Drittes Kapitel.

[29] Das Brot ging nicht mehr aus in des Stadtpfeifers Hause. Sie hatten aber auch das Kind behalten. Mit Wasser und Milch – ein damals noch kaum erhörtes Wagnis – ward der Knabe mühselig aufgezogen. Die Hofbäckerin steuerte die Milch dazu. Andere gaben Leinwand und Kleider; auch sonstige milde Spenden mancherlei Art flossen reichlich, solange die Sache noch neu war; dann versiegte die Barmherzigkeit, und nach Jahresfrist blieben die paar Gulden allein übrig, welche die Gemeinde beitrug – der Stadtpfeifer meinte, man könne keinen Hund dafür ordentlich erziehen. Allein Heinrich Kullmann hatte jetzt einen neuen Menschen angelegt. Ein Eifer zu arbeiten, zu erwerben glühte in ihm, daß es Christinen fast bangte. Tartinis Bogenstrich war ganz vergessen,[29] unser Freund war der reine Stadtpfeifer geworden, doch, das merkte jeder, nur um Gottes willen, um des Weibes und Kindes willen. Er lief zweimal die Woche vier Stunden Wegs weit nach Wetzlar, um bei den Herren vom Reichskammergericht die Musikstunden wieder zu suchen, die er in Weilburg verloren. Da er sich für diese Tage im Turmdienst durch seine Gehilfen mußte vertreten lassen, so galt es, vorher Dispens beim Schultheißen zu gewinnen. Dieser gab abschlägigen Bescheid. Früher würde der Stadtpfeifer nunmehr beschämt sich in sich selbst verkrochen und keinen weiteren Schritt mehr gewagt haben. Jetzt dagegen ging er mannhaft zum Schultheißen und legte ihm die Sache in so beweglicher Rede vor, daß er mit der Erlaubnis in der Tasche wieder heimgehen konnte. Seit die wirkliche Not an ihn gekommen, seit er in seinem Hause einmal beinahe kein Brot mehr über Nacht gehabt hätte, war er ein Mann geworden. Und als ihm wie durch ein Wunder dennoch Brot beschert ward, nahm er mit dem Kinde freiwillig die doppelte Not auf sich, gleich als wolle er nun ein Mann werden, der für zwei Männer steht.

Das Brot ging nicht mehr aus in seinem Hause, aber schmal blieb es durch Jahr und Tag. Drei leibliche Kinder kamen nachgerade zu dem gefundenen, so daß die kleine Pfeiferstube übervoll ward. Das Herz des Vaters gehörte den eigenen Kindern; das Herz des Künstlers dem gefundenen; Johann Friedrich war noch keine vierzehn Jahre alt und konnte noch keine große Geige bewältigen, da sagte der Stadtpfeifer[30] schon: »Hinter der Stadtmauer habe ich den großen Musiker von der Gasse aufgelesen, den ich in mir selber immer vergebens gesucht.«

So ging es durch achtzehn Jahre voll Plage und Not. Die kleinen Leute verstanden aber damals noch gar trefflich die Kunst, elend und zugleich glücklich zu sein. Heinrich Kullmann kam nicht vorwärts, aber er blieb doch immer als Stadtpfeifer sitzen; er wurde oft nicht satt, aber er verhungerte auch nicht, und wenn er nur seinen ledernen Hosengürtel um zwei Löcher fester schnallte, so spürte er keinen Hunger mehr, auch bei halbleerem Magen. Weil in den Kriegszeiten jeder zurückging, so brauchte sich keiner zu schämen, wenn er verdarb. Der Stadtpfeifer machte etwa alle drei Jahre den Versuch, flügge zu werden, fiel aber immer wieder in das alte Nest auf dem Schloßturm zurück. Das nahm er hin, als hätte es nicht anders kommen können, und blieb so gutmütig, treuherzig und unpraktisch wie immer; aber er blieb jetzt auch ein Mann. Ward Christine zuweilen ungeduldig, dann sprach er: »Gottes Segen ist ja doch mit dem Kind und dem Brot über uns gekommen, vielleicht nicht ganz so reich, als wir's wünschten: – das Pferd, das den Hafer verdient, kriegt ihn nicht; aber sei versichert, um des Kindes willen wird uns für jene Welt der hier entgangene Hafer gut geschrieben – mit Zinsen.«

