erfahren, an das glaube ich auch jetzt noch in der höchsten Not. Glaube den Sternen, Bruder, wir brauchen nun nicht lange mehr zu warten; jeder wird binnen kurzem seinen Pfad gehen – ich dahin, dort, wo der Tote lächelnd winkt, du weiter durch das Leben, zurück über das Meer, wo deine Sterne leuchten. Seit ich dich gesehen habe, seit ich deine Hand halte, ist eine unbeschreibliche Ruhe, ein Friede über mich gekommen, welche nur Gutes bedeuten können, Gutes für dich und mich; denn ich weiß sicher, ich wäre nicht so still, wenn es nötig wäre, um deine Zukunft zu sorgen.«

Robert versuchte es nicht mehr, der Schwester die Todesgedanken auszureden; aber desto mehr sprachen die beiden von ihrer Jugendzeit im Winzelwalde. Alle alten Erinnerungen riefen sie wach, während der kalifornische Herbstregen draußen vor der Hütte niederrauschte und der Sturm aus den Bergen herüberfuhr, die Gipfel der Riesentannen durchsauste und in den Wäldern hohe Zedern und Eichen wie dürres Reisig knickte. Oft fuhr Robert zusammen; doch die Kranke achtete den Orkan nicht, sie schien ihn gar nicht zu hören. Es kam ein Mann durch, welcher von gewaltigem Schneefall noch höher in den Bergen erzählte; Onion-Valley unter der Pilotenspitze sollte mit einer Bevölkerung von hundertundzwanzig Personen schon tief unter dem Schnee begraben liegen.

»Ganz so schlimm wird's hier nicht werden; aber frei werden wir auch nicht ausgehen«, meinte der Hauptmann.[677]

Eva Wolf kümmerte sich nicht um den drohenden Winter; in ihrer Erinnerung war es Frühling – Sommer. Den Waldbach, welcher durch das Dorf Poppenhagen rauschte, durfte keine Eisrinde bedecken; grün und sonnig blieb der Grasgarten zwischen dem Kantorhaus und der Pfarre – jaja, ewigen glänzenden Sonnenschein hatte Eva Wolf aus ihrem schönen Leben in das winterlich kalte dunkle Tal in Yuba-County gerettet!

Frei und hochsinnig blieb aber dabei ihre Anschauungsweise bis zum letzten. Sie klagte nicht: Ach wären wir doch nimmer aus dem Walde herausgegangen! – Trotz allem Schmerz der Gegenwart hätte sie doch nicht, wie sie sagte, gebrochene Adlerflügel gegen gesunde Taubenfittiche vertauscht.

Hier war ein anderes Streben nach dem Gold, den Herrlichkeiten, der Ehre und der Macht der Welt als dasjenige, welches sich in dem Bankier Wienand darstellte. Rücksichtslos, aber doch frei vom kalten, kahlen Egoismus hatte Fritz Wolf nach allem, was unter dem Himmelszelt dem Menschen wünschenswert erscheinen kann, gegriffen, und noch höher als der Mann hatte sich das Weib über den Staub und Schmutz der Erde erhoben. Beide gingen sie unter; aber sie stiegen tragisch in stolze Gräber nieder; sie klammerten sich nicht jammernd an das Leben und seine Hoffnungen; lächelnd winkten sie von der Pforte der Ewigkeit zurück. Um das Dasein und seine Schätze hatten sie gespielt, doch nur der Aufregung, nicht des Gewinnes wegen; der Kampf war zu Ende, und sie gingen davon, und Gegner, Zuschauer und Freunde neigten ernst, ergriffen, klagend die Häupter.

Gegen Ende des Herbstes starb Eva Wolf aus dem Winzelwalde, und Konrad von Faber und Robert bereiteten ihr die letzte Ruhestätte unter den hohen Fichten an der Seite Friedrichs. Alle die wilden trotzigen Gesellen unterbrachen ihre gierige Jagd nach dem kostbaren Metall und folgten der Leiche zu Grabe. Als der Erdhügel sich über dem wohlgezimmerten Sarge erhoben hatte, lehnte sich Konrad von Faber inmitten der Rothemden auf den Spaten und sprach:[678]

