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Mir fehlte etwas der Mut, zu diesem Jour zu gehen, aber Doktor Gerhard nahm mich mit. Ziemlich viele Leute, die sich in mehreren Räumen verteilten, die Frau des Hauses an einem gemütlichen Eckplatz hinter der Teemaschine, um die herum eine Anzahl junger Leute und Damen. Als wir eintraten, schwieg alles ein paar Minuten lang – ich merkte später, daß es jedesmal so war, wenn jemand Neues kam. Gerhard stellte mich vor und fügte statt meiner hinzu:

»Gnädige Frau, mein junger Freund heißt nämlich so.« Frau Hofmann empfing mich sehr liebenswürdig – ihr Mann habe ihr schon von mir erzählt. Dann wandte sie sich an die anderen: »Denken Sie nur, Herr Dame wußte bis vor kurzem nicht, daß er in Wahnmoching wohnte.«

Man betrachtete mich, wie mir schien, mit verwundertem Wohlgefallen, und ich war durch diese Bemerkung gewissermaßen eingeführt. Ich langweilte mich etwas, denn da ich niemand kannte, mußte ich vorläufig auf meinem Platz bleiben und Tee trinken. Gerhard machte vor einem jungen Mädchen halt – neben ihr auf einem[129] Tischchen stand ein grüner Frosch aus Porzellan oder Majolika – und sagte etwas wehmütig:

»Gnädiges Fräulein – Sie sollten eigentlich immer einen grünen Frosch neben sich sitzen haben.«

Dann ging er weiter von einer Gruppe zur anderen und sagte wahrscheinlich ähnliche Dinge, denn wo er hinkam, wurde es gleich etwas belebter.

Ich beneidete ihn im stillen um diese Gabe, denn ich konnte mich nicht recht in die Konversation hineinfinden.

Es war die Rede von Menschen im allgemeinen, von ihrem Wesen, und worauf es dabei ankäme. Der Professor sagte etwas überstürzt und definitiv:

»Auf die Geste kommt es an.« Die jungen Herren, es waren zwei oder drei, nickten bedeutungsvoll zustimmend, und die ältere Dame aus dem Café – die kappadozische –, die ich gleich wiedererkannt hatte, sagte lebhaft: »Ich hätte gedacht – in erster Linie auf die Echtheit des Empfindens.«

»Empfinden ist immer echt«, bemerkte Hofmann wieder sehr definitiv, so daß man nicht anders konnte als ihm beistimmen. Aber Gerhard, der jetzt wieder neben dem Tisch stand und ein Bild betrachtete, warf milde ein:

»Nun, das kann man doch nicht so ohne weiteres hinstellen, es gibt wohl auch leere und bedeutungslose Gesten, die durch das Empfinden nicht gerechtfertigt werden. Und ich meine, man darf nicht so schlechthin von der Geste sprechen.«

Worauf die Frau des Hauses förmlich triumphierend meinte: »Nun, worauf es ankommt, ist eben der Stil.«

»Gewiß, aber nicht jeder«, korrigierte ihr Mann und sah[130] etwas beleidigt aus. »Die Geste ist überhaupt die geistleibliche Urform alles Lebens, und der Rhythmus der Geste ist der Stil.«

Die anderen hörten ganz begeistert zu, und die Kappadozische äußerte:

»Das haben Sie wieder ganz wunderbar gesagt.«

Gerhard räusperte sich ein paarmal, als ob er nicht ganz einverstanden wäre, dann brach er auf, und ich schloß mich ihm an. Zum Herrn des Hauses sagte er noch:

»Lieber Professor, ich hoffe, mein junger Freund wird noch öfter Gelegenheit finden, mit Ihnen zusammenzukommen.«

Der Professor schüttelte mir wiederholt die Hand und sah mich ganz zerstreut an. Als wir hinausgingen, sagte er halblaut zu Gerhard:

»Ihr Freund ist ein wundervoller Mensch.«

Warum wohl – ich hatte den ganzen Abend kaum zehn Worte gesagt und das meiste, was sie sprachen, nicht verstanden, zudem, wie Gerhard mir nachher sagte, einen schweren Fauxpas begangen, indem ich der Frau Professor sagte: ich sei sehr begierig, den Meister kennenzulernen. So etwas dürfe man nicht tun – es wäre eine Art Gotteslästerung. Er pflege sich im dritten Zimmer aufzuhalten, und nur, wer würdig befunden sei, würde ihm vorgestellt; zum Beispiel jener verklärte Jüngling, der vorhin leise mit der Hausfrau sprach und dann plötzlich verschwand. Das gehöre eben auch zur ›Geste‹.