Es war Friede geworden in Deutschland; nur fern im Westen jenseits des Ozeans zog ein schweres Wetter auf. Doch so weit sah man nicht vom Schloßturm zu Weilburg.[31]

Kirchweih war immer ein großes Fest in dieser guten Stadt, und solenniter sollte sie auch im Jahre 1778 begangen werden. Der fürstliche Hof saß wieder in seiner alten Residenz, und die patriarchalischen kleinen Fürsten ließen in diesen Jahrzehnten den Sonnenschein gemütlicher Huld wärmer als je auf die Bürger fallen, wie die Sonne am Hochsommerabend oft noch einmal ganz besonders warm und gnädig brennt, unmittelbar bevor sie untergehen will. Wenn damals bei der berühmten Weilburger Kirmeß der Hof nicht ebensogut den Jubel mitmachte wie der Bürger und Bauer, dann hätte man es gar keine ganze Kirmeß genannt.

Des Morgens zogen die Bürger aus nach dem Schießhause, mit ihnen der Fürst, dem, wie der Vater mit Stolz schon dem Knaben erzählte, als dem ersten Bürger der Stadt das Recht des ersten Schusses zustand. Er that den ersten Schuß, er brachte den ersten Becher aus, er tanzte den ersten Tanz, und so ward er von den Weilburgern auch als der erste Fürst gepriesen.

Der Stadtpfeifer im ziegelroten Staatsrock hatte dem Zuge, dem Fürsten selber, den Marsch geblasen; jetzt spielte er am Schützenstande, nur von einem Hornbläser unterstützt, und abends sollte der Fürst und hintennach die ganze Bürgerschaft nach seiner Pfeife tanzen. Kirmeß war immer ein stolzer Tag für einen Stadtpfeifer.

Die Bürger traten der Reihe nach vor, und jeder that seinen Schuß. Da legte auch der Stadtpfeifer[32] sein Instrument auf eine Weile weg, und der Hornbläser setzte allein die Musik fort. Heinrich Kullmann war Weilburger Bürger, also hatte er, kraft fürstlicher Gnaden, das Recht eines freien Schusses, und das ließ er sich nicht, entgehen. Auf der Mauer vor dem Schießhause saß mit anderen Weibern Frau Christine und hielt ihr Jüngstgeborenes auf dem Arme; Friedrich – im Herbst wurden es achtzehn Jahre, daß man ihn an der Stadtmauer gefunden – saß daneben mit den zwei größeren Geschwistern.

Heinrich Kullmann zielte kurz: jetzt knallt die Büchse. Er hatte mitten ins Schwarze getroffen! Wer hätte solch Bauernglück dem Stadtpfeifer zugetraut, der nur jedes Jahr einmal ein Gewehr in die Hand nahm! Christine fuhr so erschrocken zusammen über ihres Mannes Geschicklichkeit, daß ihr das Kind beinahe vom Arme gefallen wäre.

Wie ward es ihr erst nachgehends zu Mut, als die Festordner vortraten, dem glücklichen Schützen den Ehrentrunk darzubringen, als die Kirmesßjungfrauen ihrem Heinrich einen gewaltigen Blumenstrauß vorsteckten, der von dem mittelsten Knopfloche des Rockes bis zur Nase reichte, und als der Fürst selber dem Glücklichen die Hand schüttelte und ihn der Fürstin und den Prinzessinnen als den Schützenkönig vorstellte! Dann kamen die Scheibenbuben selb viere aufmarschiert und brachten den ersten Preis, nämlich ein Dutzend zinnerne Teller, zwölf Löffel, Messer und Gabeln, Suppennapf, Schüsseln – die Geschirre alle von blankem, neuem Zinn – und in das Salzfaß[33] hatte der Fürst einen Dukaten gelegt und die Fürstin einen nassau-weilburgischen Kronthaler 1778er Gepräges. Das alles überreichte der Schultheiß dem Stadtpfeifer aus den Händen der Scheibenbuben.

