Achtes Kapitel

[312] Peter Uhusen stand auf von seinem Sitze auf dem Lumpensack. Er fuhr sich mit der verstümmelten Hand durch den gewaltigen Haarbusch. Er holte tief Atem und rieb sich mit der gesunden Faust die Stirn und seufzte:

»Und diese – dieses Weib wünscht von – mir, von einem armen Tropf gleich mir, was Genaueres darüber zu erfahren, wie Menschen in dieser Welt treppab und treppauf gehen! Und sie schämt sich ihrer Heldenhaftigkeit und unterschlägt sie mir uns, dem gewöhnlichen Plebs, und verweist uns auf ihre Memoiren an der Stelle, wo ihr Kampf mit Dummheit, Bosheit und Trivialität für uns Alltagspöbel noch interessanter wird. Mama, liebe alte Mama, so lasse ich dich noch nicht! So mir die Götter gnädig sind, ist es nicht das letzte Mal, daß ich auf diesem Sack sitze und von diesem Keller aus die Erde endlich einmal im vollen Lichte liegen sehe! In Untermeidling habe ich mein liebes Weib auf dem Kirchhofe und Busch und Baum und im Sommer Weinlaub um Fenster und Tür und im Herbst Trauben und süddeutschen Himmel im Sommer und Winter über dem Dach. Sie sind eingeladen, das für die schönste Zeit des Jahres – für alle Zeit, solange es Ihnen gefallen mag, Mutter Cruse, mit diesem Keller zu vertauschen; aber für mehr als eine Winternacht hier im Keller mit der widerwärtigen Gasse draußen lade ich mich selber jetzt wieder bei Ihnen zu Gaste, Mama. Oh, und ich wollte, ich könnte noch meine Frau mitbringen!«

»Wie Sie zu der gekommen sind, wollten Sie mir erzählen,[312] lieber Sohn«, sagte die alte Dame. »Ob wir zwei uns noch einmal unterm Rebendach oder im Lumpenkeller zusammenfinden und beieinanderhocken, das ist wohl nur eine Kuriosität. Aber wissen muß man, was neu zur Gesellschaft kommt! Der letzte Althändler sortiert da auch und rechnet nicht jeden, jede und jedes nobel zum alten Eisen.«

»Aus dem Feuer habe ich mir die Kastanie geholt«, rief Peter Uhusen, die verstümmelte Hand erhebend und damit auf die schwarze Nase und das verbrannte Auge deutend. »Es war eben eine heiße Zeit für den alten östreichischen Schmied von Jüterbog an der schönen blauen Donau. In Ungarn hatte er in der Artillerie Kriegsdienste getan, wie ich in den Veruneinigten Staaten. In Italien war er mit seinem Kaiser gewesen und hatte sein Geschütz in den fatalsten Schlachten sauber bedient. Vor Tod und Teufel fürchtete er sich nicht; aber mit seinen Gläubigern wußte er durchaus nicht umzugehen.«

»Das haben manche Leute so an sich«, sagte Frau Wendeline.

»Und also war es ein Glück, daß sein Mädchen auf mich verfiel, der sein lebelang auf das lieblichste mit dergleichen Halunken zu verkehren wußte. Sind Sie einmal in Wien gewesen, gnädige Frau?«

