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[145] 14. Januar


Heute – gestern – vorgestern – ich muß mich erst wieder besinnen, wie die Tage sich folgten.

Mittwoch war das Fest, und am Donnerstag nach Tisch machte ich mich noch ziemlich schläfrig auf den Weg, um der freundlichen Einladung des Philosophen zu folgen. Unterwegs fiel mir ein, daß bei Hofmanns Jour war und ich wohl auch dorthin gehen müsse. Frau Hofmann hatte mir gesagt, es werde heute wahrscheinlich Delius kommen, und ich sollte ja nicht versäumen, ihn persönlich kennenzulernen. Er sei eine der bedeutendsten[145] Erscheinungen des heurigen Deutschlands – ich glaube sogar, sie sagte ›Germaniens‹, und mir ist nicht recht klar, wie sich das mit seiner römischen Substanz vereinigen läßt.

So bat ich Sendt, nach einer angenehmen, friedlichen Teestunde, ob er nicht mitgehen wolle. Er zeigte sich nicht sehr aufgelegt, entschloß sich aber endlich doch. Als wir kamen, stand ein großer Teil der Gesellschaft im ersten Zimmer um den Tisch versammelt. Ein Maler, der dem Kreis angehört und dort sehr geschätzt wird, hatte Zeichnungen mitgebracht, und man betrachtete, bewunderte und belobte sie. Da war ein Bild des Meisters (über dieses wurde nicht laut gesprochen, man vernahm nur von Zeit zu Zeit ein ehrfürchtiges Murmeln oder gedämpftes: wirklich fabelhaft! – ungeheuer!), ferner verschiedene frühere Dichter und historische Persönlichkeiten: Schiller, Goethe, Luther und andere. Den Maler halte ich nicht für sehr talentvoll, die Blätter hatten alle dasselbe längliche Format, und sämtliche Köpfe waren so groß, daß sie irgendwo beinah oder ganz an den Rahmen anstießen. Zudem kam es mir befremdlich vor, daß er die verschiedenen großen Toten so ganz einfach porträtiert, als ob sie ihm gesessen hätten. Es gibt doch genug authentische Bilder von ihnen, die mehr Wahrscheinlichkeit besitzen.

Der Philosoph stand neben mir, sagte manchmal hm – hm, und ich wollte ihn gerade um seine Meinung befragen, da ging die Tür auf, und Delius trat herein. Er verneigte sich nach verschiedenen Seiten mit demselben Wechsel zwischen konventionellem Lächeln und plötzlicher Starrheit, den ich damals auf der Straße an ihm beobachtete, dann trat er auf den Tisch zu, warf einen[146] Blick auf die Zeichnungen, betrachtete scharf und flüchtig das Porträt Luthers und wandte sich in liebenswürdig anerkennendem Ton an den danebenstehenden Maler.

»Nun, Herr Bender, ich sehe hier ein überaus wohlgelungenes Bildnis – (ringsum entstand eine erwartungsvolle Pause, und nun fuhr er plötzlich beinah drohend fort) – von jenem infamen Mönche, der uns um die schönsten Früchte der Renaissance betrogen hat – (Pause) – und den man im Altertum sicher auf dem Forum gestäupt hätte.«

Die erwartungsvolle Pause war in allgemeine Verlegenheit übergegangen, alles blieb totenstill.

Ich sah den Sprecher an und fand in diesem Augenblick, daß sein Kopf mit den breiten, unbeweglichen Zügen nicht, wie ich neulich meinte, an einen katholischen Geistlichen, sondern tatsächlich an alte römische Kaiserbüsten erinnerte. Man hätte sich mit ein wenig erhitzter Phantasie wohl vorstellen können, daß er jetzt gleich mit derselben monoton singenden, wie aus einem Grabe hervortönenden Stimme den Befehl erteilen würde, eine ganze Stadt voller Christen zu verbrennen.

Der Maler stand ein wenig betroffen da, Frau Hofmann lächelte triumphierend über die Anwesenden hinweg, als fühle sie wohl, daß eben etwas Bedeutendes unter ihrem Dache geschehen sei, und dann brach die mutige kappadozische Dame das Schweigen:

»Es wäre höchst interessant, Herr Delius, wenn Sie uns noch etwas über den Untergang der Renaissance sagen wollten. Sind Sie wirklich der Ansicht, daß der Protestantismus...«[147]

»Nun«, fuhr Delius völlig unbeirrt und unpersönlich fort – er sah dabei die kappadozische Dame fest an, aber so, als ob sie gar nicht da wäre – »nun, der Protestantismus bedeutet den Sieg – ja, leider den Sieg des jüdischchristlichen Elementes über den Rest von Heidentum in der katholischen Kirche. Glauben Sie nur – was überhaupt an diesem Christentum, über das ich mich jetzt nicht näher auslassen möchte, in jenen traurigen Zeiten des Niedergangs noch lebendig und glühend war, das ist Rom – das ist die Blutleuchte des Altertums – die Blutleuchte Roms.« (Blutleuchte – ein wunderbares Wort – aber was mag es bedeuten? Ich warf dem Philosophen einen flehenden Blick zu, und er winkte beruhigend: später, später.) »Rom und immer wieder Rom... Wissen Sie«, und dabei überschlug sich seine Stimme in einem jähen Auflachen, »wissen Sie, daß dieser abtrünnige Mönch einfach ein Jude war – ja«, fügte er gedehnt und geheimnisvoll zu: »Geist ohne Substanz, das ist immer der Weg zum Nichts. Seien Sie überzeugt, daß keiner ihn ungestraft beschreitet. Der sogenannte Geist und die Selbstvernichtung der Substanz, das ist immer dasselbe. Ja, der Fluch all dieser neuen Gestaltungen, das ist der Geist und sonst nichts. Aber das hängt mit den biotischen Schichten zusammen, und da sind viele geheimnisvolle Dinge im Spiel«, dies letzte klang, als ob er nur zu sich selber spräche und ganz vergessen hätte, daß alles ihm zuhörte.