Wie verklärte sich das Gesicht des Vielgeprüften, als er den Pokal in die Höhe hob, verstohlen nach seiner Christine und den Kindern hinüberblickte, und dann auf das Wohl des Fürsten und des ganzen fürstlichen Hauses und der guten Stadt Weilburg trank.

Er wollte zurücktreten an seinen Platz und die Hoboe wieder ergreifen, allein die Bürger ließen das nicht zu, sagten, das Horn allein sei ihnen Musik genug, und zogen den Stadtpfeifer zum Zechen in die große Bude. Wie freundlich thaten da angesichts des Fürsten gar viele, die den armen Stadtpfeifer sonst nicht von weitem ansahen. Selbst etliche Kavaliere kamen herbei, stießen mit dem Schützenkönig an und nannten ihn »lieber Kullmann«. Es waren dies aber dieselben Leute, die ihm bis dahin niemals gedankt hatten, wenn er sie auf der Straße grüßte; allein der Stadtpfeifer hatte dennoch nicht aufgehört, seinen Gruß zu entbieten, eingedenk der Verheißung des Herrn, daß so wir jemand grüßen, der dessen wert ist, der Friede, den wir ihm gewünscht, auf ihn kommen wird, so er dessen aber unwert, wird sich unser Friede wieder zu uns wenden.

Allein auch diese frohe Stunde, sollte dem Stadtpfeifer nicht unverbittert bleiben. Gerade da er im rechten Rausch der Freude schwelgte, da ihm eben so gar nichts fehlte – denn auch Frau und Kinder saßen[34] neben ihm und thaten sich gütlich – trat der Hoftrompeter hinter seinen Stuhl, ein stattlicher Mann, aber mit einem verwetterten Malefizgesicht, der drehte sich den langen ungarischen Schnurrbart und sprach: »Herr Stadtpfeifer, auf ein Wort!« und zog ihn beiseite.

»Ihr habt eine Eingabe gemacht, daß man Euch gestatten möge, mit uns zur fürstlichen Tafel zu blasen. Ei, Herr Stadtpfeifer, Ihr hättet doch wissen sollen, daß ich und meine Kameraden ›gelernte‹ Trompeter sind, Glieder der Trompeterkameradschaft, die ihr Privilegium Anno 1623 von Kaiser Ferdinandus erhalten hat, und daß wir keinem erlauben dürfen, mit uns zu blasen, der nicht durch Brief und Siegel beweist, daß er in die Kameradschaft gehöre. Ihr blast sehr schön, aber woher habt Ihr's denn? Seid Ihr in der Zunft aufgewachsen, oder habt Ihr Euch selber hineingestohlen in die Geheimnisse unserer Zungenstöße, die für die Kameradschaft ein beschworenes Geheimnis sind? Seht, und wenn der Oberhofkapellmeister Hasse von Dresden käme und spräche zu mir: Ich will mit dir blasen, dann würd' ich antworten: Mit Verlaub, Maestro, Ihr möget der gepriesenste Komponist in Deutschland und Welschland sein und der beste Trompeter dazu, aber ein ungelernter Trompeter seid Ihr doch, und nach meinem Zunfteid darf ich nicht mit Euch blasen.«