»Nur im Fluge.«

»Also sind Sie in Grinzing wahrscheinlich nicht bekannt. Im Krapfenwäldchen auch nicht und im Buchenwald über Schloß Reisenberg ebenso. Spukte es dort noch odisch-magnetisch vom seligen Freiherrn von Reichenbach her, ich kann's nicht sagen; aber was Magnetisches war an jenem Tage sicherlich dabei und in der Luft. Dort war's, wo ich mit meinem besten Theatertenor aus dem Busch trat und mich dem alten Hausrucker wie seinem Kinde ins Herz krähte. Ein Fäßlein Gumpoldskirchner hatte er zu Ehren von seines Töchterleins Geburtstage aufgelegt im Walde, und seine Zugharmonika hatte er mitgebracht. Na, Sie kennen mich, Mutter Cruse, und wissen, daß ich verstehe, mich den Leuten vorzustellen und gleich von der hübschesten Seite zu zeigen. Diesmal gehörte ich nach zehn Minuten vollkommen zur Gesellschaft; denn so wie diesmal hatten Licht, Luft, Landschaft,[313] Tagesstunde und Menschen seit lange nicht zu mir gestimmt. Nachdem der Meister einen Augenblick der Abendsonne wegen die Hand über die Augen gehalten hatte, legte er sie mit militärischem Gruß an die Stirn und sagte: ›I hab die Ehr, Herr Kamerad, und es ist mir ein Vergnügen auf ein Glas Gumpoldskirchner, und die Madeln haben auch nichts dagegen.‹ – Mama, ich schmeichle mir, auch Sie hatten nichts dagegen, als ich kam. Die Damen haben gottlob immer selten etwas gegen mich einzuwenden gehabt, wenn ich gekommen bin. Kinder, wer da weiß, was er euch schuldig ist, sich nicht zu grausam vor euch fürchtet, nicht zu albern den Narren oder das Tier herauskehrt, der kann sich schon bei – euch Madeln angenehm machen. Auch noch als Veteran aus dem nordamerikanischen Sklavenkriege! Die Dümmsten von euch wissen hier noch immer sofort herauszufinden, wer von uns armen Sündern seine beste Zeit noch vor sich und für euch zur Verfügung hat. Selbstverständlich hatte ich auf dem Wege zum Kahlenberg hinauf den Alten am Arm und zog selber im Zug die Zugharmonika. Und noch selbstverständlicher hatte ich auf dem Heimwege den Volksmusikblasebalg wieder abgegeben und führte vom Leopoldsberg hinunter die Kleine im rosa Sommerkleide nach Nußdorf. Am folgenden Abend wußte ich in Untermeidling in der Werkstatt und dem Haus- und Schuldenwesen des alten Feuerwerkers Joseph Hausrucker ziemlich Bescheid, aber unter seinem verzauberten Birnbaum hinten im Hausgarten völlig. Bei allem, was lieb und herzig ist, war der Birnbaum richtig verzaubert! Und wer diesmal klebenblieb für Zeit und Ewigkeit, das war Ihr Herr Schmied aus Jüterbog, Mama Cruse! Anfangs saßen wir zu drei auf der Bank unterm Baum, der Alte, sie und ich, und nimmer logen zwei Konstabuler wie der vom Po und der vom Potomak einander so die Jacke voll. Nachher, als wir zu zweien saßen, sie und ich, habe ich mir Gewissensbisse genug darüber gemacht. Sie hatte auf ganz andere Dinge zu achten als auf unsere Abenteuer zu Wasser und zu Lande. Das arme Ding war eben nicht anders und besser dran als wie Sie, Mutter Cruse, wenn Sie in Sorgen und Bängnissen hinter der Szene die Groschen und Pfennige zählten, während wir andern[314] leichtsinnigen Hanswürste draußen am Seil hingen und nicht wußten – wohin mit der Freud. Man kann den Tod und den Teufel im Sack haben und bei allem eigenen Lebensmut seiner liebsten und nächsten Nachbarschaft denselben vollständig nehmen.«

»Es ist gut, daß Sie es wissen, wie sehr Sie da recht haben, lieber Schmied«, seufzte Frau Wendeline.

»Weil ich's wußte, bin ich ja auf der Bank klebengeblieben und habe bei der Gant auf den Birnbaum im Garten, den Garten selber, das Haus, des Kaisers alten tapfern Feuerwerker und – das Kind mitgeboten und gottlob das letzte Wort und höchste Gebot gehabt. Es kam alles glücklicherweise billig weg; und als mein Mädchen mit Tränen fragte, ob es – es, Mutter Cruse!, das Gebot wert sei, da habe ich bloß einen Augenblick eine seiner goldenen Flechten in der Hand gewogen und sie ihm dann unter das süße, betrübte Wiener Näschen gehalten.«

»Sie sollen leben, Schmied von Jüterbog«, murmelte die Frau Wendeline.

»Nun ja«, seufzte der lange Peter melancholisch, »zuerst ging es damit an – mit dem Leben nämlich. Die Welt ist nicht lauter Zugharmonika, Straußsche Walzer und Übers-Faß-Rutschen beim heiligen Leopold, und der graue Kamerad gehörte eben zu den Glücklichen, die das nicht einsehen wollen und können. Nun ja, ich habe ihn recht vergnüglich zu Tode füttern dürfen, meinen braven Schwiegerpapa; und an dem gewohnten Getränk hat's ihm auch nicht gefehlt bis zum letzten. Ich war lange genug als Vagabund in der Welt herumgefahren, um ihm dankbar zu sein als ein guter Sohn für den Unterschlupf in seinem Haus und in seiner Tochter liebem Herzen! Als ich an seiner verpufften Feuerradshülse stand, hat's mir ebenso leid wie seinem Kind getan, daß sich das Ding nicht länger vergnüglich drehte. Und nachher habe ich sein Geschäft mit seinen und meinen Humoren fortgesetzt, und zwar in verbesserter Auflage. Sie hätten es damals, als ich als der verlaufene junge Herr Schmied aus Jüterbog unter Ihre Flügel kroch, wohl nicht für möglich gehalten, daß sich dieser Tagesschwärmer und Nachtfalter noch einmal, und gar im lustigen[315] Wien, zu einem soliden Geschäftsmann durchfressen sollte – seinem Weibe zuliebe? Beide Fäuste gäbe ich darum, Mama, wenn Sie heute das Kind, mein Weib, mein liebes Weib, darum fragen könnten, Mutter, liebe Mutter Cruse.«