Geste – Geste – was soll man darunter verstehen? wie war es noch? – die geistleibliche Urform alles Lebens. Hier wird ja überhaupt so viel vom ›Leben‹ gesprochen,[131] und immer so, als ob es durchaus nichts Selbstverständliches sei, sondern gerade das Gegenteil. Aber gerade darin liegt wohl etwas, was reizt und anzieht – ich möchte ja selbst endlich einmal dahinterkommen, was es eigentlich mit dem Leben auf sich hat – ob es etwas ganz Selbstverständliches oder etwas ungeheuer Kompliziertes ist.

Heinz zum Beispiel tut ja, als ob er hier in diesem sonderbaren Stadtteil den Stein der Weisen gefunden hätte. Und mir ist, seit ich hier bin, zumut, als ob ich nur in Rätseln sprechen höre und mich zwischen lauter Rätseln bewege. Ich fühle mich ziemlich unglücklich, und in meinem Kopf ist es wirr und dunkel.


Anmerkung

Hier sind mehrere Seiten herausgerissen, und statt dessen findet sich eine Anzahl fast unleserlicher Zettel mit Bleistiftnotizen. Dann folgt quer über die Seiten hingeschrieben ein Eintrag von Frauenhand:


– ich habe dieses Heft – Ihr Tagebuch, wie es scheint, offen auf dem Tisch gefunden und war so indiskret, etwas darin zu lesen. – Ja, Sie sind entschieden ein ›wundervoller Mensch‹.

Chamotte hat mich hereingelassen – sicher hat er es auch gelesen, denn er ist beunruhigt um Sie und beklagt sich, daß Sie in der letzten Zeit so sonderbar wären. Ich habe es auch gemerkt und fange an, es zu begreifen. Aber – du wirst mit deinem Singen – doch nicht zum Himmel dringen.

Gehen Sie deshalb lieber nicht wieder zum Jour, sondern kommen Sie morgen mit mir auf die ElendenKirchweih.[132] (Das ist ein Fest.) Tout-Wahnmoching wird sicher auch dort sein.

Halt – ich kann mich im Moment nicht besinnen, ob Sie einen Schnurrbart haben – ich glaube, nein, er paßt entschieden nicht zu Ihrer Biographie. Aber wenn ja, so lassen Sie ihn vorher beseitigen – er geht nicht zum Kostüm.

Also 7 Uhr abends im Eckhaus (Chamotte weiß den Weg). Dreimal klingeln.

Susanna


Ach, diese Frau – es ist wirklich nicht ganz diskret, in meinen Sachen zu stöbern, wenn ich nicht zu Hause bin, und mir da mitten hineinzuschreiben. Ich bin so ordentlich, daß es an Pedanterie grenzt, und so etwas stört mich.

Ich habe Chamotte zur Rede gestellt – Chamotte ist mein kleiner Diener. Susanna hat ihn so getauft, weil sie seinen Namen nicht behalten konnte und fand, er sähe aus, als ob er Chamotte hieße. Er fühlte sich dadurch geehrt, er schwärmt für Susanna und verteidigt sie – na, es ist eine Schande – aber er macht mir alles nach, und wenn mir etwas nicht paßt, behauptet er einfach, er wäre dazu verurteilt gewesen, es so zu machen. Aber der Bengel ist erst sechzehn Jahre alt und wird dabei nie unverschämt. Und mir tut es manchmal wohl, so eine Art zweites Ich zu haben, das intelligent und bescheiden auf das erste reagiert – und das man hinausschicken kann, wenn man will.

Chamotte spricht jetzt auch von ›unserer‹ Biographie und findet, wir müssen unbedingt zu dem Fest gehen, ich soll ihn als meinen Sklaven mitnehmen – das hat Susanna ihm heute früh in den Kopf gesetzt.[133]

Quelle:
Franziska Gräfin zu Reventlow: Romane. München 1976, S. 129-134.
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