Mit diesen Worten ließ er den Schützenkönig stehen. Der blieb eine Weile starr über die Bosheit des schnurrbärtigen Satans, der seine glücklichste Stunde[35] geflissentlich abgewartet zu haben schien, um ihn wieder einmal mit einer getäuschten Hoffnung niederzuschlagen. Er ging zum Glase zurück und setzte es mit so saurem Gesichte an den Mund, als ob der gute Wein Essig wäre. Da sagte die Frau, die gerne so von ungefähr erkunden wollte, was er mit dem Hoftrompeter gehabt: »Du bist ein närrischer Mann, Heinrich! Wenn dir's schlecht geht, dann bist du wohlgemut, und wenn einmal das Glück an dich kommt, dann möchtest du weinen.«

»Nein, so ist es nicht,« erwiderte er. »Sieh, wenn ich sonst über den Schloßhof ging und der Hoftrompeter im Tressenrock stand auf der hohen Treppe vor dem Speisesaale, schmetterte seine Fanfaren und bIies die hohen Gäste zur Tafel zusammen, dann dachte ich: Der hat's besser wie du, ob du gleich ebensogut trompeten könntest, – einen leichteren Dienst, einen schöneren Rock, mehr Geld und größere Ehren! Und ich war ein Esel und bewarb mich insgeheim um die zweite Trompeterstelle neben ihm. Ich wollte wieder einmal vorwärts kommen; – nicht wahr, Christine, das haben wir schon oft gewollt? Ich habe dir's verschwiegen, weil ich dich überraschen wollte. Nun ist's wieder nichts; denn ich bin nur ein ›ungelernter‹ Trompeter, wie man mir eben sagt, ich habe mir meine Kunst gestohlen, weil ich nicht Brief und Siegel habe von der Kameradschaft. Doch was schadet's? Reich mir den kleinen Buben, daß ich ihn küsse, der wird vielleicht einmal ein gelernter Trompeter werden, ich sehe ihn schon im Tressenrock auf der großen Schloßtreppe[36] stehen. Ich aber will derweilen den Armen und Geringen meinen Choral vorblasen, daß der Schall vom Turm, wie wenn er vom Himmel herabkäme, sie mahne, tröste und erbaue: das ist doch ein ander Ding, als wenn ich vornehme Gäste, die nie hungrig sind, mit gellender Trompete zum Essen rufe. O Christine, dein seliger Vater hatte recht; Stadtpfeifer soll ich bleiben mein Leben lang, und es geht auch nichts über die Stadtpfeiferei, wenn ein Weib auf dem Turme waltet wie du!«

AIs es zum Tanze ging, war der Stadtpfeifer schon wieder getröstet, und er blies so lustig, wie wenn es gar keine gelernten Trompeter in der Welt gäbe.

Der zweite Kirchweihtag verging ihm in noch härterer Arbeit und Unruhe wie der erste; denn da ward noch viel toller und länger getanzt, da war der Jubel erst recht losgelassen. Die Hoboe ließ den Musiker nicht zur Besinnung kommen, und wenn ihm zu letzt fast der Atem ausging, so waren ihm die Gedanken schon längst ausgegangen.

Erst am dritten Tage fand er sich selber wieder in dem Frieden seines Turmstübchens. Aber mit der Ruhe kam auch das Nachdenken über die vergangenen Tage. Und oh ihn nun gleich das spiegelblanke Zinngeräte und das Goldstück und der neue Kronthaler gar freundlich anlächelten, verband sich doch mit diesem Anblick sofort der Gedanke, wie grausam es sei, daß er als Schütze, wo er nichts gelernt und kaum gezielt, sofort mitten ins Schwarze getroffen, während er als Musiker, wo er rastlos lerne und wunders wie scharf[37] ziele, sich nie auch nur einen zweiten oder dritten Ring herauszuschießen vermöge.

Christine merkte, daß der böse Geist über Saul komme, darum rief sie ihren David, den Friedrich, der eben seine Geige im obersten Dachraume bei den Krähennestern zunächst unter dem Turmknopf exerzierte. Er kam mit dem Instrument, und die Frau fragte ganz leise den hypochondrischen Mann, ob er nicht zu ihrer aller Ergötzung ein Duett mit Friedrich geigen wolle.