»Alles habe ich dir zugetraut, mein guter Sohn, mein tapferer Sohn! Ach, Schmied aus Jüterbog, unter allen Umständen ist Ihre Art, im alten Eisen anzulangen, nicht die trostloseste, glauben Sie es mir!« seufzte die alte Dame, ihre Augen trocknend.

»Ja, im alten Eisen!« rief der Schulbankgenosse des Herrn Hofrats Dr. Brokenkorb. »Es ging heiß her im Kampf um Soll und Haben in unserer jungen Ehe. Mußten mir die Gliedmaßen, die ich aus dem amerikanischen Sklavenkrieg heil davongebracht hatte, hier an die Wände und gegen die Decke des Laboratoriums von Hausrucker und Kompanie fliegen! Es gab auch einen recht netten Krach dabei, der mir mein jung blühend zweites Leben von der Bank unterm Birnbaum im Garten im Sprung in den Qualm, das Kopfunter, Kopfüber der höchst überflüssigen Zündmasse-Explosion hineintrieb. Solange ich Atem hole, werde ich den süßen Atem meiner jungen Frau auf meinem Gesicht spüren, wie sie mich faßte und nach Leben und Tod auf der gebratenen, blutenden Alt-Söldner-Fratze suchte. Mama, es war wahrhaftig nichts Besonderes, in dem Moment dem Liebchen zu sagen: ›Herz, es hat nichts auf sich!‹ und dem Esel von Lehrbub, der das Unheil angerichtet hatte, den nächsten Wasserkübel über den Kopf zu stülpen. Ach, ja, meiner Schönheit wegen nahmen Sie mich seinerzeit auch nicht, Mutter Cruse; und was mein Donauweiblein anbetraf, so genügte es, daß es mit jedem Rest davon zufrieden war.«

Der Erzähler stand jetzt und reckte sich und schien die unverletzte Faust noch einmal auf ihre Kraft zu Abwehr und Angriff im Lebensgeschäft zu prüfen. Die alte Dame wühlte im dunkelsten, unheimlichsten Winkel ihres jetzigen Geschäftslokals unter ihren Handelsartikeln. Ohne sich an das Geklirr und Geklapper, welches sie in der Tiefe ihrer Höhle verführte, zu kehren, sprach Peter Uhusen weiter hinein in die Finsternis und den durchaus nicht lieblichen Moderduft des Abfallkellers.[316]

»Ach Mama, Mama Cruse, Sie hätten dabeisein müssen, als sie, meine Frau, mein Weib, mein liebes Mädchen, sich noch solch einen argen Abzug an meiner Holdseligkeit gefallen lassen mußte. Sie vor allen, Mutter Cruse. Denn wenn jemand außer der Emerenz in den gemütlichsten, behaglichsten Stunden, Tagen und Wochen meines Daseins mir mit am Bette hätte sitzen sollen, so wären Sie die Person gewesen. Das Kopfende ließ sich freilich durch anderthalb Monde bei Tag und bei Nacht Emerenz Uhusen nicht neh men; und so hab ich's, zerfetzt, halb gebraten, halb blind, in Erfahrung gebracht – endlich im Leben in Erfahrung gebracht, wie behaglich es tut, sich gut gebettet zu haben!... Und nun soll ich wohl Ihnen das Nähere und Weitere davon berichten, wie ich an meiner Frauen Kopfkissen neulich zur Vergeltung zu sitzen hatte und wie ich sie gut betten mußte – oh, so gut, so weich, so tief und so in die Stille, daß sie sehr töricht wäre, wenn sie fürs erste den Kopf wieder unter der Decke vorstreckte?! Es ist ganz mit rechten Dingen zugegangen, wie ja alles in der Welt so zugehen soll. Aber – liebe alte Mutter, fragen Sie jetzt nicht weiter danach, wie sie mir nur zu tief, zu sanft einschlief und vorher nur sagte: ›Behalte mich lieb, ich habe dich auch liebgehabt, Peter.‹ – Jaja, Mutter Cruse; zwei saubere Lebensveteranen finden wir uns wieder! Zerhauen, zerfetzt am Leibe und kummervoll in der Seele und einsamer denn je auf dem Wege. Wer von uns beiden hat nun noch mehr als ein stoisch, stumpfes Achselzucken für den guten Freund? Ich oder Sie bei den Lumpen und Knochen?«

