Sieben und Funfzigstes Kapitel.

[168] Wie der Thelemiten Lebensart regulirt war.


Ihr ganzes Leben ward nicht geführt nach Satzung, Regel noch Statuten, sondern nach eigner freyer Wahl. Stunden[168] vom Bett auf wann ihnen gut schien; tranken, assen, arbeiteten, schliefen wann sie dazu das Verlangen ankam. Keiner weckt' sie, keiner zwang sie weder zum Trinken noch zum Essen, noch sonst etwas. Denn also war es vom Gargantua eingerichtet. In ihrer Regel war nicht mehr als dieser einige Fürbehalt:


THU WAS DU WILLT.


Weil wohl geborene, freye, wohl erzogene Leut in guter Gemeinschaft aufgewachsen, schon von Natur einen Sporn und Anreiz der sie beständig zum Rechtthun treibt und vom Laster abhält in sich haben, welchen sie Ehre nennen. Diese, wenn sie durch niedrigen Zwang und Gewalt unterdruckt und knechtisch behandelt werden, richten nun den edlen Trieb aus welchem sie frey nach Tugend strebten, auf Zerbrechung und Abwerfung dieses Sklavenjoches. Denn wir trachten allzeit nach dem Verbotenen, und uns gelüstet nach dem was versagt ist. – Aus dieser Freyheit erwuchs in ihnen ein löblicher Wettstreit Alles zu thun wovon sie sahen daß es dem Einen angenehm war. Wenn Einer oder Eine sprach: Lasset uns trinken, so tranken sie Alle. Sprach er: Lasset uns spielen, so spielten sie Alle. Sprach er: Kommt ins Feld spazieren, so gingen alle gleich hinaus. Wollten sie auf die Vogelbaitz oder Jagd, so setzten sich die Frauen auf schöne Zelter, das Prunk-Roß zur Hand, und jede trug, zierlich behandschuht auf ihrer Faust einen Sperber, Habicht, oder Schmerling. Die Männer trugen die andern Vögel. So adlich waren sie all erzogen, daß unter ihnen auch nicht Einer noch Eine war, die nicht hätt lesen, schreiben, singen, musizieren, fünf bis sechs Sprachen reden und sowohl reimweis als in ungebundener Red darinn dictiren können. Niemals hat man so wackre galante Ritter ersehen, so fertig zu Fuß und Roß, so rüstig und regsam, so wohl in allen Waffen bewandert als es da gab.

Niemals hat man so stattliche Frauen, so artige, so wohlgelaunte, zur Hand, zur Nadel, ja zu jeder ehrlichen freyen weiblichen Kunst geschicktere Frauen gesehen als da.

Daher dann, wann die Zeit erschien daß Einer auf seiner Freund Begehren oder sonst einen andern Grund, aus diesem Stift austreten wollte, er eine der Frauen mit sich nahm,[169] die ihn etwann zu ihrem Getreuen erkoren hätt, und wurden dann zusamen vermählt, und hatten sie in Thelem treu und einig gelebt, so fuhren sie im Ehestand noch besser damit fort und liebten einander am letzten Tag ihres Lebens wie an dem ersten Hochzeittag. – Ich will auch nicht vergessen, euch noch ein Räthsel hie beyzuschreiben, das man im Fundament der Abtey auf einer großen ehernen Platten gefunden hat, und lautet wie folget:

Quelle:
Rabelais, Franz: Gargantua und Pantagruel. 2 Bände, München, Leipzig 1911, Band 1, S. 168-170.
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