»Zwei neue Gräber auf dem jungen Boden! Da liegen die stillen Schläfer und horchen im Traum auf die Fußtritte des großen Volkes, welches kommt – Welle auf Welle – und einst hier wohnen wird. Ich rechne, Gentlemen, wir haben den, der sein Teil von Hitze und Kälte, von des Tages Last und Mühe getragen hat und nun ausruht, wie die beiden unter diesen Hügeln, nicht allzusehr zu bedauern. Ihr Part am Welt-business ist vorüber. Ihr Konto ist geschlossen, und drüben am andern Ufer werden die Toten das Boot loben, in welchem sie den Fluß kreuzten. Aber wenn sie auch in Sicherheit sind: der große Ladenhalter – shopkeeper der Welt – schließt darum sein Geschäft noch nicht; hat's auch fürs erste nicht nötig, denn die Fonds sind gut, und aufs Spekulieren versteht er sich. Ich sage, Gentlemen, dies ist eine gute Stelle, um zu liegen und auszuruhen und auf die Tritte der Kommenden zu horchen. Hört ihr die Schritte? Einzeln, zu zweien, zwanzigen – Tausenden, Millionen – the whole hog! Es wird eine Zeit geben, da wird die große Flagge der Zukunft hier entfaltet sein. Dann gibt es vielleicht ein England des Stillen Ozeans, welcher dann sehr lebendig sein wird. Wir nennen's heute Japan und stehen davor wie vor einem dunkeln stummen Rätsel. In jener Zeit werden gewaltige neue Nationen auf riesenhaften Schiffen zwischen den Ufern Asiens und Amerikas verkehren wie jetzt zwischen Hull und Hamburg, Dover und Calais. Da wird die Zivilisation ihren Lauf um den Erdball vollendet haben, und die alte Europa, einst eine so schöne, blühende Jungfrau, einst geliebt von Zeus dem Götterkönig, wird dann ein vertrocknetes Mütterlein sein, das uralte und alte Schätze und Andenken in altväterlichen Kommoden und Schränken und in der Schürze hält. Da werden die jungen Weltvölker kommen und sich Märchen und Historien aus vergangenen Tagen erzählen lassen. Berichten wird das Großmütterchen von Assyriern, Ägyptern, Chaldäern, Griechen, Römern und Germanen, von der Stadt Babylon und Jerusalem, vom Kampf um Troja, von der Stadt Athen, der Stadt Rom, der Stadt Berlin, der Stadt Paris und der größesten Stadt der Alten Welt, London. Und Gesänge wird sie singen von Hektor und[679] Achill, vom Fall der Nibelungen, von Hamlet dem Dänen, Macbeth und dem alten König Lear, vom Wallenstein und Tell, und zuletzt das große tragische Leid vom Faust. Da werden die jungen Völker immer von neuem grübeln und staunen über die versunkene Welt; aber der alte modus operandi wird das junge Blut auch immer weitertreiben, und nach den Sternen sehend, wird die Menschheit ihren Weg vollenden. Vollenden? Was kümmert's uns, was geworden ist, wenn die Schlange wirklich ihre eigene Schwanzspitze erschnappt hat? – Noch eine Schaufel voll Erde auf das Grab der Frau, welche wir heute begruben! Es ist geschehen – ihr Recht haben die Toten; rührt euch, ihr Lebenden, denn auch eure Stunde kommt. Je härter der Kampf um das Dasein, desto süßer die Ruhe. Auf, auf, Robert Wolf, fort mit der Träne aus dem Auge! Ein feuchtes Auge sieht nicht klar, nicht scharf, und man hat's nötig, scharf auszuschauen, solange man noch auf den Füßen steht. Gentlemen, wir danken euch für euer Geleit zu diesem Grabe. Gut Glück einem jeden!«

Die Goldgräber, die wenig genug von des Hauptmanns Rede verstanden hatten, drückten der Reihe nach Roberts Hand und zerteilten sich im Tal, um die unterbrochene Arbeit mit verdoppeltem Eifer aufzunehmen und die verlorene Zeit einzubringen.

Eine Weile standen Faber und Robert stumm bei den Gräbern; dann sagte der erste:

»Ich kalkuliere, wir bleiben bei dem besprochenen Plan. Den Emigrantenweg nach Missouri wird in einigen Wochen der Winter versperren, in San Francisco haben wir nichts zu suchen; – so warten wir denn hier auf den neuen Frühling, und währenddem, Herr, mögt Ihr Euer Glück auf dem ›Boden der goldenen Visionen‹ versuchen. Unglück in der Liebe, Glück im Spiel! Das Goldsuchen ist auch ein Spiel, und zwar, wie schon gesagt, Hasard wie irgend etwas. Also, Mann, ans Werk mit Schaufel und Spitzhacke. Benutzt die Zeit, welche Euch noch zur Arbeit übrigbleibt. Eures Bruders Claim ist noch nicht wieder besetzt; tretet ein für den Toten, und wenn Ihr[680] weiter nichts findet als müde Knochen und einen guten Schlaf am Abend, so ist das viel gewonnen bei Eurer jetzigen Gemütsstimmung.«

Robert sah ein, daß der Rat gut war, und so stieg er nieder in die Grube, welche sein Bruder gegraben hatte. Wasser zum Ausschlemmen der Erde hatte der Herbst in Fülle gebracht; die Handgriffe der angreifenden Arbeit waren bald gelernt, und Robert fand mehr als müde Glieder. Der Hauptmann rührte keine Hand; auf einem Stein oder Baumstamm sitzend, seine kurze Pfeife im Munde, sah er mit philosophischem Gleichmut zu, wie der junge Genosse sich abmühte und wirklich in kürzester Frist beträchtliche Schätze dem Boden abgewann.

