Neun und Zwanzigstes Kapitel.

[100] Inhalt des Briefs den Grandgoschier dem Gargantua schrieb.


Wiewohl der Eifer deiner Studien erfordert hätt, daß ich annoch in langer Zeit di nicht von dieser deiner philosophischen Ruh abziehen sollte, so hat dennoch das Vertrauen in unsre alten Freund und Bündner gegenwärtig die Sicherheit meines Alters hintergangen. Und weil nun dieß des Schicksals Schluß ist, daß ich von Denen, derer ich mich zumeist getröstet, betrübt soll werden: zwingt mich die Noth zum Schutz der Land und Leut die durch natürliches Recht dein eigen sind, Dich heim zu rufen. Denn gleichwie äusserliche Wehr unmächtig ist wo guter Rath nicht im Hause wohnet, so bleibt auch das Studiren vergebens und der Rath unnütz, wenn er nicht zur rechten Zeit durch Tugend vollstreckt und ins Werk gesetzt wird. Mein Zweck ist nicht Beleidigung, sondern Sühn; nicht Ueberfall, sondern Vertheidigung; nicht Eroberung, sondern Verwahrung meiner treuen Untersassen und Erblandschaften. In welche Pikrocholus ohn allen Grund noch Anlaß feindlich eingebrochen, und noch tagtäglich sein wüthigs Treiben mit freyen Leuten unerträglichem Unfug fortsetzt.

Ich hab mich verbunden geacht und hab ihm zu Begütigung seiner cholerischen Tyranney alles erboten was ich nur dacht daß ihm genehm wär, auch bey ihm zu mehren Malen durch gütliche Botschaft erkundigen lassen worinn, durch wen, und wie er sich für beleidigt hielt: hab aber nichts als frechen Trutz von ihm zur Antwort erhalten können, und daß er nur mein Land begehrt' weil es ihm[100] anstünd. Daraus ich dann ersehen hab, daß ihn dermalen der ewige Gott in die Gewalt seines Eigen-Dünkels und freyen Willens gegeben hat, welcher nicht anders als bös seyn kann wenn er durch göttliche Gnad nicht stets regiret wird, und ihn mir zur Beschwer gesendet, damit er soll bey gutem erhalten und zur Erkenntniß geführet werden. Derhalben, vorgeliebter Sohn, des ehesten so dir nur möglich, alsbald auf Lesung dieses Schreibens komm fördersamst zurück zum Beystand (nicht so wohl meiner, welches du gleichwohl, kindlicher Lieb nach schuldig bist) als der Deinigen, die du von Rechtswegen beschützen und schirmen magst. Mit mindest möglichem Blutvergiessen wolln wir die Sach zu schlichten suchen, und wo nur thunlich auf kürzerem Weg, durch Handstreich und durch Kriegeslisten alle Seelen erretten und fröhlig in ihre Heimath ziehen lassen.

Vielgeliebter Sohn, der Friede Christi unsers Erlösers sey mit Dir. Grüsse von mir den Gymnastes, Eudämon und Ponokrates. Den zwanzigsten September. Dein Vater Grandgoschier.

Quelle:
Rabelais, Franz: Gargantua und Pantagruel. 2 Bände, München, Leipzig 1911, Band 1, S. 100-101.
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