»Und – im alten Eisen!« sagte Frau Wendeline Cruse, die nunmehr das, was sie suchte, unter ihrem Vorrat gefunden hatte und fürstlich, königlich wie in ihren besten Lebenstagen und an ihren stolzesten Bühnenabenden vor ihrem Herrn Schmied aus Jüterbog stand, und zwar gestützt, mit beiden Händen am Griff, auf den alten Degen, den sie vorhin in der Überraschung dieses Wiederfindens hinter sich in ihr altes Eisen geschleudert hatte. Und seltsamerweise fragte sie dazu: »Und jetzt kommen Sie natürlich von Lübeck, mein armer Schmied von Jüterbog?«[317]

Uhusen sah sie nur einen Augenblick verwundert an, dann aber sagte er gleich mit vollstem Verständnis der Frage:

»Der Tröstungen der süßen Heimat wegen? Nein, Mutter Cruse, nur bis Mölln kam ich, wo mir ein altes Gedenkzeichen aus der Jugendzeit, ein Stock, den ich vor Jahren aus einer lübischen Hecke geschnitten hatte, bei einer letzten, braven alten Tante noch im Winkel stand. Was die Vaterstadt anbetraf, so schnarrte es seltsam in Mölln unter einem alten Grabstein mit Eule und Spiegel hervor: ›Nimm Rat an, alter Junge, Bruderherz! Bin ich nach irgendeinem Daseinsjammer und -jokus jemals wieder in Kneitlingen gewesen? Hat mein Chronist mir je solch ein Wagnis nachweisen können? Was willst du suchen, und was kannst du finden da – zu Hause, Bruder Schmied aus Jüterbog? Gehst du im Katzenjammer hin, so schneiden dir die alten Gassen, Plätze, Häuser und Türme sehr kuriose Gesichter und verhelfen dir trotz allem Kindheitsglockenklang wahrlich nicht zu einem tröstenden sauern Hering. Wünschest du aber mit deinen Lebenstaten und -errungenschaften großzutun, na, so halt dich meinetwegen an die Menschen, alte und neue; ich bin fest überzeugt, du wirst dich nicht lange über die erste Wirtshausrechnung und Herzerleichterung hinaus im versunkenen Jugendvineta aufhalten. Höre Vernunft, Uhusen; laß die Toten von den Toten begraben worden sein. Der alte Papa und die Tante Gottliebe, und was sonst dazu gehörte, werden es dir nicht übelnehmen, daß du ihnen nicht auf den Kirchhöfen nachkriechst, um ihnen von den goldenen Flechten und blauen Augen unter dem grünen Hügel in Untermeidling zu ihren verwahrlosten Ruhestellen hinunterzuflüstern. Wir warten schon in aller Ruhe, daß man uns nachkommt: ich für mein Teil seit dem Jahre eintausenddreihundertundfünfzig. Was willst du noch zu Hause, Peterchen aus der Fremde? Vielleicht auf hie und da einen gemütlichen Frühschoppen, auf eine behagliche Kneipnacht an den alten bekannten Orten über und unter der Erde dich vertrösten? Probiere es nicht, rate ich. Es ist nicht anzuempfehlen, sich zu abgestandenen Krügen und altgewordenen Jugendbekanntschaften zu setzen. Halt dich an dein jetziges Blau-, Grün- und Rotfeuer,[318] suche deinen Raketensatz lieber überall anderswo als in der Stadt Lübeck zu verstärken. In Berlin zum Exempel haben sie einige Lichteffekte, von denen ihr selbst in Wien noch nichts wißt. Da es nicht anders sein kann, reise ruhig in – Geschäften! Gehe nach Berlin, es ist das beste, so wahr ich – hier aufrecht vor dir begraben stehe.‹ – Mama Cruse, das gab den Ausschlag. Da sie wirklich in Lübeck nichts wissen konnten von Frau Emerenz Uhusen, bin ich einfach – in Geschäften in Berlin.«

»Aber einen alten Bekannten aus der Heimatstadt gedachten Sie doch auch hier am Orte aufzusuchen? – auf die Gefahr hin, sich auch hier zu abgestandenen Schoppen und Freundschaften einzuladen.«