Der Stadtpfeifer rieb sich die Augen, lächelte und bejahte die Frage.

Es war aber etwas ganz Eigenes, wenn die beiden ihre Duette geigten. Frau Christine sagte oft: »Ich wünschte, da hörte einmal ein rechter Meister zu; er sollte den Geigern alle Ehre geben.« Wir wissen, daß der Stadtpfeifer sonst kein Hexenmeister mit dem Fiedelbogen war; aber wenn er Duette mit seinem Friedrich spielte – und nur dann – adelte sein Spiel sich wundersam. Es war schlicht und auch etwas ungelenk wie sonst – vom Bogenstrich Tartinis war noch nichts zu spüren – allein es saß eine so unendlich treuherzige, gute Seele, eine echt deutsche Gemütlichkeit, kurz, der ganze Stadtpfeifer saß in dem Spiele. Des Bogenstriches, der ihm angeboren, war er sich bewußt geworden; denn im Bogenstrich liegt die Seele des Geigers. Und dann haben selten zwei Menschen so einig Duett gespielt; Ton klang zu Ton, als ob beide aus einer Geige kämen. Aber nur, wenn der Stadtpfeifer ganz allein war mit Friedrich und seiner Frau, gelang ihm das Spiel; hörte ein[38] anderer zu – gleich war die Seele aus der Geige geflogen, der angeborene Bogenstrich wieder vergessen, und der Stadtpfeifer spielte schülerhaft neben dem stets meisterlichen Spiele des Schülers.

Wenn Christine in diesen heimlichen, glücklichsten Stunden ihren Friedrich anschaute, dann war es ihr doch auch manchmal recht traurig ums Herz. Friedrich war blaß, mager – man weiß, wie ein Bauernkind den Mageren selbstverständlich für einen Kranken hält. Frühreif an Körper und Geist, hatte er mit unbezähmbarem Eifer die Musik gelernt; nicht in körperlichem, sondern in geistigem Ringen hatte sich bei ihm die Jugend vertobt. Es war Christinen immer, als ob Friedrich nicht mehr lange Duett spielen könne mit ihrem Mann. Sie versuchte einmal anzuklopfen bei letzterem, als er des Knaben unerhörte Fortschritte rühmte, und sagte in ihrer Art: »Die Vögel, die zu früh pfeifen, frißt die Katze.« Da schnitt ihr der Mann rasch das Wort ab und sprach von anderen Dingen. Nun wußte sie, daß er ihre Furcht teile, daß er aber nichts davon reden und hören wolle.

Ehe die beiden ihr Duett begannen, verschloß der Alte, wie immer, die Thür. Dann stellten sie sich gegeneinander und spielten – ohne Noten (sie wußten's seit Jahren auswendig) – und der Vater sah dem Sohne, der Sohn dem Vater ins Auge, daß man meinte, sie sähen die Musik einander an den Augen ab, und nur darum passe Strich zu Strich so genau, als habe eine Hand beide geführt. So schön wie heute war es ihnen kaum je geglückt.[39]

Als sie im besten Zuge waren, schlich Christine horchend ans Schlüsselloch; deuchte es ihr doch, sie habe draußen Tritte gehört.

Jetzt kam der Schluß des Duetts, so zart, so rein! Als die letzten Töne sich verhauchten, mußten alle drei unwillkürlich den Atem einhalten. Da klatschte es laut vor der Thüre; eine gellende Stimme rief: »Bravo! Bravo!« und die Klinke ward zum Oeffnen niedergedrückt. Der Stadtpfeifer legte ärgerlich seine Geige weg und schloß auf.