»Es geht gut!« rief er bei jedem neuen Funde. »Nur zu, wenn Ihr auf dem Urgestein, dem Granit angekommen seid, werdet Ihr schon von selber aufhören. Teufel, mein Junge, wenn das so fortgeht, könnt Ihr drüben im alten Lande mehr als einen Affen tanzen lassen.«

Robert Wolf wühlte das Gold mit einer Art wilder Ironie aus der Erde. Einmal fiel ihm ein Stück von bedeutendem Gewicht in die Hand; er wog es in der Hand, und vor seinem Geiste empor stieg das Bild des Bankiers Wienand während der Zeit seiner Geisteszerrüttung; – schaudernd ließ er das gleißende Metall fallen und setzte den Fuß darauf, als wolle er es wieder in den Boden treten. Aber Konrad von Faber legte es zu dem übrigen und meinte:

»Eure Gedanken sind anerkennenswert, aber doch töricht. Wenn etwas jenem Spieß der griechischen Sage, der verwundete und zugleich die Wunde heilte, gleicht, so ist es das Gold. Wer weiß, welches Gewicht dieses Stückchen blankes Metall in der Waagschale Eures Glücks bedeutet? Wir leben in einer sehr realen Welt, mein Sohn, und obgleich wir keine Flügel haben, so wäre es doch durchaus ungerechtfertigt, wenn wir aus Ärger darüber auf dem Kopfe gehen wollten. Grabt nur zu, solange das Wetter gut ist, im Namen unseres alten Freundes vom Polizeibüro Nummer dreizehn, im Namen Fiebigers, grabt zu; über die Verwendung dessen, was Ihr findet, mögt Ihr nachher[681] daheim den weisen Mann vom Giebel des Nikolaiklosters um Rat fragen.«

Bald war der junge Goldgräber im Besitz dessen, was die Amerikaner im Lager a competency, ein zulängliches Vermögen, nannten. Für deutsche Begriffe war Robert Wolf ein reicher Mann geworden, und manch ein anderer Erdensohn hätte unter solchem Anlächeln der Göttin Fortuna jeden andern Kummer vergessen und wäre sehr mit seinem Schicksal zufrieden gewesen.

Robert freute sich nur insofern, als er jetzt seinem Pflegevater, dem alten Fiebiger, das Leben behaglicher machen konnte.

Während der wenigen Wochen, in denen Robert im Schweiße seines Angesichts grub, jagte der Hauptmann, allein oder in Gesellschaft mit andern, Europäern, Amerikanern oder Pikosindianern. Nachts aber fanden sich die beiden Männer am Feuer in der Blockhütte zusammen, tauschten die Erlebnisse des Tages gegeneinander aus oder besprachen anderes, welches zugleich ferner und näher lag. Bald machte der Winter die Arbeit in den Goldgruben unmöglich, und willig ließ Robert trotz seines Glückes Schaufel, Hacke und Schwemmpfanne sinken.

Schnell verging die Zeit in dem Blockhaus, und auf den Winter folgte der neue Frühling.

»Diejenigen irren«, sprach eines Abends Konrad von Faber, »welche meinen, die Gesellschaft gehe durcheinander wie Mäusedreck und Koriander. Es ist Methode in allem, auch darin, wie die Infusionstiere in einem Wassertropfen sich gegenseitig auffressen. Je mehr man das einsieht, desto weniger ärgert man sich. Es gibt keinen Menschen in der Welt, welcher nicht einem andern im Wege steht, und darin liegt unter Umständen auch ein Trost, Bob. Da ist Euer und mein Freund Fiebiger in seiner Polizeistube; ich kalkuliere, der Mann hat Euch öfters dasselbe gesagt.«

»Sie haben recht, Herr von Faber«, sagte Robert seufzend. »Aber es ist doch sehr traurig.«

»Bah, das sagt Ihr jetzt, wo Herr Leon von Poppen die Oberhand,[682] die beste Karte im Spiel hat; träte das Gegenteil ein, was gar nicht so unmöglich ist, so würde es freilich heißen: Was ist, ist gut, es ist nicht mehr als billig, als daß sich das Laster und der Herr Baron zu dem Spucknapf in die Ecke zurückziehen.«

»Aber Helene?!« rief Robert. »Was soll sie denn in Eurer harten, selbstsüchtigen Welt? Ich gebe Euch recht, wir haben Waffen und Rüstung und sind daher nicht zu bedauern. Aber die Waffenlosen, die Wehrlosen? Sind sie nur ein Spielball derer, die da kämpfen können?«