»Jawohl«, brummte der schwarze Peter. »Es ist dann und wann auch in der Neuen Freien Presse von dem großen Mann, dem berühmten Menschen Albin Brokenkorb die Rede. Wir sind gute Freunde gewesen und auseinandergekommen, wie man so im Leben auseinanderkommt. Was eine Wirklichkeit war, wurde zu einem Namen, einem Klang und blieb lange Jahre weiter nichts als das. Dann aber wird bei Gelegenheit solch ein Klang wieder zu – zu einem Schatten, auf den man sehen kann, auf den man hinsieht und der, je länger man auf ihn hinsieht, desto mehr Knochen, Blut und Fleisch bekommt. Zu gelegener Zeit faßt man dann mal die ganze Erinnerung in ein Bündel von Wehmut, Ärger, Anhänglichkeit und dem Bedürfnis, nachträglich noch eine Tracht Prügel auszuteilen, zusammen; und – so haben Sie recht, Mama, ich habe, wenn auch keine Sehnsucht, so doch ein Verlangen nach dieser Jugendfreundschaft gehabt. Und gestern abend schon war ich vor der Tür des alten Jungen. Er hat mit seinen Talenten zu wuchern gewußt; na der Himmel segne ihm seine Glorie! Da ich ihn nicht zu Hause traf, habe ich ihm meine Visitenkarte dagelassen. Meinen Weißdorn aus dem Altjungfernwinkel zu Mölln.«

»Einen Knüppel haben Sie dem Herrn Hofrat Brokenkorb in die Stube geschickt?« rief die Frau Wendeline.

»In Lübeck hatte ich ihn stehenlassen, ehe ich in die Welt, zu den Hannoveranern, zu Ihnen, Mama, in den Sklavenkrieg und[319] nach Untermeidling ging. In Mölln hat ihn mir, wie gesagt, meine letzte kimmerische Tante aus dem Winkel geholt und gesagt: ›Der ist aus dem Nachlaß der Tante Gottliebe, und es hing früher ein Zettel dran, daß er für dich aufgehoben werden sollte.‹ – Albin wird sich der Bocksfratze am Griff auch wieder erinnern.«

»Da, Peter Uhusen!« rief die Frau Wendeline, ihren Gastfreund gegen die Treppe ins hellere Licht ziehend. »Ich wollte dich damit zum Ritter schlagen, nun aber frage ich dich nur: sollte nicht auch dies einiges Interesse für den Herrn Doktor Brokenkorb haben?«

Sie gab den Degen dem Gast in die Hände. Der lange Peter nahm ihn mit einigem Erstaunen und besah natürlich zuerst den Griff, an dem die Parierstange abgehauen war, was ziemlich sicher dartat, daß die Klinge wirklichen Dienst gesehen und in der Männerschlacht mitgefunkelt habe.

»Ja, geh nur damit ins Licht!« murmelte die alte Dame. »Ins Licht, so hell es der Tag und der Kehrichtkeller der alten Extheaterdirektorin, der Frau im alten Eisen, zu bieten haben. Wundere dich nur, wie eine andere Regie ihre Requisiten zu Lustspiel und Trauerspiel in Ordnung hält. Die Klinge, die Klinge, Peter Uhusen aus Lübeck!«

Und die Waffe zitterte in der Hand des starken Mannes, als jetzt sein Auge an dem alten Eisen niederglitt und er auf der einen Seite der Klinge las:

»1848, 9.April – Bau. – 1849 – Kolding, Gudsö – Fridericia.«

Und auf der andern Seite:

»Armee von Schleswig-Holstein. Wolfram Hegewisch.«

Peter Uhusen fuhr mit der verstümmelten Hand über die Stirn:

»Hegewisch!... Erdwine Hegewisch!... Ich träume dies!... Der Herr Leutnant... die Frau Adele – großer Gott, Erdwine Hegewisch! Albin, Albin! Das Haus und der Garten an der Trave, mein Vater, die Tante Gottliebe – die Frau Senatorin! Frau, Freundin, Mama Cruse, beste Mutter Cruse, wie kommen Sie zu dieser Plempe, dieser sonderbaren, teuern Klinge, die ich[320] so oft in den Händen gehalten habe, die mir durch meine besten wundervollsten, lächerlichsten und abschmeckendsten Jugendtage blitzte?«

»Wie man im alten Eisen zu solch einem alten Eisen kommt, Herr«, sagte Frau Wendeline ohne alles Pathos, aber dafür mit desto echterm Ernste.

Quelle:
Wilhelm Raabe: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Band 6, Berlin und Weimar 1964–1966, S. 312-321.
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