Ein Bursche, der höchstens zwanzig Jahre zählen mochte, trat ein. »Das war prächtig gezeigt!« rief er, »da bin ich also am rechten Orte. – Guten Abend, Meister Stadtpfeifer!«

Der Angeredete dankte nicht sehr freundlich auf den übermütig gebotenen Gruß und hob die Lampe in die Höhe, um den Fremden etwas näher zu beleuchten. Der junge Mann sah fast verdächtig aus. Die Kleider, obgleich von vornehmem Schnitt, waren stark abgetragen, und das jugendliche Gesicht zeigte die etwas verlebten Züge eines ausschweifenden Jünglings.

»Ich bin Franz Anton Neubauer, der Böhme,« sprach der ungebetene Gast in stark österreichischem Accent, »Eure Freunde im Kloster Arnstein lassen Euch grüßen und empfehlen mich Eurer Gastfreundschaft.« Drauf that er, ungeheißen, ganz wie zu Hause, legte Stock und Hut ab und setzte, sich nieder.

Frau Christine zog ein schief Gesicht und zupfte ihren Heinrich am Rocke; der aber besann sich kurz, schüttelte dem Fremden die Hand und sprach: »Um[40] meiner Freunde willen sollt Ihr mir auf eine Stunde Rast willkommen sein, zumal, wenn Ihr, wie ich denke, ein Musiker seid.«

»Ei!« sagte Neubauer, »das solltet Ihr wohl wissen. Bin ich gleich noch jung, so kennt man meine Symphonien und Quartette doch schon von Wien bis Paris, und wo meine Musik nicht bekannt ist, da ist es wenigstens meine Person. Seht, ich durchziehe bereits seit zwei Jahren alle kleinen Ländchen, namentlich die geistlichen Herrschaften, und wo ich immer eine musikalische Seele finde, da kehre ich ein; am liebsten in Klöstern, bei Domherren oder auch bei gewöhnlichen Weltgeistlichen. Lutherische Pfaffen meide ich, die haben meist viele Kinder und wenig Wein. Ueberall zahle ich nur mit Musik. Bei einem unmusikalischen Menschen einzukehren, das wäre schamlose Bettelei; aber ich denke, ein frisch komponiertes Menuett ist schon Zahlung genug für ein Nachtquartier; für ein Klaviersolo kann man schon ein Mittagessen annehmen, und für eine neue Messe müssen mir die Mönche des fettesten Klosters mindestens auf einen Monat freie Zehrung, freien Trunk und Quartier geben. So reise ich schon zwei Jahre durch aller Herren Länder; wer will mir das nachmachen? Bei uns in Böhmen hat man ein Familiensprichwort: Er ist ein Neubauer, werft ihn mitten in die Moldau, und wenn er auch nicht schwimmen kann, er wird doch nicht ersaufen. Das Wort habe ich mir gemerkt, wenn ich toll in jeden Strudel springe, denn ich weiß ja doch, daß ich nicht ersaufen werde.«[41]

Dem Stadtpfeifer schien es allmählich fast lustig, dem Burschen zuzuhören, dessen Zunge so vortrefflich eingeölt war, daß sie, einmal in Bewegung gesetzt, kaum wieder stille stand. Mit vergnüglichem Lächeln lauschte er zuletzt dem jungen Maestro, der in Eisenstadt zu Joseph Haydns Füßen gesessen, und dessen wild geniale Symphonien man bereits in Paris aufführte und druckte. Neubauer hatte nicht zu viel von sich gesagt. Den vierzigjährigen Stadtpfeifer durchzuckte bei den Erzählungen des zwanzigjährigen Abenteurers, der mit seinem Talent so vermessen spielte, noch einmal das alte Gelüsten, aus der Verpuppung der Stadtpfeiferei mit Gewalt plötzlich als ein berühmter Musiker hervorzubrechen. Doch als er aufblickte und in einem Stückchen Spiegelscherbe, welches Christine, in Ermangelung eines ganzen Spiegels (gerade seinem Sitze gegenüber) an der Wand befestigt hatte, sein bereits leise ergrauendes Haar schaute, schämte er sich und ging dann höchst resigniert ins Nebenstübchen, um mit den Kindern das Abendgebet zu sprechen.

