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[86] Heute morgen wollte ich gerade anfangen Ihnen zu schreiben, da setzte sich ein liebenswürdiger alter Herr, den wir bei Tisch kennengelernt haben, zu mir und fragte mich im Vertrauen, ob der Dichter wirklich mein Stiefsohn sei.

Ich dachte an meinen Brief und war zerstreut, so habe ich recht dumm geantwortet: er sähe mir doch entschieden ähnlich. Der alte Herr warf mir einen prüfenden Blick zu und meinte: ja, ja, möglich, daß eine gewisse Ähnlichkeit – und das sei immerhin ein seltsames Phänomen. Überhaupt, die Mischung von angelsächsischem, romanischem und ausgesprochen nordischem Typus, wie sie anscheinend in meiner Familie herrsche, wäre wirklich interessant.

Diese kleine Ansprache lenkte meine Gedanken allmählich von Ihnen ab, teurer Freund, und ich begriff, daß man uns doch wohl durchschaut (o weh – wenn Pedro noch lange fortbleibt, möchte die Situation am Ende doch peinlich werden), und daß der ehrwürdige Greis mir eine zarte Warnung geben wollte.

Mein Brief blieb liegen, ich frühstückte mit dem alten[86] Herrn, und wir haben uns ganz gut unterhalten. Er ist witzig und amüsant, wußte mir mit väterlicher Güte allerlei Geständnisse zu entlocken und erinnerte sich mit sichtlichem Vergnügen an die galanten Faiblessen seiner Jugend.

Sie wissen, ältere Herren, die noch in Betracht kommen, sind nicht mein Fall, aber die noch älteren, die nicht mehr in Betracht kommen, können manchmal sehr reizend sein. Und ich habe heute gedacht, solche wirklich charmante alte Leute sind eigentlich ein Element, das in ›unseren Kreisen‹ ganz fehlt. Wir wurzellosen Existenzen haben alle nur so einen dunklen, verschwommenen Begriff von Eltern und Senioren, die uns übelwollen. Wo noch welche vorhanden sind, bleiben sie ganz im Hintergrund, werden gefürchtet oder sorgfältig vor uns behütet. Man kennt immer nur Altersgenossen oder Jüngere. Kommt man dann einmal, so wie heute, zufällig mit jemand viel, viel älterem in Berührung, so wirkt er beinah wie ein seltenes, etwas unwahrscheinliches Naturspiel auf uns.

Kann man wirklich so alt sein, so ganz hors concours, und immer noch Freude am Leben haben und Interesse für alles?

Barmherzigkeit: Und einmal werden wir uns doch wohl auch an den Gedanken gewöhnen müssen, selbst alt zu werden – wie wird das gehen, wie soll man es machen? Krankheit, Alter und Tod erscheinen mir immer als die drei Unmöglichkeiten des Lebens, alles andere geht irgendwie von selbst, aber mit Unmöglichkeiten muß man sich zu arrangieren versuchen.

Kranksein – das läßt sich vielleicht noch bedingungsweise ausnehmen. Unter angenehmen Verhältnissen[87] kann es möglich, manchmal sogar ganz lustig sein – gute Freunde, viele Blumen, sympathische Ärzte und das große Gegenpläsier, wieder gesund zu werden.

Aber die beiden anderen? Der Tod – warum hat man wohl so viel Angst davor? Ich habe sie auch, aber dann denke ich wieder, es ist vielleicht ganz überflüssig, wir wissen doch noch gar nicht, ob es unangenehm sein wird. Es mag verdreht sein, aber ich ertappe mich sogar bei dem Gedanken: das Leben ist so schön, obwohl so viel dagegen eingewandt wird – am Ende ist das Sterben auch gar nicht so übel. Schlimmstenfalls ist es eine Exekution, die nicht lange dauert.

Und das Alter – alt werden? Gott, wenn man durchaus nicht mag, es kann einen ja niemand zwingen, länger zu leben, als man will.

Aber da liegt ein böses Dilemma, es ist so viel hübscher, jung zu sterben, aber um wirklich großen Charme zu haben, müßte es schon sehr früh sein. Andererseits aber möchte man möglichst viel leben und unverhältnismäßig lange jung bleiben.

Schenkt uns nun der gütige Himmel diese ausdauernde Jugend, so wird es sehr schwer sein, den richtigen Zeitpunkt zu finden. Sehen Sie – wenn ich sterbe, möchte ich gerne noch so aussehen wie jetzt, aber ich habe doch vorläufig gar keine Lust, mich schon in die Unterwelt zu begeben. Ach, das ist wirklich schon wieder ein Problem und a very disagreeable one, wie Sir John sagt. Wir saßen kürzlich alle drei bei ihm auf dem Sofa, der vorwitzige Bobby zupfte seinem Mentor drei graue Haare aus und sagte: »Meister, wir werden alt.« Mehr als die drei fanden wir nicht, und John lachte. Aber mir wurde doch ganz kalt, und ich dachte: wenn ich nun[88] einmal dasitze und neben mir ein junger Dichter, der mir drei graue Haare auszupft! (Nun, in dem Nebenumstand könnte ja noch etwas Tröstliches liegen.)