Der Hauptmann nickte:

»Ja, da liegt der große Jammer, und weder Fiebiger noch Konrad Faber, welche, jeder auf seine Weise, nach der besten Welt gesucht haben, haben viel Sinn in dieses dunkle Kapitel gebracht. Hat Euch der Mann im Niklaskloster, hat Euch Ulex nichts darüber gesagt?«

»Er wies nach oben und sprach: Seht nach den Sternen!«

»So tut das und laßt mich und den Polizeischreiber ungeschoren! ... Übrigens gehen wir in acht Tagen nach San Francisco, um Euer Metall gegen Wechsel umzutauschen, und dann – zu Pferde, Sir! Unsere Zeit hier ist um, der Weg nach Osten ist frei; Ihr werdet sehen, Herr, wie solch ein Ritt über den nordamerikanischen Kontinent die Brust frei macht. Nehmt Abschied von den Gräbern, Wolf, und kümmert Euch nicht, wie die alte Frau drunten in San Francisco, weil niemand für sie sorgt. Die stolzesten Grabmäler werden in den Herzen der Menschen erbaut.«

Es kam der Tag, wo Robert zum letztenmal, mit entblößtem Haupte, unter den drei Riesenfichten stand.

»Lebe wohl, Fritz«, rief er. »Lebe wohl, Bruder! Früh haben uns unsere Sterne getrennt, hochherzig und edel bist du deines Weges gegangen; und als ich – ein armer unwissender Knabe – die Sterne falsch deutete, hast du nicht gelacht und gespottet, sondern liebend hast du mir auch aus der Ferne die treue Hand geboten. Körperlich waren wir voneinander geschieden seit unserer Kindheit; aber unsere Seelen haben sich wieder zusammengefunden, als wir Männer geworden waren. Ruhe sanft, Bruder;[683] ein leuchtend Beispiel sollst du mir sein, und vor jeder Schwierigkeit des Lebens will ich deiner gedenken! ... Lebe wohl, Eva, teure Schwester! Schwester, Schwester ...«

Tränen erstickten die Stimme des Trauernden; er ließ sich auf ein Knie neben dem Grabhügel nieder und beugte tief das Haupt. In Worten ließen sich seine Gefühle nicht ausdrücken. Konrad von Faber beobachtete den jungen Genossen aus einiger Entfernung; dann trat er auf ihn zu, und sanfter, als es sonst in seinem Wesen lag, sagte er:

»Laßt es nun genug sein, Freund! Von den Göttern wie von den Weibern mag es heißen: ferrum est, quod amant. Die Toten, welche unter diesen beiden Hügeln, Brust an Brust, begraben liegen, wollen nicht mit weinenden Augen beklagt sein. Erhebt Euch, wir müssen fort; die Maultiere warten, und Loatoa will Euch Lebewohl sagen.«

Einen letzten Blick warf Robert auf die Ruhestätten Friedrichs und Evas; dann folgte er festen Schrittes dem Hauptmann. Sie nahmen Abschied von der Chinesin, die Erbin ihres Hausstandes wurde, sie nahmen Abschied von den Bekannten, welche sie im Lager der Goldgräber gewonnen hatten, und in vier verschiedenen Sprachen wurde ihnen gut Glück auf die Reise gewünscht.

»Gut Glück auch euch, Kameraden!« rief Konrad von Faber. »Ihr Herren aus Deutschland, England, Frankreich und Spanien, ihr Herren Bürger der Union, ihr Herren Bürger von Mexiko, gut Glück! Möge im rechten Augenblick immer ein tüchtiger Platzregen auf eure Tollköpfe und Revolverzündlöcher fallen! Lebt so wohl, wie ihr könnt!«

Die Männer, welche den Wunsch verstanden, lachten. Loatoa vergoß einige Tränen; am Abend schlugen Faber und Robert ihr Lager wohl acht englische Meilen vom Hawk-Gulch im Walde auf, und in derselben Nacht wurde von einigen der Gentlemen, welchen der Hauptmann so gute Wünsche zurückgelassen hatte, der Versuch gemacht, den beiden Reisenden ihre Reise zu erleichtern und ihnen die Last ihres Goldes abzunehmen. Es fiel aber kein Regentropfen auf die Büchsen des Hauptmanns[684] und seines Begleiters; die Herren gaben ihre freundschaftliche Absicht auf, nachdem etwas Blut geflossen war, und zogen sich fluchend über die damned Dutchmen zurück. Glücklich vollendeten Konrad von Faber und Robert ihre Reise und zogen wohlbehalten mit ihren Schätzen in San Francisco ein.

Quelle:
Wilhelm Raabe: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Band 2, Berlin und Weimar 1964–1966, S. 675-685.
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