Auch Frau Christine wurde etwas milder gestimmt gegen den Fremden. Sie hielt zwar seine sämtlichen Historien für erlogen, aber für gut erlogen. Der Mann schien es ihr zu einer solchen Tüchtigkeit im Lügen gebracht zu haben, daß sie zuletzt einen gewissen Respekt vor ihm bekam.

»Seht,« sprach er zu dem Ehepaar, als der Stadtpfeifer wieder zurückkam, »dort liegt ein großer Stoß Noten; wir setzen ihn auf die Erde; er ist mein[42] Kopfkissen, und weiter brauche ich nichts für die Nacht. Ich wickle mich in meinen weitschößigen Rock, empfehle meine Seele dem heiligen Franziskus und dem heiligen Antonius und schlafe heute auf dem Fußboden so gut, wie gestern im weichen Klosterbett. Wer müd' ist, ruht auch auf einem Misthaufen sanft. Ich hätte wohl zu einem der Hofmusiker gehen können, allein ich mag es nicht. Im Vertrauen, Freund, ich komme hierher mit guten Empfehlungen als Bewerber um die erledigte Hofkapellmeisterstelle« (»Lüg du dem Teufel ein Ohr ab!« dachte Frau Christine im stillen Sinn) – »und da müßten meine Leute doch vorweg den Respekt vor mir verlieren, wenn ich in diesem Aufzuge bei einem von ihnen einsprechen würde. Stadtpfeifer, ich werfe mich in deine Arme. Ich fragte gestern im Kloster Arnstein die ehrwürdigen Brüder: ›Wer ist unter allen musikalischen Männern Weilburgs der geradeste, zuverlässigste, neidloseste?‹ Da erwiderte der witzige Pater Placidus: ›Der zum Höchsten gesetzt ist unter den Musikern der Stadt, der Stadtpfeifer oben auf dem Schloßturm.‹ Darauf beschloß ich, bei Euch Quartier zu nehmen, Euch mich anzuvertrauen. Mir fehlt das Kleid, das den Mann macht. Stadtpfeifer, Ihr müßt mir morgen früh Euern Staatsrock leihen, denn ich muß mich alsbald dem Fürsten vorstellen lassen.«

»Was? den ziegelroten Rock, den die ganze Stadt kennt?« rief Christine starr vor Staunen.

»Richtig, den ziegelroten Rock meine ich,« fuhr Neubauer kaltblütig fort. »Doch das wollen wir[43] morgen früh weiter besprechen beim Kaffee oder – ich sehe es der Hausfrau an – Ihr seid noch von der alten Mode – bei der Milchsuppe.«

Der Stadtpfeifer saß wie verzaubert. Gegenüber diesem tollen Uebermut voll genialer Blitze fühlte er sich recht als Philister, und da ihm Neubauer gar erzählte, daß er meist im Walde, auf der Gasse, wohl gar in der Gosse, am allerliebsten aber im Wirtshause komponiere – betrunken oder nüchtern, gleichviel –, da hätte er weinen mögen über sein ehrliches, ängstliches, erfolgloses Mühen hier oben auf der Turmstube.

»Ich habe nie ausführen können, was mir vorgeschwebt,« bekannte er mit rührender Offenherzigkeit, »und so sehr mich das Mittelmäßige ärgert, bin ich doch immer ein mittelmäßiger Mensch geblieben. Für mich ist mein Leben lang nur einmal etwas vom Himmel gefallen, und das war ein kleiner Bube und ein Laib Brot, die ich auf der Straße fand. Dort steht der Kleine – er ist jetzt lang wie eine Hopfenstange – und putzt seine Geige ab. Das ist das einzige, was mir je gelungen, daß ich ihn zu einem tüchtigen Geiger gemacht. Ich habe also doch etwas mehr als Mittelmäßiges vollbracht auf Erden, darum werde ich in dem Buben meinen Frieden finden.«