Übrigens glaube ich gar nicht unbedingt daran, daß das ›erste graue Haar, die erste Falte‹ ein so überwältigender Eindruck ist. Eher noch der Abschied von der allerersten Jugend, von der verwegenen Sicherheit, in jedem Zustand und jeder Verfassung – ob verweint, verkatert, übernächtig oder ausgeschlafen – immer gut auszusehen, immer auf der Höhe zu sein. Man denkt auch in diesem Stadium viel mehr über die Schrecken des Älterwerdens nach. Schon beim Abschied von Hängezopf und kurzen Kleidern meint man, nun sei die Hauptsache bald vorbei, und mit zwanzig Jahren, man hätte jetzt kaum mehr Zeit vor sich. Später dann merkt man, daß es noch recht lange dauert und wie dehnbar und geräumig das Leben in Wirklichkeit ist.

Aber, bitte, sagen Sie mir nicht wieder: Sie bleiben immer jung – es ist zwar angenehm zu hören, aber die Frauen mit der ewigen Jugend halte ich doch für einen Bluff. Es kann mich ganz nervös machen, wenn immer wieder die unselige Ninon de Lenclos herbeizitiert wird. Ich bekomme dann das Gefühl: o Gott, nein, so alt möchte ich gar nicht werden. Ich pfeife darauf, daß meine Stiefsöhne – oder waren es richtige? – sich in mich verlieben, wenn ich siebzig bin. Das ist ja doch nichts Rechtes mehr.

Ich möchte gern wissen, ob man sich überhaupt genieren wird, alt zu sein? Vor den anderen vielleicht nicht, sie sind ja daran gewöhnt, daß es alte Leute gibt, und finden nichts Auffälliges daran. Aber vor sich selbst – denken Sie nur, als alte Dame aufzustehen und sich im[89] Spiegel zu sehen: guten Morgen – o Gott, aber du bist ja alt – was willst du denn noch? Ja, besonders in der Früh muß es deprimierend sein, im Laufe des Tages wird man sich wohl irgendwie in seine Rolle hineinleben.

Ich stelle mir bei allen Lebenslagen, die mir peinlich sind, gerne vor, daß ich nur eine Rolle spiele, eben jetzt diese oder jene spielen muß, die mir nicht recht liegt. Zum Beispiel bei unangenehmen Auseinandersetzungen: du bist ja nur auf der Bühne – o weh, der Souffleur ist nicht da – besinne dich rasch, was man in dieser Szene ungefähr zu sagen hat. Oder wenn man morgens aufwacht – ja, was ist denn eigentlich? Dies und jenes, alle möglichen Unannehmlichkeiten. Schön, ich habe also eine Frau zu spielen, die in Geldschwierigkeiten ist und nichts anzuziehen hat. Undankbar, aber vielleicht läßt sich etwas daraus machen. Bitte auf die Bühne...

Lieber Freund und Doktor – es ist schlecht, mit mir zu diskutieren, denn es fällt immer wieder so aus: das ist schlimm – sehr schlimm – ja – nein, es ist eigentlich doch nicht so schlimm.

So muß ich denn schließlich auch feststellen, daß der Gedanke an die Vergänglichkeit alles Irdischen mich im großen und ganzen nicht sehr bedrückt, höchstens wenn ich gerade meinen ›verfluchten Tag‹ habe.

Ich denke vielmehr, wenn es erst einmal soweit ist, wird man schon damit fertig werden. Wird man alt, so treibt man sich noch eine Weile als Zuschauer auf der Welt herum, braucht sich wenigstens nicht mehr zu Taten aufzuraffen. Und die Erinnerungen, die im Alter eine so bedeutende Rolle spielen sollen? Nun, bei allen guten Dingen wird man sich freuen, daß sie da waren, und[90] bei den schlechten, daß sie vorbei sind. Die beste Vorsorge fürs Alter ist jedenfalls, daß man sich jetzt nichts entgehen läßt, was Freude macht, so intensiv wie möglich lebt. Dann wird man dermal einst die nötige Müdigkeit haben und kein Bedauern, daß die Zeit um ist. Für all die Leute mit verfehltem Leben, versäumter Jugend, überhaupt mit vielen Unterlassungssünden – für die muß es schrecklich sein, alt zu werden.

Nein, wenn ich mich überhaupt darauf einlasse, mein eigenes Alter mitzuerleben (was mir noch sehr fraglich ist) – in dieser Beziehung habe ich mir wenig vorzuwerfen und werde mit mildem Lächeln sagen können: es ist genug, Herr!

Und dann will ich wenigstens eine dankbare Rolle spielen, eine sehr angenehme alte Dame sein mit möglichst wenig Falten und möglichst weißem Haar – und einen reizenden Salon haben mit einem Kaminfeuer. Um den Kamin versammeln sich abends die alten Freunde, müde galante alte Herren mit Krückstöcken, und man unterhält sich von einstigen Faiblessen.

Denken Sie nur, was wir uns dann alles erzählen werden – alles, was jetzt noch verschwiegen bleibt. In sentimentalen Stunden reden wir vielleicht auch wieder von Yvonne und dem fremden Mann – und, wenn Sie boshaft aufgelegt sind, von Paul. Ja, dann wird das Teegespräch erst seine höchste Blüte erreichen.

Danken wir Gott, daß es noch nicht soweit ist...[91]

Quelle:
Franziska Gräfin zu Reventlow: Romane. München 1976, S. 86-92.
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