Frau Hofmann reichte ihm eine Tasse Tee, er nahm sie dankend entgegen, und nun sagte sie mit heller Stimme:

»Ja, aber wenn nun Luther katholisch geblieben wäre?«

»Aber Lotte!« fuhr ihr Gatte mit einem strafenden Blick[148] dazwischen, und sie hielt inne. Delius war ganz in seine Gedanken versunken, er stand da, wiegte langsam den Kopf hin und her, nahm einen Schluck Tee und sprach noch einmal dumpf vor sich hin:

»Ja, das sind allerdings sehr geheimnisvolle Dinge.« Dann ergriff wieder die kappadozische Dame das Wort – der Professor wanderte derweil unruhig hin und her, und es machte den Eindruck, als ob er sie gerne daran gehindert hätte.

»Ich glaube, ich verstehe jetzt, was Sie damit sagen wollen, aber meinen Sie, daß Luther wirklich ein Jude war, oder haben Sie sich nur bildlich ausgedrückt?«

»Nun, mancher ist ein Jude, ohne es zu wissen«, sagte Delius monoton und abwesend.

»Und mancher andere ist keiner, obwohl er dafür gilt«, bemerkte ein schlanker, schwarzer junger Mann, der neben mir stand.

»Gewiß, gewiß, ich will nicht leugnen, daß auch dieses vorkommen kann«, antwortete Delius kurz.

Die Frau des Hauses flüsterte indessen mit dem Maler, er raffte seine Blätter zusammen und verschwand in dem dritten Zimmer. Der Professor zog einige Jünglinge hinter sich her und folgte ihm.

Delius war immer noch apathisch und in Gedanken verloren stehengeblieben, der Philosoph suchte nun wieder irgendeine Unterhaltung in Gang zu bringen und sprach von seiner Sommerreise in Italien. Übrigens war auch Maria inzwischen erschienen und gesellte sich zu uns, man gruppierte sich um einen kleinen Tisch, und Sendt erzählte, wie er an einem heißen Tage auf Capri alleine auf den Hügeln umherwanderte, wo sich die Ruinen von dem Schloß des Tiberius befinden. Die[149] Landschaft sei im Mittagssonnenlicht wie verzaubert dagelegen, und plötzlich hätte ein kleiner weißhaariger Mann neben ihm gestanden, der aus den Ruinen hervorgekommen sein mußte – er trug einen merkwürdigen Mantel, und sein bartloses Gesicht zeigte ein ausgesprochen römisches Profil. Delius begann aufzuhorchen.

»Er hatte eine Blume in der Hand«, erzählte Sendt weiter, »und reichte sie mir, wünschte mir guten Tag und verschwand, ohne ein weiteres Wort zu sagen, wieder in dem Gemäuer dicht neben mir, nachdem ich ihm noch einen Obolus in die Hand gedrückt hatte.«

Delius erkundigte sich eifrig nach dem Schnitt des Mantels – ob es nicht vielleicht ein römisches Obergewand gewesen sein könnte?

»Und die Blume – war es nicht eine kleine, blaue Sternblume?«

»Ja, das stimmt wirklich«, antwortete der Philosoph.

»Nun, so ist es zweifellos jene Blume gewesen, welche Tiberius seinerzeit aus Persien mitgebracht und in seinen Gärten angepflanzt hat.«

»Wohl möglich«, sagte Sendt, »und wenn Sie jetzt behaupten wollen, der Mann sei ein altrömischer Krieger gewesen, so muß ich offen sagen, sein plötzliches Erscheinen und die ganze Begebenheit in der glühenden Mittagssonne waren so spukhaft, daß ich es kaum bestreiten würde.«

»Sehen Sie«, warf nun Frau Hofmann ein und blickte auf den Philosophen, als ob sie ihn endlich überführt hätte, »das war doch sicher ein kosmisches Erlebnis.« Ich erwartete ein erlösendes Mirobuk, aber er sprach es nicht aus, sondern bedeutete mir etwas nervös, daß wir[150] jetzt gehen wollten. Delius schüttelte ihm mit plötzlicher Herzlichkeit die Hand, dann ging er mit kurzen entschlossenen Schritten auf das dritte Zimmer zu und murmelte unterwegs noch etwas von Tiberius vor sich hin. Maria schloß sich uns an und wollte durchaus in einer Bar soupieren.

»Maria, Maria«, sagte Sendt, »Sie täten besser, einmal auszuschlafen, Ihr Freund Hallwig würde es sicher molochitisch nennen, wie Sie auf Ihre Gesundheit loswirtschaften. Aber wie Sie wollen.«

»Machen Sie mir den armen Monsieur Dame nicht noch konfuser«, gab sie zurück – sie hatte gleich, wie wir draußen waren, meinen Arm genommen, »er zuckte eben bei dem Wort molochitisch schon wieder zusammen. Ich glaube, wir werden heute die Biographien umkehren und Sie zu einem längeren Vortrag verurteilen müssen, sonst kann er sicher nicht schlafen.«

»Ja, gerne, wenn es Ihnen Freude macht – nach einem guten Abendessen und ohne kappadozische Zwischenfragen läßt sich schon eher über diese Sachen reden.«

»Und ich werde viele, viele Zigaretten dazu rauchen«, meinte sie sehr zufrieden, »denn die größere Hälfte verstehe ich ja doch wieder nicht.«

Quelle:
Franziska Gräfin zu Reventlow: Romane. München 1976, S. 145-151.
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