»Es ist wahr,« sagte Neubauer selbstgenügsam, »der Junge ist von gutem Korn und gut geschult; aber er muß hinaus in die Welt, nach Wien, nach Italien, damit er den Gesang lerne und Eleganz und Feinheit des Satzes und in alle Geheimnisse der[44] Kunst eingeweiht werde von den größten Meistern selber.«

»Das war längst mein höchster Wunsch,« erwiderte der Stadtpfeifer, »aber – –«

»Ich weiß, was weiter kommt. Ihr habt keine Gönner, kein Geld. Wartet einmal, ich will mir die Sache hintere Ohr schreiben – bei Gott« – und Neubauers Augen leuchteten auf – »der Bube verdient's! Denkt an Franz Anton Neubauer und heißt ihn einen Schuft, wenn ich Euerm Friedrich nicht den Weg nach Wien aufthue. Zu Joseph Haydn mußt du gehen, Friedrich, dem König der deutschen Meister. Da lernt man Symphonien schreiben! Denkt an mich, Stadtpfeifer: ein Mann, ein Wort!«

Frau Christine flüsterte ihrem Manne zu: »Laß dich von dem Prahler erheitern, aber glaub ihm ja keine Silbe. Indes will ich ihm jedoch einen Strohsack auf den Boden legen, weil er sich heute abend so müde gelogen hat.«

»Nur ein gereister Musikus ist fertig, die anderen sind alle bloß halb gar gekocht«, fuhr Neubauer fort. »Wißt Ihr auch, daß ich vorigen Monat in Bückeburg war und den Konzertmeister Bach, der gleich der meisten übrigen Bachischen Sippschaft niemals aus dem Nest geflogen ist, auf drei frei zu phantasierende Fugen herausgefordert habe?«

»Nein! das thatet Ihr nicht!« rief der Stadtpfeifer entschieden. »Denn mit dem nehmen's in den Fugen nur noch seine Brüder auf, seit der Alte in Leipzig gestorben ist.«[45]

»Sehr richtig. Ich habe auch Böcke über Böcke gemacht, und der gelehrte Herr spielte verzweifelt gründlich und hölzern. Denn niemals ist er weitergekommen in der Welt als von Leipzig über Eisenach nach Bückeburg; nie hat er eine welsche Primadonna karessiert, um die Feinheiten des Gesangs zu ergründen. Er spielte verzweifelt gründlich, aber meine falsch gebauten Fugen waren doch ergötzlicher, und die feinsten Herren klatschten mir Beifall. Das Publikum entscheidet; das dumme Publikum gibt mir Essen, Trinken, Kleidung, Aufmunterung für die schlechteste Musik; von den klugen Kennern hat mir noch keiner ein Glas Wein oder eine Wurst für die beste gegeben. Uebrigens habe ich mir nur einen Spaß mit dem berühmten Fugenfresser machen wollen.«

»Das war bübisch, das war frevelhaft,« strafte der Stadtpfeifer eifrig. »Wußtet Ihr auch, daß dieser Bach nicht bloß ein ehrwürdiger Meister, sondern zugleich der harmloseste, gutmütigste Mensch ist?«

»Ganz gewiß. Wäre er nicht so gutmütig, so hätte er mich von seiner Orgel heruntergeprügelt. Aber ein ungereister Musiker ist er doch, und das wollte ich ihm zeigen. Gebt Ihr immerhin dem Alter seine Ehrwürdigkeit; ich will nur, daß man der Jugend auch ihren Mutwillen gönne.«

»Narren sind auch Leut',« sprach der Stadtpfeifer, sich entrüstet abwendend.

»Und Ihr seid nicht der erste, der mich einen Narren nennt,« fügte der junge Landstreicher hinzu mit selbstgenügsamem Lächeln.

Quelle:
Wilhelm Heinrich Riehl: Geschichten und Novellen. 7 Bände, Band 1, Stuttgart 1899, S. 29-46.
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